Inflation, Krieg und Energiewende: Dr. Sinns düstere Prognosen

Ralf Gießler, Harzkurier, 13. Juni 2024, Nr. 136, S. 3.

Kürzlich hatte das MEKOM Regionalmanagement Osterode am Harz zum 22. Unternehmertag in die Stadthalle geladen. 256 Vertreter aus regionaler Wirtschaft sowie verschiedenen Organisationen und Verwaltungen folgten der Einladung. Als Redner des Abends war mit Dr. Hans-Werner Sinn, ehemaliger Leiter des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, ein anerkannter Experte der Volkswirtschaftslehre gewonnen worden. Sein Vortragsthema „Schwarze Schwäne: Der Krieg, die Inflation und der energiepolitische Scherbenhaufen“ hätte aktueller kaum sein können, so der Tenor der Gäste. „Kein Vortrag passt heute so gut wie dieser. Wie geht es weiter in Deutschland und Europa?“, fragte MEKOM-Vorstandsvorsitzender Lars Obermann in seiner Begrüßungsansprache.

Entsprechend hoch waren auch die Erwartungen einiger Osteroder Unternehmenslenker im Vorfeld. „Zunächst erwarte ich eine relativ schonungslose, unpolitische Darstellung von wahrscheinlich unangenehmen Fakten: Dass wir uns mitten in einer, auch durch die Politik befeuerten Lohn-Preis-Spirale befinden, die Regierung die Demographieentwicklung, die sich nicht mehr ändern lässt, nicht wirklich ernst nimmt beziehungsweise nicht gewillt ist, angemessen darauf zu reagieren und vieles mehr“, erklärte Dr. Detlev Seidel (Piller Group). Dr. Sven Vogt (KKT Group) fügte hinzu: „Ich bin sehr gespannt, welche Aussagen Professor Sinn zur Entwicklung der Inflation gibt, da diese zukünftig wieder mehr unsere Ausrichtung beeinflussen wird. Darüber hinaus interessiert mich, wie er die aktuelle Entwicklung der Wirtschaft – Stichwort Unternehmensabwanderungen aus Deutschland – sieht.“ Lars Obermann vonObermann Logistik: „Ich erwarte von dem Vortrag einen Überblick auf die vielfältigen Problemstellungen der heutigen Zeit aus wissenschaftlicher Sicht. Insbesondere interessiert mich, wie viele der Probleme durch die aktuelle Regierung selbst verschuldet sind oder zumindest verschärft wurden. Letztlich natürlich eher der Umgang mit diesen Problemen und welchen Weg wir beschreiten müssen, um aus dem aktuellen Schlamassel wieder heraus zu kommen. Hierzu verspreche ich mir interessante, wissenschaftlich fundierte Impulse.“ 

Für die Wirtschaftsförderung Region Göttingen ergänzte Marc Diederich: „Auch ich erhoffe mir eine tiefgehende Analyse aktueller wirtschaftlicher und politischer Herausforderungen. Professor Sinn wird das Konzept der „Schwarzen Schwäne“ erläutern und dabei den Ukraine-Krieg, die Inflation und die deutsche Energiepolitik als Beispiele heranziehen. Er wird die Auswirkungen dieser Ereignisse auf die deutsche Wirtschaft ansprechen und kritisch hinterfragen, wie ideologisch geprägte Klimapolitik, demographische Veränderungen und Migration diverse Rahmenbedingungen verändern und herausfordern. Seine Analysen und Interpretationen werden polarisieren und ganz sicher anschließend für ausreichend Gesprächsstoff sorgen.“

Die Theorie der „Schwarzen Schwäne“ basiert auf Erkenntnissen des libanesischen Mathematikers Nassim Nicholas Taleb. Taleb definierte darunter Ereignisse, die einerseits nicht vorhergesagt wurden, andererseits jedoch massive Folgen mit sich bringen. Als Beispiele dafür benannte Professor Sinn die Pandemie, den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, die galoppierende Inflation, die neue Bankenkrise und die Energiekrise. Deutschland sei Schlusslicht beim Wirtschaftswachstum. Das Vertrauen der Deutschen in die Zukunft sei so schlecht wie nie, sie hätten Angst davor. 

