Die wirtschaftlichen Schäden der Klimakrise sind höher als gedacht, sagt Ottmar Edenhofer. Der Direktor des Potsdam-Instituts sagt, was ihm dennoch Hoffnung macht. Und warum er meditiert.
SPIEGEL: Herr Edenhofer, die Klimakrise ist in der Gegenwart angekommen, fast jeden Tag gibt es Schreckensnachrichten: Hochwasser in Griechenland, brennende Wälder in Kanada, Hitzerekorde in Spanien, Dammbrüche in Libyen. Was empfinden Sie da? Wut oder Bestätigung?
Edenhofer: Es ist für mich eine bittere Bestätigung und zugleich ein Schock. Vorhergesagt haben wir das alles seit Jahren – und jetzt spüren wir, was es wirklich heißt, in einer 1,5-Grad-Welt zu leben. Was mich schockiert hat: Die wirtschaftlichen Schäden sind noch größer als bislang gedacht, schon im Jahr 2030 bis zu 420 US-Dollar je zusätzlich ausgestoßener Tonne CO₂, das haben jüngst die Analysen amerikanischer Kollegen im Auftrag der US-Regierung ergeben. Und selbst das ist noch eine vorsichtige Rechnung.
Warum vorsichtig?
Die Kollegen haben ausgeblendet, dass es Veränderungen gibt, die ab einer bestimmten Temperatur auf der Erde unwiderruflich sind: zum Beispiel das Verschwinden von Gletschern oder Korallenriffen. Wenn wir das einbeziehen, sind die Schäden noch größer. Immerhin kann man der Kalkulation auch eine positive Seite abgewinnen. Wenn wir jetzt sicher wissen, dass uns die Erderhitzung ärmer macht, bedeutet das zugleich: Klimaschutz ist Wohlstandssicherung.
Falls es dafür nicht schon zu spät ist. Viele Fachleute sind inzwischen der Auffassung, dass die Ziele des Pariser Abkommens nicht mehr zu erreichen sind. Sie auch?
Ja, uns läuft die Zeit davon. Ich gehe davon aus, dass wir das 1,5-Grad-Ziel, den menschengemachten Klimawandel auf diesen Anstieg zu begrenzen, zumindest für einige Dekaden überschreiten werden. Das beunruhigt mich.
Was heißt das für die Klimapolitik?
Erstens müssen wir unsere Anstrengungen vergrößern, die Emissionen herunterzufahren. Zweitens müssen wir Massen von Kohlenstoff aus der Atmosphäre zurückholen und unschädlich machen, indem wir ihn etwa mit der sogenannten CCS-Technik im Boden vergraben. Im Kern bedeutet das: Wir müssen eine planetarische Müllabfuhr aufbauen, die den Mist, den wir angerichtet haben, wieder einsammelt. Die Technologien dafür gibt es, wir müssen nur die richtigen Bedingungen für ihren Einsatz schaffen. Wenn das gelingt, könnte die Welt nach einer Zeit des »Overshooting« wieder auf den 1,5-Grad-Pfad einbiegen.
Das ist eine vage Hoffnung. Die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, für den Klimaschutz Einbußen in Kauf zu nehmen, hat in den vergangenen beiden Jahren dramatisch abgenommen. Glauben Sie ernsthaft, dass eine forcierte Klimapolitik hierzulande mehrheitsfähig ist?
Die Erfahrung der vergangenen Jahre zeigt, dass es immer nur ein kurzes Zeitfenster für ambitionierten Klimaschutz gibt. Das Ermutigende ist: Wir können dieses Zeitfenster nutzen. 2019 hat nicht zuletzt die Fridays-for-Future-Bewegung das Thema in bewundernswerter Weise nach vorn geschoben – bis weit in die gesellschaftliche Mitte. Seither haben die beiden großen demokratischen Blöcke der Welt entscheidende Gesetze verabschiedet: die Europäische Union den Green Deal mit der Ausweitung des Emissionshandels. Und die USA den Inflation Reduction Act…
…kurz IRA, bei dem Washington den Ausbau erneuerbarer Energien mit 370 Milliarden Dollar subventioniert.
Das waren zwei entscheidende Schritte nach vorn.
