Die Welt, 3. Januar 2023, Nr. 2, S. 10.
Es ist nicht ganz einfach, im Dezember einen Termin mit Hans-Werner Sinn zu bekommen. Der emeritierte Hochschullehrer an der Ludwig-Maximilians-Universität München ist dann eingebunden in Vorbereitung und Durchführung der öffentlichen Weihnachtsvorlesung zu aktuellen Themen, die er schon seit 2008 in der großen Aula der LMU hält. Der Ökonom, von 1999 bis 2016 Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, stand WELT aber dann doch Rede und Antwort zu Fragen rund um Inflation, Geldpolitik, Energiekrise – und den Gefahren einer Transfer- und Haftungsunion.
WELT: Herr Sinn, seit der Begriff Peak Inflation die Runde macht, kommt Hoffnung auf: Haben wir das Schlimmste bei der Teuerung hinter uns?
Hans-Werner Sinn: Ja, vermutlich werden die Inflationsraten im Laufe das Jahres 2023 zurückgehen. Die Inflation der gewerblichen Erzeugerpreise hatte ihr Maximum schon im September, und nach vier bis fünf Monaten pflegt sich diese Inflation zu einem Drittel in der Inflation der Konsumentenpreise niederzuschlagen. Der Rückgang liegt erstens am Rückgang der Weltmarktpreise für Öl und Gas. Zweitens hat die Europäische Zentralbank eine Zinswende eingeleitet, die die Aufwertung des Dollar gegenüber dem Euro und damit die Steigerung der Europreise der Dollarimporte gestoppt hat. Drittens wird die Gaspreisbremse statistisch wirken: Wir Deutschen haben uns ja alle verschuldet, um einander einen Teil der Gasrechnung zu zahlen, und das Statistische Bundesamt tut uns den Gefallen und nimmt nur die Nettopreise in den Preisindex auf. Diese Trickserei wird ihre optische Wirkung nicht verfehlen.
Endet damit diese Inflationsphase, oder ist das nur eine Verschnaufpause?
Leider sagen uns die Erfahrungen aus den Siebzigerjahren, dass wir mit weiteren Wellen rechnen müssen. Perspektivisch gibt es Kräfte, die die Inflation neu aufbauen. Der Gasmangel zum nächsten Winter ist ja bereits programmiert. Die Preis-Lohn-Preis-Spirale greift bereits, wie man an Abschlüssen und Forderungen von Seiten der Gewerkschaften sieht. Und die Staaten werden neuen inflationären Schuldendampf in das System einströmen lassen, weil die Teuerung die Schulden relativ zum inflationär aufgeblasenen Sozialprodukt fallen lässt.
Immerhin hat die Europäische Zentralbank inzwischen reagiert. Viele Beobachter waren von der Entschlossenheit überrascht, mit der Christine Lagarde sich plötzlich dem Kampf gegen die Inflation verschrieb. Sehen wir 2023 tatsächlich mehrere weitere Zinserhöhungen oder täuscht die EZB einen Handlungsspielraum vor, den sie in Wahrheit gar nicht hat?
Man muss anerkennen, dass die EZB endlich die Kurve gekriegt hat. Sie hätte schon voriges Jahr handeln müssen, denn schon damals stellte die Inflation der gewerblichen Erzeugerpreise alles in den Schatten, was wir in der Geschichte der Bundesrepublik haben sehen können. Selbst die Ölkrisen der 1970er verblassten dagegen. Die EZB wird weitere Zinserhöhungen durchführen, aber sie wird die langfristigen Zinsen nicht so weit hochtreiben, dass die Staaten mit ihren inflationstreibenden Verschuldungsorgien aufhören.
Woran liegt das?
