*Print-Artikel wurde veröffentlicht als „Italien hat sein Geld verprasst“, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 6. Januar 2019, S. 25. Der Titel wurde von der FAS-Redaktion gewählt, nicht von Prof. Sinn, siehe Leserbrief unten.
Wie wurde Italien zum Problemfall für die Eurozone? Das Hauptproblem ist, dass Löhne und Preise in der Zeit vor der Euro-Krise relativ zu Deutschland viel zu schnell stiegen. So ist seit 1995, dem Jahr der endgültigen Euro-Ankündigung, ein Zuwachs des Preisniveaus italienischer Güter gegenüber dem Rest der Eurozone von etwa 25 Prozent und gegenüber Deutschland von 39 Prozent zu verzeichnen. Das hat die Wettbewerbsfähigkeit Italiens zerstört, ein Viertel der Industriefirmen vernichtet und die Produktion bis heute um 17 Prozent unter das Vorkrisenniveau fallen lassen.
Es gibt nun nur vier Optionen: (1) Die fehlende Wettbewerbsfähigkeit Italiens wird durch Dauertransfers im Rahmen europäischer Budgets kompensiert. (2) Italien hält seine Inflationsrate so lange unter dem Eurodurchschnitt, bis die alte Preisrelation zum Rest der Eurozone wiederhergestellt ist (reale Abwertung). (3) Deutschland und vergleichbare Länder in Nordeuropa werden nachinflationiert. (4) Italien verlässt den Euroverbund - nicht aber die EU -, um abzuwerten.
Den ersten Weg hat mein italienischer Kollege Lucio Baccaro vor zwei Wochen in einem Beitrag für die F.A.S. abgelehnt, weil Italien mit ihm seine politische Unabhängigkeit verlöre. Ich lehne ihn ab, weil Italien sich an die Transfers gewöhnen und dauerhaft zu teuer bleiben würde. Das nötige Transfervolumen wäre auch riesig, denn Italien ist nicht Griechenland. Wir stimmen überein, dass ganz Italien dann in die Situation des Mezzogiorno käme, der schon seit der Nachkriegszeit Dauertransfers erhält und als Investitionsstandort ausfällt.
Der zweite Weg ist extrem steinig. Entweder müsste es in Italien ein Produktivitätswunder geben, auf das die Gewerkschaften nicht mit Lohnzuwächsen reagieren, oder man müsste die Löhne senken. Ersteres ist Wunschdenken und Letzteres eine Chemotherapie, der sich der Patient verweigert. Länder wie Irland oder die baltischen Staaten haben diesen Weg zwar geschafft. Ich verstehe es aber, wenn mein Kollege glaubt, dass die politischen Verhältnisse Italiens ihn ausschließen.
Der vierte Weg stellt die Wettbewerbsfähigkeit sofort wieder her. Anders als Baccaro mache ich mich aber nicht zu seinem Fürsprecher, denn ich möchte Italien nicht aus dem Euro drängen. Auch mache ich mir Sorgen wegen der Verwerfungen auf den Finanzmärkten, die ein solcher Schritt auslösen würde. Italien muss ganz allein entscheiden, ob es lieber im Euro real abwerten oder austreten möchte.
Es bleibt allerdings noch der dritte Weg: die Nachinflationierung Deutschlands. Baccaro erwartet, dass die Sparer dann durch steigende Zinsen geschützt werden. Das ist aber nicht der Fall. Schon seit 2012 steigen die Preise für deutsche Produkte wieder schneller als jene für Produkte aus dem Rest der Euroländer, doch der EZB-Rat nahm das keineswegs zum Anlass, die Zinsen zu erhöhen. Das Zinsargument zieht auch deshalb nicht, weil Zinsanpassungen immer nur die neuen Kreditbeziehungen vor Inflationsverlusten schützen können. All die alten, langlaufenden Festzinskontrakte, die in Deutschland üblich sind, lassen sich nicht anpassen. So oder so bedeutet deshalb die Nachinflationierung von Deutschland massive Vermögensverluste der Sparer und entsprechende Gewinne der Schuldner, und zwar sowohl bei grenzüberschreitenden Kreditbeziehungen als auch innerhalb Deutschlands.
