Nürnberger Nachrichten, 2. Mai 2022, S. 3, auch als "So hoch, dass man Angst kriegen muss", Straubinger Tagblatt und Landshuter Zeitung, 29. April 2022, S. 8. In Teilen veröffentlicht als "Hohe Inflation macht einem Angst", Main-Echo, 29. April 2022, S. 3.
Hans-Werner Sinn (74) ist Wirtschaftswissenschaftler. Er ist emeritierter Hochschullehrer an der Ludwig-Maximilians-Universität München und war von 1999 bis 2016 Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung. Nach wie vor ist er mit zahlreichen Publikationen und Interviews aktiv. Derzeit ist er unter anderem Vorsitzender des Ausschusses für Ordnungspolitik und Grundsatzfragen beim Wirtschaftsbeirat der Union.
Herr Professor Sinn, offenbar nähert sich die deutsche Ökonomie einer Situation, die geprägt ist von hoher Inflation, geringem oder vielleicht sogar rückläufigem Wachstum und Arbeitskräftemangel. Hat es so etwas schon mal gegeben?
Ja, in den 70-er Jahren der Ölkrise. Anfänglich war damals der Beschäftigungsstand hoch, wir hatten wegen fehlenden Öls eine Angebotsverknappung und hohe Staatsverschuldung und viel gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Das trieb damals die Preise in die Höhe.
Sie haben kürzlich von einer ersten und einer zweiten Inflationswelle gesprochen. Wo sind wir jetzt?
Wir sind noch in der ersten Welle, die aber doch sehr viel kräftiger als gedacht ist. Die Selbstverstärkungseffekte haben schon eingesetzt. Die Europäische Zentralbank (EZB) ging davon aus, dass ein Höhepunkt der Inflationsrate im vergangenen November erreicht worden wäre und danach würde die Inflationsrate wieder zurückgehen. Das ist aber nicht der Fall. Wir beobachten im März eine kräftige Steigerung von 7,5 Prozent.
Welchen Anteil daran hat der Ukraine-Krieg?
Dass der Preisindex steigt und steigt, liegt gar nicht mal am Krieg in der Ukraine, sondern vor allem an der Knappheitssituation auf den Weltmärkten. Diese hat sich nicht verbessert. Die Quarantänemaßnahmen in den Häfen Chinas verursachen nach wie vor Engpässe bei den Zwischenprodukten. Die Lieferzeiten haben sich dramatisch verlängert und die Firmen können wegen der hohen Nachfrage nach ihren Produkten die Preise erhöhen. Hinzu kommt jetzt, dass die Firmen angefangen haben, Vorprodukte zu horten. Dadurch wird die Angebotsverknappung noch größer.
Das hört sich so an, als ob die Finanz- und Währungspolitik jetzt gar nicht mehr viel tun kann.
Dann hört sich das falsch an. Die EZB hat die Aufgabe, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage an das Angebot anzupassen. Wenn das Angebot schrumpft, dann muss sie auch die Nachfrage schrumpfen lassen. Stattdessen hat sie die Nachfrage durch ihre Null- und Negativzinspolitik noch kräftig ausgeweitet. Niedrige Zinsen bedeuten, dass Häuser gebaut werden und dass die Staaten sich im Übermaß verschulden. Staatsverschuldung bedeutet per Saldo einen Nachfrageschub für die Wirtschaft.
Wenn die EZB jetzt abrupt auf die Zinsbremse steigt, also die Zinsen erhöht, hätte das aber doch auch negative Folgen?
Wenn sie es abrupt macht, ja. Aber je länger sie wartet, umso abrupter muss sie treten. Das war das Problem, das wir in den 70-er Jahren in den USA hatten. Da hat es eine ähnliche Situation wie heute gegeben. Die Notenbank FED hat damals nicht gebremst und schließlich musste sie eine Gewaltbremsung hinlegen. Damals wurden die Zinsen bis auf 20 Prozent hochgesetzt. Im Nu war die Inflation vorbei, aber es führte zu riesigen Verwerfungen in der Weltwirtschaft, weil der Dollar aufwertete und die in Dollar verschuldeten Entwicklungsländer reihenweise in Staatskonkurs gingen. Man spricht hier von der lateinamerikanischen Schuldenkrise.