Die EZB hat mit frisch gedrucktem Geld Staatspapiere für 4,5 Billionen Euro gekauft. Das waren 85 Prozent des Geldüberhangs, der seit der Lehman-Krise im Vergleich zur Wirtschaftsleistung aufgebaut wurde. Um diesen Überhang zu beseitigen, müsste sie die Papiere wieder verkaufen. Dann stiegen die Zinsen sehr stark, und die Kurse würden unter Druck geraten. Die geballte Macht der hoch verschuldeten Mittelmeerländer und der Finanzwirtschaft wird verhindern, dass die Inflation genug eingebremst wird. Wir sind mit der Geldpolitik in Form des massenhaften Erwerbs von Staatspapieren in eine Sackgasse gelangt, aus der es kein Zurück gibt.
Gas- und Strompreisbremsen, Kosten der Energiewende, eine Reaktion auf den Inflation Reduction Act der USA – die Begehrlichkeiten auf EU-Ebene nach einer Schulden- und Transferunion sind groß. Welche Signalwirkung hat vor diesem Hintergrund das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das Deutschlands Beteiligung am CoronaWiederaufbaufonds abgesegnet hat – der ja einmalig bleiben sollte?
Die Signalwirkung ist enorm. Das Bundesverfassungsgericht wird seiner Aufgabe, Hüterin der Verträge und des Grundgesetzes zu sein, nicht gerecht. Das Urteil ist enttäuschend, insbesondere seine Begründung. Das Gericht stellt zwar fest, dass die EU mit ihrer Kreditaufnahme von ursprünglich 750 Milliarden Euro verschiedene Rechtsgrundsätze missachtet hat, führt dann aber aus, sie könne nicht dagegen vorgehen, weil die Vertragsverletzungen „nicht offensichtlich“ seien. Von einem Gericht sollte man doch gerade erwarten, das zutage zu fördern, was nicht offensichtlich ist – und darauf sein Urteil zu begründen. Aus der Sicht der EU, die immer mehr gemeinschaftliche Verschuldung will, war die Selbstamputation durch die Einführung der juristischen Messlatte einer „offensichtlichen Verletzung“ ein Freibrief für den Weg in eine Transfer- und Haftungsunion.
Deutschland setzt mit seiner Energiepolitik den glühenden Kern seiner Volkswirtschaft aufs Spiel – die Industrie. An der hängt aber nicht nur der Wohlstand in Deutschland, sondern auch der EU, zu deren Haushalt das Land den größten Beitrag leistet. Warum findet dieser offensichtliche Zusammenhang nicht den Weg in die öffentliche Debatte?
Von grüner Seite wird ein Narrativ verbreitet, das falscher kaum sein kann und im Kern unehrlich ist. Nämlich, dass wir durch die Nutzung grüner Energie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen würden: Wir helfen dem Klima, und billiger als vorher wird es auch noch. Die Wahrheit ist eine andere: Indem wir teurere
Energien durch das Verbot der billigeren Alternativen erzwingen, werden wir die Industrie dezimieren und massive Wohlstandseinbußen hinnehmen müssen.
Wie belegen Sie das?
Wäre das nicht so, müsste man ja diesen Ersatz nicht erzwingen durch Markteingriffe, also das Aus für die Atomenergie, das Verbot des Verbrennermotors, das Ende von Öl- und Gasheizung. Der Umstand, dass man diese Verbote braucht, beweist, dass die Energiewende, wie wir sie betreiben, teuer wird, sehr teuer. Deutschland braucht aber billigere Energie.
Sie wollen aber nicht zurück zur Kohleverstromung?
Keinesfalls, Kohle ist ja besonders CO2-intensiv. Aber wir müssen die noch laufenden Kernkraftwerke weiter betreiben und die schon abgestellten wieder anfahren, um die akute Energieknappheit zu lindern. Deutschland ist das Land, in dem die Grundlagen für die Kernphysik gelegt worden sind. Dass man sich gerade hier von dieser Technologie verabschiedet, ist ein Unding. Wenn Kernenergie gefährlich wird, dann, weil es andere mit weniger Knowhow betreiben, als wir es haben.
Wenn die Schwächen des angesprochenen Narrativs doch so offen auf der Hand liegen, warum entwickelt das dann nicht die notwendige Wirkmacht, um Eingang in die öffentliche Debatte zu finden?
