Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man lachen. Gefragt, was denn ihre wichtigsten Vorsätze als neue Chefin der Europäischen Zentralbank (EZB) seien, antwortete Christine Lagarde bei ihrem Amtsantritt: Um das weit verbreitete Misstrauen gegenüber der EZB abzubauen, „werden wir versuchen, eine Sprache zu sprechen, die jeder versteht“.
Am 22. Juli, nach der Sitzung des EZB-Rats, lieferte sie dann dazu ihr Meisterstück ab: „Um sein symmetrisches Inflationsziel von zwei Prozent zu unterstützen und im Einklang mit seiner geldpolitischen Strategie geht der EZB-Rat davon aus, dass die EZB-Leitzinsen so lange auf ihrem aktuellen oder einem niedrigeren Niveau bleiben werden, bis er feststellt, dass die Inflationsrate deutlich vor dem Ende seines Projektionszeitraums zwei Prozent erreicht und sie diesen Wert im weiteren Verlauf des Projektionszeitraums dauerhaft hält, und er der Auffassung ist, dass die Entwicklung der zugrunde liegenden Inflation hinreichend fortgeschritten ist, um mit einer sich mittelfristig bei zwei Prozent stabilisierenden Inflation vereinbar zu sein.“
Wow, ein Satz mit sage und schreibe sieben Kommas und neun Teilsätzen! Sie fragen sich, was dieser Monstersatz genau heißt? Lagarde dröselte ihn auf und betonte, dass drei Bedingungen erfüllt sein müssen, bevor die EZB die Zinsen wieder anhebt.
1. Die Inflation muss nach Einschätzung des EZB-Rats mindestens auf zwei Prozent steigen, und zwar deutlich vor dem Ende des Projektionszeitraums der EZB, der drei bis vier Jahre umfasst. Was „deutlich vor dem Ende“ bedeute, liege natürlich im Ermessen des EZB-Rats, aber im Wesentlichen sei darunter „die Mitte“ des Projektionszeitraums zu verstehen. Im Klartext: Die EZB will ein schnelles Ansteigen der Inflation.
2. Um die Zinsen wieder anzuheben, muss der EZB-Rat davon überzeugt sein, dass die Inflationsrate für den Rest des Projektionszeitraums auch bei (mindestens) zwei Prozent bleibt. Man beachte: Dieses Kriterium ist nach dem heutigen Kenntnisstand unerfüllbar: Denn die Inflationsprognose der EZB liegt für 2022 bei 1,5 Prozent und für 2023 bei 1,4 Prozent.
3. Die zugrunde liegende Inflation muss sich derzeit auf einem Pfad befinden, der den EZB-Rat davon überzeugt, dass sich die Inflation mittelfristig bei zwei Prozent stabilisieren wird. Also: Unter zwei Prozent darf sie nie wieder fallen.
Die Zentralbank als Hüter der Währungsstabilität? Das war einmal, zu Zeiten der Bundesbank. Mit ihrer sogenannten Forward Guidance hat die EZB das Kunststück fertiggebracht, ihr Mandat der Inflationsobergrenze in das einer Inflationsuntergrenze zu verwandeln. Bundesbankpräsident Jens Weidmann hat denn auch gegen die Beschlüsse zum geldpolitischen Ausblick gestimmt. Er rechnet mit einem starken Anstieg der Teuerung in der nächsten Zeit. „Meine Fachleute erwarten etwa für Deutschland zum Jahresende 2021 Raten, die in Richtung fünf Prozent gehen könnten.“
Bemerkenswert sind zudem zwei Dinge: zum einen, dass harte Fakten bei der EZB offensichtlich nur noch eine Nebenrolle spielen. Liest man den Text genau, spielt nicht mehr die tatsächliche Inflation, sondern die von der EZB erwartete Inflation die entscheidende Rolle. „Die EZB bewegt sich zunehmend in einem
selbstreferentiellen Rahmen, in dem sie ihren eigenen Prognosen den höchsten Stellenwert beimisst“, kommentiert Oliver Baron auf „Godmode-Trader“.
Zum anderen das Abstimmungsverhalten von Isabel Schnabel, der zweiten deutschen Vertreterin im EZB-Rat. Anders als von Weidmann war von ihr kein öffentliches Statement gegen den EZB-Beschluss zu lesen. Sie hat offenbar dafür gestimmt. Schnabel hatte zuvor auch schon beim Thema „Target-Schulden“ eine Auffassung vertreten, die deutsche Sparer und Steuerzahler zutiefst verunsichern dürfte.
Zur Erinnerung: Weil viele Italiener, Griechen oder Spanier ihrer Regierung nicht trauen, transferieren sie ihr Geld in den Stabilitätshafen Deutschland. Die Bundesbank unterstützt diese Kapitalflucht, denn die italienische Notenbank muss das Geld ihrer Anleger in Wirklichkeit gar nicht nach Deutschland transferieren, sondern sie erhält dafür von der Bundesbank einen Kredit, den sogenannten Target-Saldo.
„Es besteht bei Ökonomen weitgehende Übereinstimmung, dass Deutschland erhebliche Verluste trägt, wenn Italien den Euro verlassen und seine Target-Schulden nicht begleichen würde. Hier ist ein unbesichertes Kreditverhältnis entstanden. Für Verluste muss der deutsche Steuerzahler haften“, warnt Deutschlands berühmtester Ökonom, Ex-Ifo-Chef Hans-Werner Sinn. Schnabel hingegen beschwichtigte vor zwei Jahren in einer öffentlichen Anhörung des Finanzausschusses: „Unserer Meinung nach sind keine umfassenden Reformen des Target-Systems erforderlich, da von diesem System keine wesentlichen Risiken für den deutschen Steuerzahler ausgehen.“
Es ist schon schade, dass deutsche Sparer und Steuerzahler auf europäischer Ebene kaum eine Lobby haben.
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