WirtschaftsWoche, 14. Juli 2023, Nr. 29, S. 39.
Von Beginn an standen sich in der EU zwei wirtschaftspolitische Grundüberzeugungen diametral gegenüber: zum einen die deutsche Betonung der sozialen Marktwirtschaft als wettbewerbspolitisches Leitbild, zum anderen der Glaube an die Segnungen einer Industriepolitik à la française. Deutschland verlangte einen Binnenmarkt ohne Zollgrenzen und ein System ohne Subventionen und Handelshemmnisse auch gegenüber dem außer - europäischen Ausland. Frankreich gab diesem Drängen nur unter der Bedingung nach, dass der Agrarsektor vom Freihandel ausgenommen und vor ausländischer Konkurrenz geschützt wurde.
Mit dem von französischer Seite lange blockierten Beitritt Großbritanniens verfestigte sich das von Deutschland gewünschte liberale Handelsregime: Auch die Briten wollten Freihandel und lehnten Subventionen und andere industriepolitische Maßnahmen ab. Deutschland gelang dank des Handelsliberalismus über vier Jahrzehnte hinweg ein beispielloser Aufschwung, der bis in das zweite Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts reichte.
Seit dem Brexit aber ist Frankreichs Industriepolitik das neue Leitbild – die EU vollzieht mit atemberaubender Geschwindigkeit eine radikale Kehrtwende hin zu mehr Protektionismus und Subventionen. Erst scheiterte das mit den USA geplante Handelsabkommen TTIP an der Agrarfrage. Nun nimmt die EU den Inflation Reduction Act (IRA) der USA, ein Programm zur Förderung von Industrieansiedlungen, zum Anlass, ebenfalls umfangreiche Subventionen zur Förderung grüner Energien und zur Standortverbesserung in strategisch wichtigen Bereichen zu beschließen.
Auch Deutschland macht dabei mit. Bei Windrädern und Prestigeobjekten wie der Tesla-Fabrik darf der Umweltschutz schon mal hinten anstehen, und alles, was das Adjektiv „digital“ verdient, kann sich eines reichen Füllhorns staatlicher Subventionen erfreuen. So soll in Magdeburg eine neue Fabrik des Chipherstellers Intel mit 9,9 Milliarden Euro oder 3,3 Millionen Euro pro Beschäftigten gefördert werden. Dass die EU beide Augen zudrücken wird, was das Beihilfeverbot betrifft, scheint ausgemacht. Allerorten wird über neue, durch Subventionen geförderte Industrieansiedlungen nachgedacht, weil man, wie lamentiert wird, sonst gegenüber den USA ins Hintertreffen geriete.
Dabei musste sich Europa schon bisher nicht hinter den USA verstecken, was den industriepolitischen Interventionismus betrifft. Das hat der wissenschaftliche Beirat des Bundesfinanzministeriums kürzlich festgestellt. Mit dem EU-Innovationsfonds, dem Fonds Important Projects of Common European Interest, dem InvestEU-Programm und nicht zuletzt der umfangreichen Förderkulisse der Europäischen Investitionsbank stellt Europa die neuen Programme in den Schatten. Nicht Amerika, sondern die EU hat den Subventionswettlauf begonnen.
Das gilt insbesondere, wenn man auch die Taxonomieverordnung der EU mitberücksichtigt. Mit dieser Verordnung, ei nem Teil des propagierten Green Deals der EU, werden europäische Firmen nach dem Grad ihrer Umweltqualität klassifiziert. Die Klassifikation nimmt die Europäische Zentralbank sodann zum Anlass, durch großzügige Wertpapierkaufprogramme und die Akzeptanz grüner Wertpapiere als Pfänder beim Refinanzierungsgeschäft die Zinsen, die Unternehmen zu zahlen haben, zu manipulieren. Je nach dem Grad der tatsächlichen oder vermeintlichen ökologischen Performance wird der Zins zulasten der Steuerzahler, denen die Zinsgewinne der EZB zugutekommen würden, herabsubventioniert. Noch nie hat sich eine moderne Zentralbank in solch eklatanter Weise vor den Karren der Wirtschaftspolitik spannen lassen. Und noch nie wurde eine ähnlich gewaltige Subventionsmaschinerie in einer Marktwirtschaft installiert.
Negativbeispiel Japan
Das Abwägende des Marktes, seine überlegene Fähigkeit, Kosten und Nutzen zu vergleichen und unter guten Projekten die besseren herauszufinden, ist der Politik fremd geworden. Es geht ihr um das große Fest, die Demonstration von Tatkraft, den Applaus der Medien, selten aber um Verhältnismäßigkeit.
Frankreich hat seine Industrie durch Interventionismus schwer beschädigt. Der Anteil der industriellen Wertschöpfung am Bruttoinlandsprodukt war dort lange Zeit nur etwa halb so groß wie der deutsche. Deutschland bewegt sich jetzt in seine Richtung. Auch Japan hat gezeigt, wohin staatliche Interventionen führen. Über Jahrzehnte hat sich das Land mit einer gewaltigen Subventionsmaschinerie bei vielen Produkten zum Weltmarktführer gemacht, doch hat das nicht zur Steigerung des Wohlstands der Massen beigetragen. Die Japaner haben die Welt mit tollen Kameras, preisgünstigen Fernsehern und günstigen Autos beglückt, es aber trotz jahrzehntelanger Bemühungen nicht geschafft, im persönlichen Umfeld einen Lebensstandard wie in anderen Ländern der westlichen Welt zu erwirtschaften.
Deutschland und die EU sollten all jenen, die Interventionismus als einen Katalysator für künftige Wettbewerbsfähigkeit sehen, nicht auf den Leim gehen.
Nachzulesen auf www.wiwo.de.