Dafür geht es jetzt umso beherzter zurück. Dieses Jahr werden wieder Hunderttausende neue Dieselautos auf die Straßen kommen, und Gasheizungen finden reißenden Absatz. Die AfD, die das Klimaproblem leugnet, ist in weiten Teilen Ostdeutschlands zur stärksten Partei aufgestiegen.
Edenhofer: Vielleicht haben wir in den vergangenen Monaten zu viel über Transformation und Disruption geredet und zu wenig darüber, dass wir mit Klimaschutz die wirtschaftliche Basis unserer Gesellschaft sichern.
Daran zweifeln inzwischen nicht nur viele Bürger, sondern auch einflussreiche Vertreter Ihrer Zunft. Der frühere Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn zum Beispiel, bei dem Sie selbst einst Ökonomie studiert haben, hält die deutsche Vorreiterrolle beim Klimaschutz für einen Irrweg und fordert eine internationale Lösung. Liegt er falsch?
Sinn hat ja einen Punkt: Der Klimaschutz ist ein internationales Problem. Die Vorstellung, dass Deutschland im Alleingang die Erderwärmung aufhalten könnte, wäre in der Tat absurd. Aber mit seiner Einschätzung, dass Deutschland allein steht, liegt Sinn falsch. Das Gegenteil ist der Fall. Der Green Deal ist ein gemeinsames europäisches Projekt. Die USA investieren im Rahmen des IRA massiv in regenerative Energien, in Wasserstoff und CCS-Technik. In Asien erleben wir einen Boom der Elektromobilität, der in Europa viel schleppender vorankommt. Auch bei der internationalen Kooperation läuft viel mehr, als es mein verehrter akademischer Lehrer wahrhaben will.
Die EU hat ja angekündigt, an ihren Grenzen einen Importzoll auf fossile Stahl- oder Chemieerzeugnisse zu erheben. Seitdem ist in vielen Ländern Erstaunliches in Bewegung gekommen. Die Türkei will einen Emissionshandel einführen, sogar Indien denkt über einen CO₂-Preis nach, um den EU-Zoll zu vermeiden. Das zeigt: Die europäische Strategie, mit gutem Beispiel voranzugehen, funktioniert.
Das sollten Sie mal den deutschen Chemie-, Aluminium- oder Porzellanherstellern erzählen, die drohen, wegen der hohen Energiepreise Fabriken zu schließen. Ist es Ihnen gleichgültig, wenn in der Republik mehr als eine Million Arbeitsplätze in energieintensiven Industrien auf dem Spiel stehen?
Keineswegs. Der hohe Energiepreis ist ja in der Tat eine Sondersituation – und der politische Druck auf die Bundesregierung, hier für eine gewisse Zeit zu helfen, ist gewaltig. Aber klar ist auch: Für die Energiekrise ist nicht die Klimapolitik verantwortlich, sondern der russische Angriffskrieg auf die Ukraine mit den gestiegenen Gaspreisen. Der Klimaschutz ist nicht das Problem, sondern Teil der Lösung. Wir müssen ihn vorantreiben. An den Notierungen auf den globalen Terminmärkten lässt sich ablesen, dass die Gas- und Strompreise in den kommenden Jahren fallen werden. Dabei ist offenbar ein beschleunigter Ausbau der Erneuerbaren eingepreist.
Bundeskanzler Olaf Scholz spricht deshalb sogar von einem neuen Wirtschaftswunder.
Das ist nun wiederum sehr optimistisch. Dass der Ausbau von Wind und Sonnenkraft die Preise senken wird, halte ich für hoch wahrscheinlich. Allerdings werden sie in anderen Ländern wahrscheinlich noch viel stärker sinken. Ich denke nicht, dass Deutschland bei der Solarstromproduktion je mit Andalusien mithalten kann. Umso mehr sollte Deutschland versuchen, von den Kostensenkungen bei unseren europäischen Partnern zu profitieren.
Wie soll das gehen?
Die beste Strategie besteht darin, die europäischen Energiemärkte und Wertschöpfungsketten eng zu verzahnen. Wir sollten nicht national denken, sondern europäisch. Es wird einige Grundstoffproduzenten geben, die zu günstigeren Standorten abwandern. Dafür werden andere Industrien hierzulande von den dort billiger hergestellten Vorprodukten profitieren. Und was die Subventionen betrifft, sollten wir weniger alte Industriestrukturen und mehr strategische Zukunftsfelder in den Blick nehmen, so wie es uns die USA beim IRA vormachen: Windkraft, Wasserstoff, E-Fuels, Batterien, Kohlenstoffabscheidung.
