Tages-Anzeiger, 19. Januar 2019.
Vor 20 Jahren wurde der Euro eingeführt. Welche Bilanz ziehen Sie?
Anfangs brachte der Euro eine grosse Party, dann den grossen Kater.
Was meinen Sie damit?
Anfangs liess der Euro zu, dass sich einige Länder zu tiefen Zinsen im Übermass verschulden konnten. In der Party haben sie so viel billige Drogen konsumiert, dass sie jetzt Methadon brauchen. Sie müssen nun von der Europäischen Zentralbank und indirekt vom deutschen Steuerzahler unbegrenzt gestützt werden, damit die Währungsunion nicht zusammenbricht.
Für Jean-Claude Juncker ist er ein «Symbol für die Souveränität und Stabilität» Europas.
Der Euro ist ein Symbol für überzogene und vermessene Vorstellungen, wie man eine Europäische Union konstruieren kann. Er behindert die Bildung einer politischen Union. Die EU ist eine segensreiche Entwicklung. Sie hat Freihandel und Wachstum in Europa ermöglicht, aber sie ist gefährdet durch den Euro.
Was ist falsch gelaufen?
Man hätte die EU in den 90er-Jahren politisch mehr integrieren können, ohne eine gemeinsame Währung zu schaffen. Und dann, nach einer politischen Union, wäre es möglich, eine gemeinsame Währung zu schaffen. Die politische Union ist die Voraussetzung für das Funktionieren einer gemeinsamen Währung und nicht umgekehrt.
Hat der Euro Stabilität gebracht, wie Jean-Claude Juncker sagte?
Der Euro hat finanzielle Stabilität gebracht für das Bankensystem – denken sie an die unbegrenzten Interventionen der Europäischen Zentralbank. Aber er hat die politische Stabilität der EU verringert, weil er schon nach seiner Ankündigung 1995 die Zinsen gesenkt hat, sodass in Südeuropa eine Preisblase entstand, welche die Wettbewerbsfähigkeit des Südens zerstört hat. Davon haben sich diese Länder bis zum heutigen Tage nicht erholt. Das Desaster hat radikale politische Parteien in die Parlamente und an die Macht geschwemmt. Denken Sie an Griechenland oder Italien.
In diesen Ländern ist der Kater am grössten.
In Italien ist die Industrieproduktion noch heute 17 Prozent kleiner als vor der Krise im Jahr 2007, als die Party zu Ende ging. In Griechenland liegt sie 20 Prozent zurück, in Spanien 21 Prozent. Und sogar in Frankreich liegt die Industrieproduktion 9 Prozent unter dem Niveau von vor der Krise. Deutschland liegt 9 Prozent höher. Es hat sich eine Schere aufgetan in Europa.
Zu dieser Instabilität kommt jetzt das Problem des Brexit hinzu.
Wir dürfen den Brexit nicht auf die leichte Schulter nehmen. Das Vereinigte Königreich ist die zweitgrösste Volkswirtschaft der EU, so gross wie die 19 kleinsten Länder zusammen. Der Brexit ist also wirtschaftlich so, als ob 19 von 28 Ländern austreten würden.
Das britische Unterhaus lehnte diese Woche das Abkommen für den Brexit ab. Der frühere Bundesbankpräsident und heutige Präsident der UBS, Axel Weber, forderte kürzlich in einem Interview, die EU müsse dem Vereinigten Königreich ein anderes, besseres Angebot machen als bisher. Sehen Sie das auch so?
Er hat recht. Die EU verhält sich so, als sei sie ein Gefängnis. Die Länder, die raus wollen oder nicht dabei sind, werden bestraft. Deswegen entwickelt man die Theorie vom «Rosinenpicken» und wirft das diesen Ländern vor. Wer drinbleiben will, muss alle vier Grundfreiheiten – also die Freizügigkeit für Kapital, Dienstleistungen, Güter und Personen – erfüllen. Wer raus will, kann nicht allein den freien Personenverkehr abschaffen, wie die Briten es fordern, sondern muss auf alle vier Grundfreiheiten verzichten. Das ist eine ökonomisch unhaltbare Position. Sie dient einzig dazu, das austretende Land zu bestrafen – weil man Angst hat, dass es andere Länder gibt, die folgen würden.
Das ist doch aus Sicht der EU verständlich?
Aber nicht legitim. Was ist das für ein System, das sich mittels Strafen zusammenhalten muss? Ökonomisch ist es so, dass es gerade dann, wenn die Personen nicht frei wandern dürfen, wichtig ist, den Handel mit Gütern zu erlauben. Der Freihandel kann nämlich die fehlende Arbeitsmigration zum Teil ersetzen. In 500 Jahren Freihandelsgeschichte konnte sich die Welt prächtig entwickeln, meistens ohne jegliche Migrationsrechte der Menschen.
Also schlagen Sie vor, den freien Personenverkehr wieder zurückzunehmen? Der ist doch sehr populär in der EU.