Die öffentliche Debatte ist kein rationaler Diskurs, sondern eine emotionalisierte, zum Teil irrationale Debatte, die von Träumern beherrscht wird.
Inwieweit wäre es auch Aufgabe der Medien, eine Basis zu schaffen, die die Argumente beider Seiten gleich gewichtet und ihnen Raum gibt?
Viele Medien müssten sachlicher und stärker fachbezogen argumentieren, sie sind mir vielfach zu stark gesinnungsethisch unterwegs, um mit Max Weber zu sprechen. Um moralische Standards festzulegen, muss ich nicht viel wissen. Technisches und ökonomisches Fachwissen ist aber erforderlich, um wirklich funktionsfähige Lösungen zu finden.
Deutschland prescht bei der Wärmewende voran. Ab 2024 sollen keine neuen Gas- oder Ölheizungen mehr in Häuser eingebaut werden, was bei vielen Bestandsobjekten massive Investitionen erfordert. Es gibt aber gar nicht genug Handwerker und monatelange Lieferzeiten bei Wärmepumpen und Baumaterial, die genannten Ziele sind realistisch betrachtet illusorisch. Wagen Sie eine Prognose, wie das weitergeht?
Man wird die Fristen verlängern müssen, bis sich die Engpässe aufgelöst haben. Es geht ja nicht nur um den Gerätetausch. Sie erzeugen mit Wärmepumpen nur sehr niedrige Vorlauftemperaturen, die nur mit Fußbodenheizungen genutzt werden können. Aber um die einzubauen, müssen Sie den Estrich herausreißen, und Sie müssen für den Umbau ausziehen. Die Kosten sind gigantisch und unzumutbar. Der Umbau ist in vielen Fällen, gerade in Altbauten, nicht darstellbar. Die Politik sollte aufhören, den Menschen die technischen Lösungen zu diktieren, sondern durch CO2-Preise Anreize setzen, selbst nach realisierbaren Lösungen zu suchen.
Deutschland liegt EU-weit beim BIP pro Kopf nur noch auf Platz 13, mutet den Eigentümern die Wärmewende mit der oft fälligen Sanierung dennoch zu und begrenzt zugleich die Fördermittel. Hinzu kommen CO2-Abgabe, massiv steigende Energiekosten und mutmaßlich höhere Grundsteuern. Hat die Politik die Folgen für den gesamten Wohnungsmarkt mitgedacht, wenn viele Menschen möglicherweise ihr Wohneigentum abgeben müssen, weil sie das nicht mehr stemmen können?
Trotz des Preisverfalls, den die Auflagen auslösen, werden sich viele Leute entschließen, ihre Häuser an andere zu verkaufen, die die Renovierungskosten zu stemmen in der Lage sind. Der parallel dazu einsetzende Rückgang der Neubautätigkeit wird im Verein mit der erheblichen Zuwanderung der letzten Zeit den Wohnraummangel verschärfen und die Mieten hochtreiben. Insgesamt kommt es zu weiteren Einbußen des Lebensstandards im Vergleich zu anderen Ländern, die realitätsbezogener agieren.
Muss man die Einbußen nicht für die Verlangsamung des Klimawandels in Kauf nehmen?
Die Atomenergie ist CO2-frei und billig, weil die Anlagen schon vorhanden sind. Sie zu verbieten, bringt dem Klima sowieso nichts. Und die anderen Einbußen sind für das Klima auch nicht hilfreich, sofern sie handelbare Brennstoffe wie Öl oder Gas betreffen. Diese Brennstoffe werden von den Förderländern dann halt zu fallenden Preisen an unsere Konkurrenten in China und anderswo erkauft und dort verbrannt. Der Verzicht auf die handelbaren Brennstoffe verschafft uns vielleicht ein besseres moralisches Grundgefühl. Er ist aber untauglich beim Versuch, den Klimawandel zu verlangsamen.
Das Interview führte Michael Höfling.
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