Wirtschaftsminister Robert Habeck will die energieintensive Industrie mit befristeten staatlichen Hilfen zum Bleiben bewegen. Was halten Sie davon?
Da bin ich sehr skeptisch. Der in der Koalition diskutierte Industriestrompreis vermindert den Anreiz zur Einsparung und Effizienz. Stattdessen könnte man zum Beispiel der Aluminiumindustrie die Produktionskosten vorübergehend subventionieren. Allgemeine Hilfen können jedoch schnell zur Dauerlösung werden, das lehrt die Erfahrung. Sie kosten außerdem sehr viel Geld. Das bräuchten wir aber dringend, um die privaten Haushalte vor den Folgen der steigenden CO₂-Preise abzuschirmen.
Was schwebt Ihnen vor?
Umfragen zeigen, dass die Bevölkerung Klimaprogramme gutheißt, wenn der Staat die Einnahmen aus der CO₂-Bepreisung nach sozialen Kriterien zurückerstattet. Diese Kompensation ist entscheidend, damit die Leute der Klimapolitik vertrauen. Beim Gebäudeenergiegesetz dagegen wollte die Bundesregierung die privaten Haushalte zu einer großen Umstellung zwingen, ohne zuvor die soziale Komponente zu klären. Das war ein Fehler.
Was hätte die Koalition anders machen sollen?
Die Regierung hätte die Reihenfolge umdrehen müssen: Erst die Kompensation festlegen, dann die kommunale Wärmeplanung aufsetzen und schließlich den Heizungstausch vorantreiben. Jetzt haben wir den perversen Effekt, dass wir 2023 die höchsten Verkäufe für Öl- und Gasheizungen haben. Nach Lage der Dinge werden wir die Klimaziele für 2030 damit nicht erreichen. Das Gesetz wurde entkernt. Es entspricht übrigens auch nicht den europäischen Zielvorgaben, die Deutschland eingegangen ist.
Im Koalitionsvertrag hatte die Ampel vereinbart, den Bürgern die Einnahmen aus den steigenden CO₂-Preisen in Form eines sogenannten Klimageldes zurückzuerstatten. Nun möchte die Regierung das Vorhaben frühestens 2025 einführen.
Das ist bedauerlich. Man könnte den Eindruck gewinnen, die Bundesregierung nimmt dieses Vorhaben offenbar überhaupt nicht ernst. Dabei ist es ein zentrales Element für eine gelungene Klimapolitik. Ein solches Klimageld würde den Menschen zeigen, dass es dem Staat um den Kampf gegen die Erderwärmung geht – und nicht darum, Einnahmen zu erzielen. Es geht um ein klares, deutliches und verständliches Zeichen. Eine gute Kompensation muss transparent sein, sie muss spürbar sein, und sie muss den Schwachen mehr helfen als den Starken.
Die Einnahmen aus der CO₂-Bepreisung fließen in den sogenannten Klima- und Transformationsfonds, aus dem die Bundesregierung jetzt auch die Ansiedlung einer Chipfabrik in Magdeburg und womöglich sogar den Industriestrompreis bezahlen will. Wie finden Sie das?
Das ist Zweckentfremdung. Es wäre absurd, wenn man ausgerechnet aus dem Klimafonds Subventionen zahlen würde, um die energieintensive Industrie vor steigenden Strompreisen zu schützen. Dadurch besteht die Gefahr, dass die Strompreise für Haushalte und Mittelstand steigen und de facto klimaschonendere Produkte wie Wärmepumpen und E-Autos weniger wettbewerbsfähig werden. Wenn man den Strukturwandel aufhält, entmutigt man Investoren, ihr Geld in neue grüne Technologien zu stecken.
Nach Ihren Prognosen müsste der CO₂-Preis für Verkehrs- und Gebäudeemissionen in Europa gut vier- bis sechsmal so hoch sein wie heute geplant, um die tatsächlichen Kosten des CO₂-Ausstoßes auszugleichen. Dann würde sich der Liter Diesel um bis zu 80 Cent verteuern. Glauben Sie wirklich, dass die Menschen das mitmachen?