Nein, das habe ich nicht gesagt. Arbeitsmigration ist sinnvoll und schafft Wohlstand. Aber wenn sie nicht erlaubt ist, dann sollte man wenigstens die anderen Grundfreiheiten gewähren. Statt der Begrenzung der Arbeitsmigration plädiere ich dafür, die Migration in die Sozialsysteme zu begrenzen. Man könnte zum Beispiel vereinbaren, dass das Heimatland für die Sozialleistungen zuständig ist, bis sich ein Migrant die Leistungen des Gastlandes erarbeitet hat. So war es früher in der Schweiz, da blieb die Heimatgemeinde für die Sozialhilfe ihrer Bürger zuständig, wo immer sie wohnten. Die Migration würde so natürlich zurückgehen, aber das wäre kein Nachteil. Man kann auch zu viel Migration haben.
Wann gibt es zu viel Migration?
Wenn jemand wandert, weil er im Gastland mehr verdient, dann steigert dies das Sozialprodukt der EU. Diese Migration ist gut. Jener Teil der Migration freilich, der durch Sozialgeschenke motiviert ist, der ist ineffizient. Wenn jemand wegen der Sozialleistungen wandert, verringert er den Gesamtwohlstand in der EU. Wenn man den Briten anbieten würde, die sozialen Inklusionsregeln der EU so zu ändern, dass der Sozialmagnetismus, die Anziehungskraft des Sozialsystems, aufhört, könnten sie dieses Angebot schwerlich ablehnen und würden in der EU bleiben.
Bringt die Ablehnung des Austrittsvertrags die Briten näher zu einem solchen Angebot der EU?
Zunächst ist die Ablehnung des Abkommens der Entscheid, vorerst einmal nicht auszutreten, und das ist eine gute Entscheidung. Die EU sollte diese Situation jetzt nutzen. Mit dem skizzierten Angebot würde die EU zugeben, dass der Sozialmagnetismus ein echtes Problem darstellt und dass man gewillt ist, es zu lösen. Bei einem zweiten Referendum würden sich die Briten sicher anders entscheiden als 2016.
Und was passiert, wenn die EU gegenüber den Briten hart bleibt?
Was die Briten dann tun, weiss ich nicht. Aber für Deutschland wäre ein Austritt nicht gut. Die Südländer bekämen dann mehr Macht im EU-Rat. Deutschland und die anderen nördlichen Länder hätten das Nachsehen. Eigentlich müsste Deutschland umgehend eine Änderungskündigung des Maastrichter Vertrags aussprechen mit der Bitte, die Regeln, wie in der EU Entscheide gefällt werden, an die neuen Verhältnisse anzupassen.
Und was wären die wirtschaftlichen Folgen?
Die EU würde sich ohne das für den Freihandel eintretende Grossbritannien sukzessive zu einer Handelsfestung entwickeln, in der die nicht mehr wettbewerbsfähigen Industrien mit Zöllen geschützt werden. Die grösste Verliererin einer solchen Entwicklung wäre die deutsche Exportindustrie, weil ja die anderen Länder umgehend Zölle für Güter aus der EU erheben würden. Die Schweiz würde mit zu den Verlierern gehören, weil ihre Wirtschaft eng mit der deutschen verflochten ist.
Das entspricht der weltweiten Renaissance des Protektionismus. Müsste nicht die deutsche Kanzlerin etwas dagegen unternehmen?
Ja. Aber die Kanzlerin denkt politisch und nicht wirtschaftlich. Sie sieht in der EU zu Recht ein Einigungswerk in Europa und hofft zu Unrecht, dass der eingeschlagene Weg schliesslich zu einer politischen Union führt. Sie ordnet die wirtschaftlichen Dinge den politischen Zielen unter – mit der Folge, dass die Sache letztlich auch politisch zerbröselt. Das sehen wir ja zurzeit in Südeuropa und in Frankreich. Eine prosperierende Wirtschaft ist die Grundvoraussetzung, dass die Menschen glücklich sind in dieser EU – und dass radikale Parteien keine Chance haben. Und das ist nicht der Fall, weil Politiker, die von Wirtschaft keine Ahnung hatten, ihre Unkenntnis hinter der Floskel vom angeblichen Primat der Politik versteckt, falsch entschieden haben.
Was halten Sie vom Vorschlag, der sowohl in Brüssel wie auch in London kursiert, die Briten könnten wieder der Efta beitreten und zusammen mit den Efta-Staaten eine kontinentale Partnerschaft mit der EU aushandeln, die den Freihandel ohne Personenfreizügigkeit bringen würde?
Wenn sie nicht in der EU zu halten sind, wäre ich im Sinne einer zweitbesten Lösung dafür. So wie die Migration zurzeit möglich ist, führt sie unweigerlich zu wirtschaftlichen und politischen Problemen. Wenn man die Migration in die Sozialsysteme nicht anders unterbinden kann, auch weil die EU aus politischen Gründen am sozialen Inklusionsprinzip festhält, dann wäre das eine Notbremse. Das Problem, wie sich die EU ohne Grossbritannien weiterentwickelt, bliebe allerdings ungelöst.
Das Interview führte Dominik Feusi.
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