Sinn erläuterte zehn Thesen, die seinem Vortrag zugrunde lagen. So befand sich das Vertrauen der Deutschen in die Zukunft 2022 mit 28 Prozent auf etwa dem gleichen Niveau wie während des Koreakrieges 1950 (27 Prozent). Die Mega-Inflation, unter der Deutschland unlängst litt, wurde seiner Ansicht nach nicht durch den Ukrainekrieg produziert. Denn im Dezember 2021 - Monate vor Kriegsbeginn - habe sie ihren Rekordwert erreicht. „Die erste Inflationswelle ist vorbei. Doch besiegt wurde sie nicht. Im April 2024 lag die Inflationsquote in Deutschland bei 2,4 Prozent. Im Mai nun bei aktuell 2,6 Prozent. Die Inflation ist erstaunlich hartnäckig.“ 

Dagegen schrumpfe die deutsche Wirtschaft. Für 2024 werde ein Wirtschaftswachstum von lediglich 0,2 Prozent prognostiziert, das sei schlimm. Seit 2019 stecke im Wachstum „der Wurm“ drin, seit 2018 gar laut ifo-Geschäftslage. Die Staatsverschuldung wurde durch die Notenbanken finanziert. Zwar läge die Schuldenquote Deutschlands im Vergleich zu anderen Nationalstaaten mit 69 Prozent nur knapp oberhalb der erlaubten Maastricht-Grenze von 60 Prozent. Doch der Durchschnitt der Euroländer liege bereits bei 90 Prozent. Sinn stellte fest: „Die Staaten Europas haben sich mit der Geld-Druckerpresse finanziert. Die Gelddruckerei muss aufhören.“

Ein großes Thema des Abends war die Klima- und Energiepolitik: „Ich bin kein Klimaleugner, Gott bewahre. Nur müssen die ergriffenen Maßnahmen funktionieren. Wir sind uns ja im Ziel einig, nur nicht im Weg dorthin!“ Ein Ausstieg aus Kohle und Erdgas, die AKW-Abschaltung sowie das Verbrenner-Aus und Ölheizungsverbot brächten für das Klima nichts, weil die hier eingesparten Brennstoffe anderswohin geliefert und dort verbrannt würden. Sinn sprach von einer erzwungenen Deindustrialisierung. Laut Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) sei Strom das „Rückgrat“ der Energiewende. „Was machen wir aber bei Dunkelflaute, wenn die Sonne nicht scheint und es windstill ist? Das Problem ist der Flatterstrom. Er ist nur durch teure Doppelstrukturen zu bändigen. Bei Dunkelflaute brauchen wir die alten Kraftwerke. Der Rückgang der Emissionen um 40 Prozent seit 1990 ist vor allem  dem Untergang der DDR-Industrie geschuldet. Der Weg zur Null-Emission bis 2045, in nur noch zwanzig Jahren, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Nationale Alleingänge sind nutzlos und funktionieren nicht. Es geht nur gemeinsam mit anderen Ländern im Klimaclub. Deutschland wird hier als Versuchskaninchen benutzt. Die Produktion im verarbeitenden Gewerbe geht seit einigen Jahren zurück. Wir brauchen daher einen Bewusstseinswandel. Wann kommt die Bewusstseinswende? Warum ist Deutschland so sehr betroffen? Der Krieg und die grüne Ideologie haben das Land in eine Energiekrise getrieben. Dass, was wir an Öl nicht abnehmen, bleibt ja nicht im Boden. Das eingesparte Kontingent verbrauchen dann halt andere Länder.“