Das kann ich Ihnen nicht sagen. Doch wenn die Leute dazu nicht bereit sind, gibt es nur zwei Möglichkeiten, die beide schlecht sind: Entweder wird es dann für viele Menschen sehr teuer, wenn die Regierung Verbrennerautos oder Gasheizungen verbietet. Oder aber wir stellen den Kampf gegen die Erderwärmung ein – und nehmen Schäden in Kauf, die sehr viel größer sind. Es wäre klug, wenn wir die Menschen früh auf einen weiter steigenden CO₂-Preis vorbereiten.
Die USA machen es anders. Sie verzichten in ihrem Klimapaket auf CO₂-Abgaben, subventionieren stattdessen die Produktion grüner Energieträger und locken damit die Industrie aus Europa über den Atlantik. Das bringt ihnen auch noch Arbeitsplätze.
Ich bezweifle, dass dies langfristig der bessere Weg ist. Um ihr Ziel der Treibhausgasneutralität zu erreichen, müssten die USA ihre Subventionen nochmals verdreifachen, vervierfachen. Es reicht nicht, neue Elektroautos in die Verkaufsräume zu stellen. Es müssen auch Millionen von Benzin- und Dieselautos von der Straße wegkommen. Das wird nur passieren, wenn der Sprit nach und nach so teuer wird, dass kein US-Bürger mehr einen Verbrenner fährt. Irgendwann werden deshalb auch die Vereinigten Staaten zur CO₂-Bepreisung schwenken – oder das Klimaziel aufgeben.
In vielen EU-Hauptstädten wird befürchtet, dass die USA wegen der enormen Subventionen in den nächsten Jahren eine solche Dominanz in grünen Technologien aufbauen, dass Europa nicht mehr mithalten kann.
Ich sage ja nicht, dass Europa keinerlei Subventionen zahlen sollte. Aber die EU sollte ihre Subventionen strategisch fokussieren: auf grüne Industrien und auf Forschung und Entwicklung. Wir haben bei den Wasserstoffpatenten großen Vorsprung – warum investieren wir nicht mehr in diesen Bereich? Warum fördern wir nicht konsequenter die Batterietechnologie?
Im August lagen die Temperaturen weltweit schon 1,68 Grad über dem Monatsdurchschnitt der vorindustriellen Zeit. Dennoch wirken Sie zuversichtlich? Was gibt Ihnen Hoffnung?
Mich hat beeindruckt, dass die EU mitten im Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine die Kraft gefunden hat, den Green Deal voranzubringen. Und dass die US-Regierung in einer innenpolitisch schwierigen Situation den Inflation Reduction Act zustande gebracht hat. Der Westen könnte jetzt gemeinsam den Klimaschutz vorantreiben.
Sie sind ein religiöser Mensch, waren Mitglied im Jesuitenorden und meditieren jeden Tag eine Stunde lang. Gibt Ihnen das Gelassenheit?
Es stimmt, ich meditiere täglich eine Stunde, immer morgens um sechs. Das Meditieren gelingt dem Menschen nur, wenn er einen Schritt innerlich zurücktreten, von außen das Chaos seiner Gefühle betrachten und dann Entscheidungen treffen kann. Wir müssen das beim Klimaschutz auch so machen: einen Schritt zurücktreten, uns klar über die strategischen Prioritäten werden und dann kraftvoll handeln.
Und dann werden die Menschen es letztlich schaffen, die Welt zu retten und die Klimakrise in den Griff zu bekommen?
Ja. Es gibt eine lange Geschichte der Menschheit. Wir sind keine Lemminge. In existenzbedrohenden Krisen sind wir nicht den Abgrund hinabgestürzt, sondern haben am Ende immer Lösungen gefunden.
Herr Edenhofer, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Zur Person: Professor Ottmar Edenhofer, Jahrgang 1961, ist Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) und leitet zugleich den Berliner Thinktank Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change. Der gebürtige Niederbayer trat als junger Mann in den katholischen Jesuitenorden ein und gründete eine jesuitische Hilfsorganisation für Flüchtlinge in Bosnien und Kroatien – ehe er den Orden verließ und Klimaökonom wurde.
Der zweifache Vater, der unter anderem in führenden Funktionen für den Weltklimarat arbeitete, macht sich seit Jahren für eine konsequente und umfassende Bepreisung von Kohlendioxid stark. Seiner Einschätzung nach sind CO₂-Preise der beste Weg, um die globalen Emissionen einzudämmen.
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