Finanz und Wirtschaft (ref. Project Syndicate, 30. September 2022), 4. Oktober 2022 und als „Inflation in der Euro-Zone auf Rekordniveau: Warum die EZB eine große Mitschuld trägt“, Münchner Merkur online, 13. Oktober 2022.
Nicht nur Putin und die Opec sind schuld, dass die Teuerung in Europa derart gestiegen ist. Die Europäische Zentralbank hat sich zu spät zum Kurswechsel entschlossen.
In der Eurozone galoppiert die Inflation, der Euro rauscht zu Boden. Musste man im Frühsommer 2021 für 1 € deutlich mehr als 1.20 $ bezahlen, sind es heute weniger als 1 $. Der Vertrauensverlust in den Euro ist gefährlich für die Stabilität der Eurozone. Er kann zu einer Spirale aus Inflation und Fluchtreaktionen führen, wie zuvor mit so vielen Währungen dieser Welt, deren Zentralbanken nicht in der Lage waren, ihre Inflation in den Griff zu bekommen.
Der Durchschnittswert der Konsumgüterinflation der Eurozone lag im August bei 9,1%. Die jüngste Horrornachricht kommt aus Deutschland, dem grössten EU-Land. Im August waren die gewerblichen Erzeugerpreise, die das Geschehen auf den Vorstufen der Industrieproduktion messen, um sage und schreibe 46% höher als im Vorjahresmonat, nach einem Plus von 37% im Juli. Die Preisstabilität, die der EZB im Maastrichter Vertrag als kompromissloses, lexikografisches Ziel vorgegeben wurde, ist nicht einmal mehr an einem fernen Horizont zu erahnen.
Zieht man die langfristige Korrelation zwischen den Preissteigerungsraten der gewerblichen Erzeugerpreise und der Konsumgüter zurate, steckt in den 46% für Deutschland eine Konsumgüterinflation von bis zu 14% für den November in der Pipeline – mit allen Unsicherheiten, die in einem solchen Schluss von der Vergangenheit in die Zukunft bestehen.
Viel keynesianischer Schuldendampf
Die EZB bestreitet standhaft, dass sie eine Mitverantwortung für die Entwicklung trägt. Weder die Pandemie noch das Verhalten von Wladimir Putin habe sie steuern können. Der Hinweis auf exogene Ereignisse ist jedoch ein untaugliches Ablenkungsmanöver. Tatsächlich muss sich die EZB den Vorwurf gefallen lassen, dass sie massgeblich zur aktuellen Inflation beigetragen hat.
Zum einen hat die EZB seit der Lehman-Krise die Zentralbankgeldmenge in Relation zur Wirtschaftsleistung doppelt so schnell steigen lassen wie das Fed und sehr viel keynesianischen Schuldendampf erzeugt, indem sie in riesigem Umfang, nämlich für 4,4 Billionen €, Staatspapiere der Euroländer gekauft hat. Durch die Käufe, die seit dem Sommer des Lehman-Jahres (2008) 83% des Geldmengenzuwachses in Relation zur Wirtschaftsleistung umfassten, hat sie die Zinsen auf Staatspapiere bis in die Gegend von null gedrückt.
Damit hat sie die Staaten veranlasst, unter Missachtung sämtlicher Schuldenpakete auf geradezu halsbrecherische Weise immer mehr Schulden aufzunehmen. Sogar die EU selbst machte zum Schluss im Spiel mit, als sie ein 750 Mrd. € umfassendes Kreditprogramm beschloss, das den Namen Coronahilfen trug, doch in Wahrheit vor allem für die Unterstützung der schwächeren Länder des Mittelmeerraums gedacht war.
Die gesamtstaatliche Schuldenquote inklusive der EU-Schulden wird durch diese Massnahmen perspektivisch deutlich über 100% hinaus getrieben. Da Staatsschulden die gesamtwirtschaftliche Nachfrage erhöhen, hatte dies eindeutige Wirkungen auf die Inflation. Die coronabedingten Lieferengpässe und die Energieverknappung waren Zündfunke der Inflation, doch die Staatsschulden waren der Zunder, der das Feuer nun lichterloh brennen lässt.
Kommt hinzu, dass die EZB auch die Euroabwertung erzeugte, die selbst wiederum inflationär wirkt. Während an der Sitzung des Fed bereits am 16. Juni 2021 klare Signale für eine Zinswende zu vernehmen waren, beharrte die EZB mit fadenscheinigen Begründungen noch zum Beginn des Jahres 2022 auf ihrer ultra-expansiven Geldpolitik. Erst im Sommer entschloss sich auch die EZB zu einem zögerlichen Kurswechsel, der nur wenig an der wachsenden Zinslücke zwischen dem Dollarraum und dem Euroraum änderte.
Abwertung und importierte Inflation
Die Folge war, dass Kapitalanleger nach wie vor in Scharen aus Europa nach Amerika flohen. In den ersten drei Wochen nach der Entscheidung des EZB-Rats von Anfang September stieg der Dollar 4% über die Parität zum Euro. Insgesamt betrug die Dollaraufwertung von der ersten Ankündigung des Fed im Juni 2021 bis zur Abfassung dieser Zeilen 25%.
Um diesen Betrag stiegen in derselben Zeit die in Euro umgerechneten Preise sämtlicher für den europäischen Markt wichtigen Güter, die auf dem Weltmarkt gehandelt werden. Die Importware verteuerte sich im selben Umfang, und die europäischen Exporteure konnten in diesem Umfang Preiserhöhungsspielräume nutzen, ohne Marktanteile zu verlieren. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich diese Preissteigerungen auf die nicht international gehandelten Güter und Dienstleistungen übertragen.
Zu den unmittelbar durch Dollar-Aufwertung und Angebotsverknappung verteuerten Produkten gehörte die Energie, sowohl das Öl wie die europäischen Gaspreise wurden 25% teurer. Die EZB selbst hat sich zu exkulpieren versucht, indem sie darauf hinwies, dass der Anstieg der Energiepreise gut ein Drittel der europäischen Inflation erklärt. Aber sie hat verschwiegen, dass ein Teil dieses Anstiegs auf dem Weg über die Euroabwertung von ihr selbst verursacht wurde. Neben Putin und Opec war sie der grosse Treiber der neuen Inflation der Konsumgüter im Allgemeinen und der Energiepreise der Eurozone im Besonderen.
Nachzulesen auf www.project-syndicate.org und www.fuw.ch sowie www.merkur.de.