Was bedeutet die aktuelle Entwicklung für die Bürger in Deutschland? Wohlstandsverluste?
Bis die Gewerkschaften höhere Löhne wegen der Inflation durchsetzen bedeutet das durchaus Realeinkommensverluste. Wir haben heute ein um neun Prozent höheres Preisniveau als noch 2020. Wer zwischenzeitlich keine Lohnerhöhung bekommen hat, hat real neun Prozent weniger. Das gilt auch für andere Einkommen, zum Beispiel auch für Vermieter oder Sparer. Lebensversicherungsverträge sind in gleicher Weise erodiert.
Kann die Situation trotz des Arbeitskräftemangels doch noch in höhere Arbeitslosigkeit münden?
Ja, natürlich. Es ist möglich, dass die Verknappungstendenzen auf den Zwischenproduktmärkten die Firmen zwingen, komplementär zu den fehlenden Vorprodukten auch die Arbeitskräfte zu reduzieren. Das ist alles möglich.
Der Ukraine-Krieg hat die Frage aufgeworfen, ob Deutschland einen Verzicht auf russische Energielieferungen verkraften könnte. Ein bisschen Frieren und ein bisschen weniger Wachstum wären hinzunehmen, meinen Viele. Ist das zu leichtfertig?
Ja, ich denke, das ist es. 48 Prozent der Wohnungen in Deutschland werden mit Gas beheizt. Wenn die Bevölkerung ihre Wohnungen nicht beheizen kann, wird es schon unangenehme politische Reaktionen geben. Darauf muss man sich einstellen. Diese Problematik wird durch die einschlägigen Rechnungen über die mögliche Schrumpfung des Inlandsprodukts gar nicht erfasst.
Frieren ist vom Bruttoinlandsprodukt nicht erfasst?
Nein. Erfasst werden nur die Sekundäreffekte auf industrielle Prozesse, die auch Gas brauchen und die in Schwierigkeiten kommen. Die Wirtschaft würde noch weiter ins Stocken kommen als sie es durch die Lieferengpässe sowieso schon ist.
Sie treten dafür ein, die letzten drei deutschen Kernkraftwerke am Netz zu halten und auch noch drei weitere kürzlich abgeschaltete wieder in Betrieb zu nehmen. Ökonomisch mag das sinnvoll sein, aber ignorieren Sie damit nicht die Probleme mit der Endlagerung und möglichen katastrophalen Störfällen?
Man soll nichts ausblenden, aber diese Probleme sind total überblendet worden. Die Lagerproblematik ist lange nicht so groß wie getan wird, weil man durch neue Reaktoren die abgebrannten Brennstäbe wieder verwerten und die Restmengen dramatisch reduzieren kann. Im Übrigen sind die Strahlungsmengen, die von Atommüll ausgehen, im Verhältnis zu der im Gestein überall vorhabenen natürlichen Strahlung absolut vernachlässigbar. Ich habe nie verstanden, wo das große Problem sein soll. Wenn das Hunderttausende von Jahren strahlt, ist das nichts Ungewöhnliches. Die ganze Erde strahlt. Alle möglichen Stoffe strahlen. Die Erdwärme, mit der Häuser geheizt werden, kommt fast zur Hälfte aus radioaktiven Zerfallsprozessen. Das vergessen viele. Sie denken, Radioaktivität sei etwas Unnatürliches, dabei ist sie eine ganz natürliche Sache, die die Entstehung des Lebens auf der Erde von Anfang an begleitet hat.
Der deutsche Staat ist finanziell schwer beansprucht: Corona-Krise, Energiewende und nun auch noch die Ertüchtigung der Bundeswehr und Inflationsausgleichshilfen - übernimmt sich die Bundesrepublik und mit welchen Folgen?
