Grüne Energiewende schuld an Gaskrise

Der wohl polarisierendste deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn verteidigt die Gasumlage und attackiert die Bundesregierung dennoch. Und er macht radikale Vorschläge für die Zukunft der deutschen Energie.
Hans-Werner Sinn

Berliner Zeitung, 22. August 2022, Nr. 194, S. 14.

Der ehemalige Chef des ifo Instituts, Prof. Dr. Hans-Werner Sinn, gilt als der Pate und das Enfant terrible der deutschen Wirtschaft. Seine Thesen sind provokant und ernüchternd. Wir haben mit ihm über die Inflation, Geldpolitik und die Verzichtsaufrufe der Bundesregierung gesprochen.

Herr Prof. Dr. Sinn, Wirtschaftsminister Habeck hat neulich gesagt, dass das Modell der Abhängigkeit von „billigem“ russischen Gas gescheitert sei. Ist der liberale Wirtschaftsansatz der Bundesrepublik daran schuld? Der liberale Gasmarkt hat sich ja für das billigste Produkt entschieden.

Nein, das Russengas gewann seine dominante Stellung wegen der grünen Energiewende, also aus politischen Gründen. Da Wind- und Solarenergie sehr flatterhaft sind, braucht man während der häufigen, langanhaltenden Dunkelflauten regelbare, konventionelle Kraftwerke als Lückenfüller, und zwar im vollen Umfang des deutschen Strombedarfs. Die Kohle- und Atomkraftwerke wollte die Politik ja abschalten, also blieb den Erzeugern nur das teure Gas. Die unheilvolle Abhängigkeit vom Russengas ist der Kollateralschaden einer unbedacht organisierten Energiewende.

Minister Habeck will Deutschland nun von „billigem“ russischen Gas befreien und verteidigt deshalb die Gasumlage. Will man hier die Inflation mit noch höheren Gaspreisen bekämpfen?

Die deutsche Bevölkerung muss die hohen Gaspreise tragen, denn der liebe Gott hilft ihr nicht. Wenn das Gas knapp ist, müssen die Preise steigen, um den Verbrauch zu dämmen. Sonst muss man das Gas rationieren, was aber Tohuwabohu in der Wirtschaft erzeugt, weil der Staat gar nicht wissen kann, wer leicht verzichten kann und wer nicht.

Warum kann der Staat nicht einzeln prüfen wie bei Uniper, welcher Konzern wirklich Hilfe braucht? Die Krisengewinner RWE und Shell brauchen das Geld aus der Gasumlage nicht.

Jeder Anbieter kann selbst entscheiden, ob er von der Möglichkeit der Preiserhöhung Gebrauch macht. Er ist nicht verpflichtet. Die meisten müssen die steigenden Einkaufspreise aber auf die Verbraucher umlegen, um nicht in Konkurs zu gehen.

Aber die Deutschen verbrauchen laut der Bundesnetzagentur bereits 14 Prozent weniger Gas.

Und sie werden noch weniger Gas verbrauchen müssen, wenn Putin es will.

Ist die Gasumlage mit Blick auf die Inflation doch eine Fehlentscheidung? Sie wird die allgemeine Inflation in Deutschland laut dem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) auf über zehn Prozent treiben.

Auch so droht eine zweistellige Inflation der Verbraucherpreise. Der Inflationsdruck ist bei allen gewerblichen Erzeugerpreisen schon seit dem letzten Jahr riesig, nicht nur bei der Energie. Dagegen sollte der Staat nicht mithilfe einer Preisdeckelung vorgehen. Vielmehr ist es Sache der EZB, die Inflation zu bekämpfen. Gegen spezifische Preiserhöhungen beim Gas vorzugehen, ist falsch, denn höhere Preise veranlassen die Verbraucher, weniger zu kaufen, und die Firmen aus anderen Quellen mehr Gas herbeizuschaffen.

Einige Ökonomen bestehen jedoch darauf, dass Deutschland einen Energiepreisschock hat und höhere Zinsen fehl am Platz wären. Mit dem 9-Euro-Ticket und dem Tankrabatt gibt es Beispiele, dass mehr Staatsausgaben die Inflation dämpfen. Warum sind Sie trotzdem dagegen?

Die Inflation wütete bereits im letzten Jahr, der Anstieg der Energiepreise ist ein Teilsaspekt. Eine Deckelung der Gaspreise ist nicht sinnvoll, weil der Staat dann zu einer Rationierung der Gasmengen gezwungen ist. Eine Rationierung von Gütern ist das Kennzeichen einer kommunistischen Zentralverwaltungswirtschaft. Die funktioniert einfach nicht. Was funktioniert, ist die Zinspolitik der Zentralbank. Eine Erhöhung der Zinsen im Euroraum würde die Kapitalflucht nach Amerika bremsen, die seit dem letzten Jahr stattfand. Der Euro würde sofort aufwerten, und sämtliche Preise der aus dem Nicht-Euroraum importierten Güter, auch der Energie, würden fallen.

Die EZB hat jedoch erstmals seit elf Jahren den Leitzins auf 0,5 Prozent erhöht. Nicht genug?