Bestätigung seiner Thesen erhält Sinn vom Bundesrechnungshof. In Bezug auf die Energieversorgung stellte dieser am 7. März 2024 fest: „Die Versorgungssicherheit ist gefährdet, der Strom ist teuer und Auswirkungen der Energiewende auf Landschaft, Natur und Umwelt kann die Bundesregierung nicht umfassend bewerten.“ Zusammenfassend sieht die Behörde „das Risiko einer erheblichen Lücke an gesicherter, steuerbarer Kraftwerksleistung zum Ende des aktuellen Jahrzehnts.“ Die Annahmen im Monitoring zur Versorgungssicherheit werden als „wirklichkeitsfremd“ bewertet. Das Ergebnis sei ein unwahrscheinlicher „Best-Case“. Professor Sinn meinte schon eine Bewusstseinsänderung zumindest in der Bevölkerung hinsichtlich der Klima- und Energiepolitik entdecken zu können: „Die Leute wollen das Extreme nicht mehr.

Auch auf die Beschäftigungssituation ukrainischer Flüchtlinge ging er ein: „In Deutschland sind 17 Prozent in Arbeit, in Ländern wie Großbritannien (50 Prozent), Dänemark (53 Prozent) ist die Quote deutlich höher. In den Niederlanden sind sogar 70 Prozent der ukrainischen Flüchtlinge in Lohn und Brot.“

Die Ausführungen trafen den Nerv des Publikums. Die schonungslose Analyse der Faktenlage, die Verknüpfung von Themen aus Politik und Wirtschaft kam sehr gut an und wurde von Unternehmerseite geteilt. 

„Professor Sinn hat deutlich die unfassbar schädlichen und unsinnigen Gesetze, wie das Lieferkettengesetz und mehr noch das in der Öffentlichkeit wenig wahrgenommene Energieeffizienzgesetz, angeprangert. Die momentane Politik sei zu sehr ideologisiert. Das beste Beispiel ist eben leider hier das Energieeffizienzgesetz, welches auch auf Piller negative Auswirkungen hat und haben wird“, bemerkte Dr. Detlev Seidel (Piller Group). „Wir müssen uns auf uns weiter vorerst allein konzentrieren und den Druck auf die Politik weiter erhöhen, damit hier wieder reale Wirtschaftspolitik gemacht wird“, so das Fazit von Dr. Sven Vogt (KKT-Group). „Die sehr stark von Ideologie geprägte Politik hat uns wirtschaftlich stark geschädigt und wird dies wohl auch in Zukunft tun. Als bestes Beispiel fand ich hier den unnötigen vorzeitigen Ausstieg aus der Verbrennertechnik, ohne eine echte Alternative zu haben, und der gleichzeitig ohne jeden Vorteil für das Klima ist. Für mich, unser Unternehmen und die nachfolgende Unternehmergeneration möchte ich die Hoffnung nicht aufgeben, dass in der Politik etwas mehr Realismus einkehrt. Dass wir nicht ohne Not weitere Verbote erlassen, damit die eingeleitete Deindustrialisierung sich nicht weiter verstärkt und wir wieder ein starkes Wirtschaftsland werden können“, meinte Lars Obermann (Obermann Logistik). Marc Diederich, Wirtschaftsförderung Region Göttingen, hob hervor: „Der Vortrag unterstrich die Notwendigkeit einer sachlich, daten- und faktenbasierten Argumentation. Dinge schönzureden hilft nicht bei der Problemlösung.“

Zehn Thesen, die während des Vortrags erläutert wurden, zum Nachlesen:

01. Die Megainflation wurde nicht durch den Krieg produziert.

02. Die erste Inflationswelle ist vorbei, doch besiegt wurde die Inflation noch nicht.

03. Die Pandemie war der Zündstoff, die Staatsverschuldung der Zunder.

04. Steigende Zinsen ließen die Blasen platzen.

05. Der befürchtete Aktiencrash könnte eine neue Zinswende einleiten.

06. Deutschland leidet mehr als andere: Es ist der Kranke Mann des Westens.

07. Eine extremistische Klimaideologie hat sich des Landes bemächtigt.

08. Die Verbrennerverbote sind vollkommen wirkungslos für das Klima.

09. Der Sozialstaat wurde immer mehr als Konkurrent der Wirtschaft ausgebaut.

10. Die Deindustrialisierung hat schon begonnen.