Das Thema kann man nicht auf die leichte Schulter nehmen, denn als Deutschland bedrängt wurde, seine D-Mark aufzugeben, verlangte es im Maastrichter Vertrag auch von Italien das Versprechen, den Euro als Stabilitätsgemeinschaft zu konstruieren. Die Erfahrung mit der deutschen Hyperinflation, die bis 1923 die Mittelschicht enteignete und sie so sehr radikalisierte, dass sie zum Schluss Hitler wählte, steckte den deutschen Verhandlungsführern noch in den Knochen. Im Maastrichter Vertrag wurde deshalb die Wahrung der Preisstabilität als uneingeschränktes Ziel der Geldpolitik verankert, und weil das so ist, kann die EZB nicht auf eine Preisblase in einem Teil der Eurozone mit kompensierenden Preisblasen in andere Teilen reagieren, um nachteilige Konsequenzen für die Wettbewerbsfähigkeit zu vermeiden oder sonstige wirtschaftspolitische Ziele zu verfolgen.
Trägt Deutschland etwa die Schuld an dem Debakel, weil die deutsche Inflationsrate wegen einer zurückhaltenden Lohnpolitik in der Zeit vor 2008 unter der Zielmarke der EZB lag? So ist es nicht, denn der EZB-Rat hatte damals nur eine noch hinnehmbare Obergrenze für die durchschnittliche Inflationsrate im Eurogebiet definiert, unter die er diese Rate drücken wollte - keinesfalls eine Zielmarke im heutigen Sinne, schon gar nicht für einzelne Länder. Das Maß der Dinge ist im Übrigen nicht der EZB-Rat, sondern der Auftrag des Maastrichter Vertrages, für stabile Preise zu sorgen. Deutschland hat in den Jahren vom Gipfel von Madrid im Jahr 1995 bis zum Ausbruch der Finanzkrise 2008 seine Preise nicht gesenkt, sondern deutlich erhöht, nur hat Italien sie eben viel schneller erhöht.
Der Disput über diese Frage ist aber letztlich ein Streit um des Kaisers Bart, denn fest steht nun einmal, dass die relativen Preise in der Eurozone dramatisch zu Lasten Italiens verzerrt sind und dringend korrigiert werden müssen. Europa fällt nicht, wenn der Euro fällt, doch ist es in hohem Maße gefährdet, wenn kein Mittel gegen die Überteuerung Italiens und vergleichbarer Länder Südeuropas gefunden wird.
Die Überteuerung Italiens hat viel mit den hohen Schulden und Zinsvorteilen zu tun, die das Land im Euro realisieren konnte, denn durch sie konnte so viel Nachfrage geschaffen werden, dass Italien genauso weiter inflationierte wie zuvor, obwohl es seine Währung nicht mehr abwerten konnte. Der Zins, den Italien für zehnjährige Staatspapiere zahlen musste, ist durch die Ankündigung und Implementierung des Euros von mehr als 12 Prozent auf zuletzt unter 3 Prozent gefallen. Das entlastete das Staatsbudget so stark, dass Italien seine Mehrwertsteuer zum Ausgleich hätte streichen können. Hätte der italienische Staat den Zinsgewinn zur Schuldentilgung verwendet, lägen seine Schulden heute unter der Maastricht-Grenze von 60 Prozent des BIP. Tatsächlich liegt die italienische Schuldenquote bei etwa 130 Prozent, noch um zehn Prozentpunkte höher als früher.
Der Grund für die Zinsgewinne Italiens lag vor allem in der Erwartung der Anleger, dass die Gemeinschaft der Euroländer letztlich für die Rückzahlung haften werde, wie es dann ja auch auf dem Wege der EZB geschah. So mussten alle Notenbanken ab dem Sommer 2011 im Rahmen des Securities Markets Programme in großem Umfang italienische Staatspapiere kaufen. Ohne diese Käufe wären die Zinsen Italiens schon damals aus dem Ruder gelaufen. Als die Käufe gleichwohl nicht reichten, das wachsende Misstrauen der Anleger zu überwinden, versprach die EZB im Sommer 2012 den Investoren sogar, dass sie ihnen im Notfall die Staatspapiere grenzenlos abkaufen und die Konkurslasten selbst übernehmen werde ("whatever it takes"). Zusätzlich hat Italiens Notenbank für eine halbe Billion Euro von anderen Notenbanken des Eurosystems öffentliche Target-Kredite erhalten, wofür sie derzeit überhaupt keine Zinsen zahlen muss.
Angesichts dieser Fakten verstehe ich beim besten Willen nicht, warum sich Baccaro an meiner Aussage stoßen kann, die Geschichte Italiens im Euro sei eine Geschichte der öffentlichen Kredite und Bürgschaften, der Gemeinschaftsgarantien und Finanzhilfen.