Die EZB hat die kräftige Zinswende der Amerikaner, die schon letztes Jahr angekündigt wurde, nur sehr zögerlich mitgemacht. Das hat die Kapitalflucht verursacht und den Euro gegenüber dem Dollar um gut 20 Prozent abgewertet. Die Importe vom Weltmarkt wurden dadurch für sich genommen um knapp 20 Prozent teurer. Diesen Effekt kann man durch eine restriktive Geldpolitik rückgängig machen.

Die Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg (UVB) sehen in der Gasumlage schon jetzt eine existenzielle Bedrohung. Wenn dazu noch Kredite teurer wären: Wäre die deutsche Wirtschaft dann nicht dem Untergang geweiht?

Nein, denn erstens sind bestehende Kredite nicht von der Zinssteigerung betroffen und zweitens würden die Unternehmen auch davon profitieren, dass die Euroaufwertung die importierten Vorprodukte verbilligt. Höhere Zinsen auf neue Kredite würden im Übrigen die Kreditnachfrage insgesamt bremsen. Der Staat würde nicht mehr so viel Schuldengeld unter der Bevölkerung verteilen, die Firmen würden weniger Investitionsgüter kaufen, und die Menschen würden sich beim Ratenkauf langlebiger Verbrauchsgüter zurückhalten. Nur so kann man die Inflation in den Griff bekommen. Die Weltwirtschaft leidet heute unter coronabedingten Lieferengpässen und einer Schuldenflut, die die Nachfrage über allen Maßen belebt hat. Der Krieg hat die Lieferengpässe verstärkt. Die Firmen können nicht so viel produzieren, wie die Kunden kaufen wollen. Der riesige Nachfrageüberhang treibt die Inflation. In dieser Situation ist es sinnvoll, die Nachfrage zu reduzieren, um die Inflation einzudämmen.

Und trotzdem scheinen gerade steigende Energiepreise der wichtigste Inflationstreiber zu sein. Warum lässt die Bundesregierung diesen freien Lauf, wenn sie den Menschen hierzulande kaum weitere Entlastungen in Aussicht stellen kann? Warum nicht diesen Inflationstreiber bekämpfen?

Preispolitik ist in der Marktwirtschaft im Grundsatz nicht Sache der Regierung, sondern der Notenbank. Nur in einer kommunistischen Zentralverwaltungswirtschaft diktiert der Staat die Preise. Das gilt auch, wenn ein externer Diktator die Macht hat, den Gashahn abzudrehen. Mit dem Fiasko, das daraus entsteht, wird der Markt bei sich frei bildenden Preisen immer noch zehnmal besser fertig als eine Regierung, die auf Preiskontrollen und Rationierungsmaßnahmen setzt.

In Großbritannien ruft die Initiative „Don’t Pay UK“ die Menschen auf, die teuren Energierechnungen nicht zu bezahlen. Ihr Motto: „Was ich nicht zahlen kann, werde ich nicht zahlen“. Auch in Deutschland häuft sich der Unmut. Haben Sie Verständnis dafür?

Verständnis hat man als Ökonom für vieles. Doch es ist besser, das Portemonnaie dadurch zu schonen, dass man weniger kauft. Anders geht es nun einmal nicht, denn es ist ja nicht mehr so viel Gas da.

Diese Menschen fühlen sich wirklich von den hohen Energiepreisen belastet. Der Staat will sie nicht weiter entlasten. Warum sind Sie gegen die Entlastungen?

Ich bin nicht gegen Entlastungen durch Zuschüsse, nur dürfen sie nicht an den Energieverbrauch gekoppelt werden. Den Lenkungseffekt steigender Preise muss man erhalten. Die Zuschüsse dürfen im Übrigen nicht durch Schulden finanziert werden, weil das wiederum inflationär ist. Der Staat muss das Geld also gezielt anderen Menschen wegnehmen. Er muss offen sagen, welche Steuerzahler, Rentner oder Bezieher anderer Sozialleistungen er belasten will. Wegen der Stagflation kann man heute definitiv keine Ressourcen mehr aus dem Nichts schaffen.

Sie sagen, die Politik muss entscheiden, wie eine Umverteilung funktioniert. Dafür haben die Politiker aber oft nicht genug Expertise. Was wäre Ihr Vorschlag? Wo soll der Staat Geld für eine gerechte Entlastungspolitik nehmen?

Das ist ein Werturteil, das die Wissenschaft nicht fällen kann. Dafür ist der demokratische Prozess zuständig.

Braucht Deutschland aber eine Übergewinnsteuer für die Krisengewinner unter den Energiekonzernen?

Die Übergewinnsteuer gehört nicht in die Marktwirtschaft, weil es ein Ad-hoc-Instrument ist, das die Systematik des Steuersystems und das Vertrauen in das Recht zerstört. Wenn man zu sehr eingreift, wandern die Unternehmen ab, und es entsteht ein Wohlstandsverlust bei den breiten Massen, weil gut bezahlte Arbeitsplätze fehlen. Dieser blinde Aktionismus, den die Fans der Übergewinnsteuer vertreten, ist einer Marktwirtschaft nicht zuträglich.

