Habecks Berater schlagen umfassende Reform der Schuldenbremse vor

Julian Olk, Handelsblatt, 4. Dezember 2023.

Der unabhängige Beirat will, dass Investitionen nicht mehr unter die Schuldenregel fallen. Eine bemerkenswerte Position – die den Grundsatzstreit in der Bundesregierung befeuern dürfte.

Die Schuldenbremse steht seit der Haushaltskrise mehr denn je in der Kritik. Die Fürsprecher einer Reform erhalten nun überraschende Unterstützung. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium spricht sich in einem Gutachten für weitreichende Anpassungen der Schuldenbremse aus. Das Dokument liegt dem Handelsblatt vorab vor.

Das unabhängige Gremium stellt fest: Die Schuldenbremse in ihrer aktuellen Form enthalte „Fehlanreize“. Der Beirat schlägt zwar keine Abschaffung vor, aber mehrere Änderungen. Das sind die zwei wichtigsten:

    - „Goldene Regel Plus“: Der Staat kann Schulden für Investitionen aufnehmen, die nicht unter die Bremse fallen.

    - „Investitionsfördergesellschaften“: Der Staat verpflichtet sich, diesen Gesellschaften jährlich einen festen Betrag zur Verfügung zu stellen. Sie setzen das Geld dann ausschließlich für Investitionen ein.

Der Beirat geht mit der bisherigen Finanzpolitik hart in die Kritik. Die Bundesregierung hatte sich durch Sondervermögen schuldenfinanzierte Spielräume ermöglicht. Diese Praxis hat das Bundesverfassungsgericht vor wenigen Wochen gestoppt und damit die Ampelkoalition in eine Krise gestürzt. Allein 2024 besteht nun eine Finanzierungslücke in Höhe von 30 Milliarden Euro.

Aus Sicht des Beirats beim Wirtschaftsministerium war es nicht nur aus juristischer, sondern auch aus ökonomischer Sicht dringend notwendig, der Praxis der Sondervermögen ein Ende zu setzen. Diese Politik sei „nicht nachhaltig“, es handle sich bloß um einen Versuch, die tatsächlichen finanziellen Bedarfe „zu verschleiern“. So steht es im Gutachten, das unter Führung des Mannheimer Finanzwissenschaftlers und Beiratsvorsitzenden Eckhard Janeba mehr als ein Jahr lang erarbeitet wurde.

Unerwarteter Rückenwind für Habeck im Zwist mit Lindner

In diesen Tagen sitzen Kanzler Olaf Scholz (SPD), Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) nahezu ununterbrochen zusammen, um die Haushaltskrise zu lösen. Über diesen Gesprächen schwebt die Frage nach einer Reform der Schuldenbremse.

Neben Habeck sind Befürworter vor allem in der SPD zu finden. Lindner hingegen lehnt eine Reform kategorisch ab. In der Union, deren Stimmen es für die benötigte Grundgesetzänderung bräuchte, zeigen sich inzwischen erste Reformbefürworter.

Das Gutachten des Beirats beim Wirtschaftsministerium ist nun eine womöglich wertvolle Unterstützung für die Befürworter einer Reform. Denn der Beirat, der unabhängig in seiner Themenwahl und in seiner Positionierung ist, war über Jahrzehnte ordnungspolitisch geprägt und bekannt dafür, die amtierenden Wirtschaftsminister zu kritisieren.

Auch über die Schuldenbremse hatte der Beirat 2020 noch geschrieben, sie habe „den Bund, die meisten Länder und die Kommunen in ihrem Investitionsverhalten bisher nicht eingeschränkt“.

Der Wandel des Gremiums ist umso bemerkenswerter, als die Mitglieder auf Lebenszeit berufen werden. So sind klassische Ordnungsökonomen wie Ex-Ifo-Chef Hans-Werner Sinn oder Wirtschaftsweisen-Ikone Olaf Sievert bis heute Mitglieder.

Sinn habe bis zuletzt gegen zentrale Inhalte des Gutachtens argumentiert, konnte bei der finalen Abstimmung aber nicht dabei sein, ist aus Beiratskreisen zu hören. Letztlich habe es nur eine Enthaltung gegeben. Die kam von Otmar Issing, dem früheren Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank.

Die Autoren des Gutachtens wie Janeba oder Wirtschaftswissenschaftler Gabriel Felbermayr stehen nicht im Verdacht, eine laxe Finanzpolitik zu propagieren. Sie gelten vielmehr als Verfechter liberaler Positionen.

Reformvorschlag soll Verschuldung effizienter machen

Die Ökonomen fordern auch nicht die Abschaffung der Schuldenbremse. Sie sei grundsätzlich sinnvoll, „weil im politischen Prozess immer die Versuchung besteht, durch Verschuldung die Finanzierungslasten auf Dritte zu verlagern“. Sie fordern zudem eine bessere Priorisierung der Ausgaben und sehen bei Subventionen „Einsparpotenziale“.

Doch die Experten stellen fest: Während es immer mehr strukturelle Aufgaben für den Staat gibt – digitale und ökologische Transformation, Verteidigung, Infrastruktur –, wird der Schuldendienst durch den demografischen Wandel immer schwieriger. Es brauche eine Neuausrichtung der Finanzpolitik.

Im Gutachten argumentieren die Ökonomen, dass die Schuldenbremse in ihrer aktuellen Form aber gerade liberalen Prinzipien im Weg stehe. Sie schreiben: „Allerdings beseitigt die Schuldenbremse nicht den Anreiz, staatliche Konsum- und Transferausgaben zulasten staatlicher Investitionen zu begünstigen.“

In den vergangenen Jahrzehnten schwankte die staatliche Investitionsquote um null Prozent, in vielen Jahren waren die Neuinvestitionen sogar negativ.