Es waren die Steuerzahler der Eurozone, denen Italien seine Zinsgewinne verdankt, denn sie müssen die möglichen Verluste der EZB bei Ausfällen von Kreditforderungen verkraften. Hätten sie ein vergleichbares Risiko wie dasjenige, das sie mit der Haftung für Italien eingingen, durch den Aufkauf von CDS-Kontrakten am Markt übernommen, hätten sie jedes Jahr viele Dutzende von Milliarden Euro an Zinsen verdienen können.
Es kann nicht die Rede davon sein, dass Italien vor 2008 Schuldendisziplin geübt hat, wie Baccaro meint. Zwar hatte das Land viele Jahre einen Primärüberschuss im Budget, doch trotz dieses Überschusses und trotz der riesigen Zinsgewinne stieg Italiens Schuldenstand von 1,07 Billionen Euro im Jahr 1995 auf 1,77 Billionen Euro im Jahr 2008. Der Primärüberschuss besagte nur, dass Italien nicht all seine Zinsen durch neue Schulden finanziert hat, nicht aber, dass es Schulden getilgt hat, was wegen der gefallenen Zinsen sehr leicht möglich gewesen wäre.
Baccaro gibt nicht der hohen Schuldenaufnahme Italiens, sondern dem geringen Wachstum die Schuld am Anstieg der Schuldenquote und meint sogar, ohne die durch die Schulden ermöglichte Binnennachfrage des Staates wäre das Wachstum noch geringer gewesen. Dabei verwechselt er aber keynesianische Strohfeuer, die den Auslastungsgrad des Produktionspotentials vergrößern, mit einer angebotsseitigen Politik, die das Produktionspotential selbst vergrößert und die Wettbewerbsfähigkeit verbessert.
Er hat recht mit dem Hinweis, dass auch Italiens Liberalisierungsmaßnahmen keinen Wachstumsschub gebracht haben. Ein solcher Wachstumsschub ist jedoch nicht sofort zu erwarten, sondern erst nach der Chemotherapie einer längeren Disinflation, also einer Verminderung des Preisanstiegs. Die hat es in Italien nicht gegeben. Der Preisindex der italienischen Güter hat sich seit 2008 nahezu exakt so schnell erhöht wie der des Restes der Eurozone. Die angebliche Liberalisierung hatte im Wesentlichen einen deklaratorischen Charakter und war materiell kaum von Bedeutung.
Das ist nun einmal Italiens Misere. Die politischen Strukturen und die Macht der Gewerkschaften schließen echte Reformen aus, die eine reale Abwertung erzeugen würden, und so sucht jede italienische Regierung von neuem ihr Heil in der Verschuldung. Die Verschuldung entzündet sofort ein Strohfeuer, an dem man sich wärmen kann. Das Strohfeuer schafft politischen Rückenwind, erzeugt ein bisschen Nachfragewachstum und senkt dadurch die Schuldenquote, doch dann erlischt dieses Feuer, die Wirtschaft sackt wieder ab, die Preise bleiben zu hoch, und alles ist noch schlimmer als vorher.
Die Kritiker Italiens verweisen darauf, dass hohe und steigende Staatsschulden ein Problem für die finanzielle Stabilität des Landes und ganz Europas sind. Aber das ist nur der eine Teil des Problems. Viel wichtiger ist, dass der Nachfrageeffekt der Schulden - genauso übrigens jener von innereuropäischen Transfers - die preisliche Wettbewerbsfähigkeit beschädigt. Italien braucht die Nachfrage von Ausländern, die in Italien gute und preisgünstige Industrieware finden. Was Italien nicht braucht, ist eine durch Kredite oder Geldgeschenke aufgeblasene Binnennachfrage, die alle Beteiligten in der Illusion wiegt, ohne Lohn- und Preiszurückhaltung käme man im Euro jemals wieder auf die Beine.
Staatsschulden, die unter dem Schutz der gemeinschaftlichen Haftung der Euroländer realisiert werden, bedeuten im Übrigen bereits den Einstieg in die Transferunion. Griechenland zeigt das in aller Deutlichkeit. Erst werden private durch öffentliche Schuldner ersetzt, indem die EZB oder Rettungsschirme die Schulden übernehmen, dann werden die Zinsen erlassen und die Laufzeiten gestreckt, bis das, was ursprünglich einmal als Kredit gemeint war, zu einem Geschenk mutiert ist. Es ehrt Lucio Baccaro, dass auch er eine solche Transferunion nicht will. Ich verstehe deshalb, wenn er seinem Land empfiehlt, den Euro zu verlassen.
Nachzulesen auf www.faz.net.