Wenn der Staat für neue Aufgaben Geld braucht, muss er es sich bei den Bürgern durch Steuern und Abgaben holen. Und wenn er das nicht will, muss er andere Aufgaben reduzieren. Es ist nicht richtig, sich das Geld durch Verschuldung zu holen und die Notenbank diese Schuldpapiere mit Hilfe der Druckerpresse kaufen zu lassen. Das treibt die Inflation unmitelbar. und ist einer der Hauptgründe dafür, dass wir heute eine so starke Inflation haben. Die Verschuldung der Staaten in den letzten Jahren hat die Nachfrage nach Gütern vergrößert und gleichzeitig haben die weltweiten Corona-Lockdowns das Angebot vermindert. In diesem Regime sind wir immer noch. Alles, was man sich mit Verschuldung finanziert, ist inflationär. Es ist völlig einerlei, ob die Motive dafür gut oder schlecht sind. Deshalb ist es unverantwortlich, heute noch einer Verschuldung das Wort zu reden.
Sie sprechen von Ausgabenkürzungen statt Steuererhöhungen. Haben Sie Vorschläge für nennenswerte Kürzungen?
Die Subventionsmaschinerie des Staates ist riesengroß. Der Sozialstaat schüttet erhebliche Teile des Sozialproduktes aus. Man kann aber nur ausschütten, was man hat. Es macht keinen Sinn, Geld auszuschütten, das man sich gedruckt hat, wie das in den letzten Jahren passiert ist. Kein Volk kann mittels der Notenpresse über seine Verhältnisse leben.
Nun gibt es in der EU etliche Länder, die noch mehr über ihre Verhältnisse leben als die Deutschen. Ist die Vergemeinschaftung der Schulden, vor der sie immer gewarnt haben, eigentlich schon passiert?
Ja. Durch die Maßnahmen der EZB und die Verschuldung der EU hat es erhebliche Sozialisierungswellen gegeben. Die EZB hat 2012 eine Garantie für die Inhaber von Staatspapieren ausgegeben: Wenn Gefahr besteht, dass der jeweilige Staat pleite geht, dann kauft sie den Anlegern die Papiere ab, so Mario Draghis Versprechen. Das ist eine implizite Vergemeinschaftung, die die Staatspapiere des Euro-Raumes zu Gemeinschaftsschulden gemacht hat. Die umfangreichen Käufe seit 2015 im Rahmen des Quantitative-Easing-Programms haben mit anderen Programmen dazu geführt, dass über 4.000 Milliarden Euro bei den Zentralbanken abgelagert wurden. Das ist letztlich auch ein Stück Schulden-Vergemeinschaftung. Nicht im rechtlichen, aber im faktischen Sinne.
Alle in Europa atmen auf, dass Macron in Frankreich die Wahl gewonnen hat. Wird man ihm jetzt auch mit Schulden-Vergemeinschaftungen behilflich sein, damit beim nächsten Mal nicht doch die Rechtspopulisten übernehmen?
Es kann sein, dass die deutsche Regierung so denkt. Das wäre aber ein großer Fehler. Die Schulden-Vergemeinschaftung führt dazu, dass sich die Länder immer stärker verschulden. Nur wenn man auf den eigenen Schulden sitzen bleibt und durch Zinsanstieg bestraft wird, hört man auf, sich exzessiv zu verschulden. Die Verschuldung ist ein Inflationstreiber ersten Ranges. Die Inflation ist jetzt schon so hoch, dass man davor Angst kriegen muss. Es könnten erhebliche gesellschaftliche Umverteilungsprozesse stattfinden, die den unteren Mittelstand in die Opposition und die Radikalisierung treiben. Das haben wir alles vor 100 Jahren schon mal gehabt. Muss sich die Geschichte wiederholen? Ich hoffe nicht.
Nachzulesen auf www.main-echo.de.