Um die Investitionen anzutreiben, schlägt der Beirat insgesamt vier Änderungen an der Schuldenbremse vor:

Vorschlag 1: „Goldene Regel Plus“

Der Reformvorschlag des Beirats würde so funktionieren: Für staatliche Konsumausgaben wie Sozialtransfers gilt weiter die Schuldenbremse. Nettoinvestitionen hingegen könnten beliebig durch Schulden finanziert werden.

Zu den Nettoinvestitionen zählen alle Investitionen, die erstmalig vorgenommen werden und so die wirtschaftliche Substanz erweitern. Es ist also die etwas kleinere Lösung als bisherige Vorschläge mancher Ökonomen und Politiker, die alle Investitionen einer goldenen Regel unterwerfen wollen.

Dadurch würden „Verzerrungen“ zulasten der jüngeren Generationen beseitigt. Diese entstehen, wenn die Politik vermehrt auf Sozialtransfers und nicht auf Investitionen setzt, von denen nachfolgende Generationen profitieren würden. Außerdem seien Schulden gerechtfertigt, wenn die damit getätigten Investitionen zusätzliche Steuereinnahmen brächten.

Dauerhaft höhere Verteidigungsausgaben sollten nach Auslaufen des „Sondervermögens Bundeswehr“ hingegen aus dem Kernhaushalt finanziert werden. Auch Investitionen in den Bestand, etwa die Reparatur von Brücken, müssten grundsätzlich aus vorhandenen Mitteln getragen werden. Anfangs könne die Schuldenfinanzierung für die Modernisierung der Infrastruktur aber sinnvoll sein, weil diese in Deutschland über so viele Jahre vernachlässigt wurde, so der Beirat.

Der Vorschlag einer goldenen Investitionsregel ist nicht neu, stieß bislang aber aus mehreren Gründen auf Ablehnung. Diese Probleme hält der Beirat aber für lösbar.

Größter Kritikpunkt ist die schwierige Abgrenzung zwischen Konsumausgaben und Investitionen. Die Sorge: Die Politik könne die goldene Regel missbrauchen. Deshalb empfiehlt der Beirat, die Definition von Investitionen aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zu nutzen.

Anhand dieser Kriterien müssten die Einzelfälle dann von einem unabhängigen Expertengremium oder dem Bundesrechnungshof überprüft werden. „Das Votum des Expertengremiums könnte allein durch die Herstellung von Öffentlichkeit gegen Missbrauch vorbeugen“, heißt es im Gutachten. Noch besser sei aber ein Vetorecht des Gremiums.
 
Ein offensichtliches Zugeständnis an jene im Beirat, die von der goldenen Regel nicht vollends überzeugt sind, sind die zahlreichen Hinweise auf die Inflationsgefahr. Neue Schulden für Investitionen dürfe es nur dann geben, wenn gerade nicht eine Phase vorherrsche, in der dadurch die Inflation stark angeheizt werden könnte.

Vorschlag 2: Investitionsfördergesellschaften

Die Investitionsfördergesellschaften könnten, so der Beirat, anstatt oder neben der goldenen Regel existieren. Der Sinn dahinter: Der Staat legt sich selbst eine Verpflichtung für gleichbleibende Investitionen auf, um der Gefahr der Schuldenbremse vorzubeugen, dass die Politik zu viele Mittel für Konsumausgaben verbraucht.

Per Gesetz oder Vertrag wird die Mittelzuweisung an die Gesellschaft über mehrere Jahre festgelegt. Diese wiederum verteilt das Geld ausschließlich für Investitionen weiter, an die Kommunen etwa. Eine externe Institution solle das überprüfen. „Die Verstetigung der Zuweisungen schafft Planungssicherheit“, heißt es im Gutachten.

Der Vorschlag ist zwingend von dem zu unterscheiden, was SPD, Grüne und FDP in ihren Koalitionsvertrag geschrieben haben. Dort finden sich zwar auch Investitionsgesellschaften. Dabei geht es aber darum, dass diese Gesellschaften sich selbst außerhalb der Schuldenbremse verschulden können.

Das hält der Beirat aus mehreren Gründen für nicht sinnvoll. Für Tilgungs- und Zinszahlungen müsste es dann aus dem Bundeshaushalt immer Zuschüsse geben. Das sei intransparente Finanzpolitik.

Vorschlag 3: Längere Finanzplanung

Im Zuge der Neuordnung der Finanzpolitik fordert der Beirat neben den grundlegenden Änderungen auch einen längeren Planungshorizont von der Bundesregierung. Die mittelfristige Finanzplanung reicht bislang nur über drei Jahre. Die Ökonominnen und Juristen schlagen nur den Zeitraum der zwei folgenden Legislaturperioden vor: „Dies ist notwendig, um eine nachhaltige Finanzierung von staatlichen Daueraufgaben zu gewährleisten.“

Vorschlag 4: Investitionen auch in europäischem Schuldenpakt denken

Der Beirat weist darauf hin, dass die nationale Schuldenbremse nicht ohne Bezug auf die EU- Schuldenregeln debattiert werden kann. Derzeit läuft der Reformprozess bei der Kommission. Diese will den Verschuldungsspielraum anhand der Primärausgaben bemessen, also alle staatlichen Ausgaben mit Ausnahme der Zinszahlungen.

Die Kommission bezieht bei der Beurteilung der fiskalischen Situation eines Mitgliedslandes zwar die Lage der öffentlichen Investitionen ein. Das reicht aber aus Sicht des Beirats nicht aus, um diese zukunftsgerichteten Ausgaben in ausreichender Höhe zu gewährleisten. Deswegen sei eine goldene Investitionsregel zu bevorzugen.

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