Die Bundesregierung hält einen organisierten Blackout im Winter anders als die britische Regierung nicht für möglich. Die Gasspeicher sind auch wie geplant zu 75 Prozent gefüllt. Alles tipptopp – abgesehen von den Preisen?

Keinesfalls, die Lage ist sehr schlecht. Ein Blackout würde Chaos produzieren. Es ist immer besser, den Preismechanismus laufen und die Energiepreise steigen zu lassen, sodass alle weniger verbrauchen. Jeder kann sich überlegen, ob er Wege findet, auf teure Energie zu verzichten. Und der Staat kann das, wenn er will, mit dem Steuer-Transfersystem kompensieren.

Jedenfalls zeigt die Krise, wie teuer und mühsam der Verzicht ist. Deutschland hat sich schon darauf festgelegt, bis 2045 den Anteil der fossilen Energien auf null zu senken. Es ist eine gefährliche Utopie, bei der man sich nur wundern kann, dass sie so viel Rückhalt in der Bevölkerung hatte. Die Menschen wissen offenbar gar nicht, was ihre Politiker beschlossen haben. Und vermutlich wissen es die Politiker nicht einmal selbst.

Bedauern Sie hier eher den Ausstieg aus der Atomkraft oder auch den Ausstieg aus der Kohle und aus dem Öl?

Nur der Kohleausstieg macht Sinn. Wenn wir unsere Braunkohle nicht mehr abbauen, bleibt der Kohlenstoff auf dem deutschen Territorium und geht nicht in die Luft. Das ist beim Erdöl anders, weil es im Gegensatz zur Braunkohle auf den Weltmärkten angeboten wird. Wenn wir auf Erdöl verzichten, geben wir es für andere Länder frei, die es zu fallenden Preisen gerne kaufen und an unserer Stelle verbrennen, allen voran China. Um das zu verhindern, müssten wir das Öl kaufen und es auf europäischem Territorium einlagern und versiegeln, was aber ein absurder Vorschlag wäre. Wegen der Freigabe der Mengen geht der Klimawandel genauso schnell weiter wie ohne unseren Verzicht. Unsere Verzichtspolitik schädigt das Herzstück der deutschen Industrie, nämlich die Automobilindustrie, stärkt unsere Konkurrenten und reduziert den Lebensstandard der europäischen Bevölkerung, ohne der Umwelt auch nur ein bisschen zu helfen. Die deutsche Industrieproduktion ist schon seit 2018 rückläufig, und zwar nicht erst seit der Corona-Pandemie. Das liegt an der Herzkrankheit, die seit 2018 durch die CO2-Verordnungen der EU für den Automobilsektor ausgelöst wurde.

Was wären an dieser Stelle Ihre konstruktiven Vorschläge für eine bessere Energiepolitik der Bundesregierung?

Es ist sinnlos, bei den am Weltmarkt gehandelten Brennstoffen mit der Verzichtspolitik fortzufahren, wenn die anderen Länder nicht folgen. Der Klimaclub wäre eine Möglichkeit gewesen, doch China und Indien pfeifen darauf. Wir müssen in die Atomkraft gehen. Der Ausstieg aus der Atomkraft war falsch, und jetzt ist Deutschland Geisterfahrer auf der Autobahn: das einzige Land auf der Erde, das noch aus der Atomkraft aussteigt. Alle anderen Länder wie Schweden und Belgien haben sich von ihrem Ausstieg wieder verabschiedet. Wir behaupten, wir hätten die Weisheit gepachtet und alle anderen müssten uns jetzt folgen. Es folgt uns nur keiner. Das sollte doch zu denken geben.

In der Gaskrise die Atomkraftwerke weiterhin abschalten zu wollen, ist zutiefst ideologisch und unbedacht. Die Franzosen haben gerade unter Präsident Emmanuel Macron beschlossen, neun neue Atomkraftwerke zu errichten, und neue Typen werden erforscht. Frankreich wird dann Deutschland in noch größerem Umfang als bislang als Lieferant von Atomstrom zur Verfügung stehen, und es wird uns auch gerne teuren Wasserstoff liefern, der daraus hergestellt werden soll und von der EU-Kommission als „grün“ klassifiziert wird.

Junge Forscher haben kürzlich in einem Gastbeitrag für die Berliner Zeitung Deutschlands Sicherheitsprioritäten neu gefasst. Sie fordern ein staatliches Sondervermögen für den Ausbau der erneuerbaren Energien, wie für die Bundeswehr. Haben sie recht?

Es gibt kein Sondervermögen für die Bundeswehr, es sind Sonderschulden. Diese Schulden als ein Sondervermögen zu bezeichnen ist nur ein semantischer Trick. Jegliche Verschuldung ist inflationär in der heutigen Zeit. Die Zeit der freien Mahlzeit ist vorbei. Wir stecken in der Stagflation. Das haben viele noch nicht begriffen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Liudmila Kotlyarova.

Nachzulesen auf www.berliner-zeitung.de.