Im Interview: Prof. Hans-Werner Sinn, Ökonom und ehemaliger Präsident des ifInstituts, spricht über die steigende Inflation, die komplexen Gründe dafür und mögliche Maßnahmen der Europäische Zentralbank.
Nachzuhören auf www.thepioneer.de.
Gastbeitrag von Gabor Steingart, www.focus.de, 11. Februar 2022:
Prof. Hans-Werner Sinn ist kein Ökonom, sondern eine Institution. In seinen langen Jahren als Präsident des ifo-Instituts in München hat er sich den Ruf eines unabhängigen und zugleich unbequemen Wissenschaftlers erworben. Da er noch dazu das Talent der Rede beherrscht, verkaufen sich auch seine Bücher. Sinn ist ein Mann der Zahlen und der Worte, was in dieser Kombination Seltenheitswert besitzt.
Sein jüngstes Werk heißt: „Die wundersame Geldvermehrung: Staatsverschuldung, Negativzinsen, Inflation”. Seit er das Manuskript des Buches im Herbst vergangenen Jahres beim Verlag einreichte, hat das Thema an Fahrt gewonnen. Die Geldentwertung, die in Europa lange Jahre unter zwei Prozent verharrt hatte, schoss über die Fünf-Prozent-Marke und erreichte bei etlichen Preisen, zum Beispiel denen für Energie oder industriellen Grunderzeugnissen, deutlich zweistellige Raten. Über das, was ist und das, was kommt, spreche ich mit ihm heute im Morning Briefing Podcast.
Den Treiber für die aktuelle Inflationsentwicklung sieht der Experte in den weltweiten Lieferengpässen für Vorprodukte aller Art:
„Die Firmen des verarbeitenden Gewerbe beklagen zu zwei Dritteln – im Herbst lag die Spitze sogar bei 80 Prozent – dass sie nicht genug Material bekommen. Eine ähnliche Situation haben wir in der Vergangenheit noch nie gesehen.“
Die Folge:
„Die gewerblichen Erzeugerpreise, das heißt die Preise für Zwischenprodukte, sind um sage und schreibe 24 Prozent binnen Jahresfrist gestiegen. Das ist der höchste Wert seit Beginn der Aufzeichnung. “
Die Folgen für den weiteren Fortgang der Preisentwicklung seien gravierend und würden von nahezu allen Experten, auch denen der EZB, unterschätzt:
„Dieser Anstieg der Erzeugerpreise hat sich noch gar nicht in die Konsumentenpreise übertragen. Das bedeutet: Da ist noch was in der Pipeline. “
Nach der Pandemie drohe eine Lohn-Preis-Spirale, sobald die Löhne an die Geldentwertung angepasst würden, wie die Erfahrung mit dem kämpferischen ÖTV-Chef Heinz Kluncker in den 70er-Jahren zeigten:
„Kluncker hatte 15 Prozent plus gefordert und elf Prozent bekommen. Das war eine astronomische Zahl, die dann die neue Inflation wieder angefeuert hat. Wir können davon ausgehen, dass sich dieser Effekt im Laufe dieses Jahres bemerkbar machen wird und die Inflation von 2023 hochtreibt. “
Einen Ausweg könne nur die EZB weisen:
„Es ist die Aufgabe der Notenbank – so steht es im Maastrichter Vertrag – für Preisstabilität zu sorgen. Andere Aufgaben sind absolut sekundär. Die EZB muss also handeln. “
Fazit: Wenn Sie heute nur ein Interview hören oder lesen, dann dieses. Sie bekommen eine Ahnung dessen, was da in der Pipline steckt. Oder um es mit Heinrich Heine zu sagen:
“Es gibt nichts Stilleres als eine geladene Kanone.“