Die Welt, 8. Januar 2025, Nr. 5, S. 12.
Deutschland und Europa erwartet ein turbulentes Jahr. Die Bundestagswahlen im Februar werden für die weitere Entwicklung des Standortes, auch angesichts der großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen, von entscheidender Bedeutung sein.
Eine gewichtige Stimme für Analyse und Beurteilung der Lage im Land ist Hans-Werner Sinn, früherer Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München. WELT bat ihn schriftlich um Einschätzungen zur Lage der Energiewende, den Gefahren einer möglichen neuen Euro-Krise und der Frage, warum Unternehmenslenker so zurückhaltend die Politik kritisieren.
WELT: Herr Professor Sinn, vor einem Jahr haben Sie im Interview mit WELT auf die Frage, warum die Konstruktionsmängel und Fehlannahmen der Energiewende nicht stärker thematisiert werden, gesagt, die öffentliche Diskussion sei nicht in der Lage gewesen, tiefer in die ökonomische Instrumentendebatte einzudringen. Ging es aus Ihrer Sicht im vergangenen Jahr in dieser Frage voran?
HANS-WERNER SINN: Ja, ein bisschen, vor allem, weil der allseits sichtbare Niedergang der Industrie, insbesondere der Automobil- und Chemieindustrie vielen die Augen geöffnet hat. Die großmundigen Versprechungen von der schönen neuen Welt mit einem neuen Wirtschaftswachstum aufgrund des Verbots fossiler Brennstoffe erweisen sich nun ganz offenkundig als das, was sie sind: eine Mischung aus romantischen Narrativen und absurden Vorstellungen über die Mechanismen der Wirtschaft.
Ein Teil der Debatte betrifft auch die sogenannte Wärmewende, die Dekarbonisierung des Gebäudesektors. Im begonnenen Wahlkampf rückt damit auch das sogenannte „Heizungsgesetz“ wieder auf die Agenda. Wagen Sie eine Prognose, wie es in dieser Frage weitergeht?
Das Heizungsgesetz ist ein krankhafter Auswuchs einer zentralplanerischen Denkweise, die im krassen Gegensatz zu der liberalen Ordnung steht, die Deutschlands Erfolge in der Nachkriegszeit erklärt hat. Gut, dass es Parteien gibt, die dieses Gesetz abschaffen wollen.
Sie spielen auf die Union an, die verspricht, es zurückzunehmen. Auf der anderen Seite kündigen erste Städte den Rückbau der Gasnetze an, was allerdings ohne Fernwärmeoption auch ohne Gesetz eine faktische Wärmepumpenpflicht wäre.
Dieser nun zusätzlich ins Auge gefasste Rückbau der Gasnetze ist ein Akt mutwilliger Zerstörung. Abgerissen werden soll eine Infrastruktur, die unter großen Entbehrungen und riesigem Aufwand von früheren Generationen errichtet wurde. Sie bedeutet perspektivisch die Vernichtung von Vermögenswerten im Umfang von hunderten von Milliarden Euro. Auch umweltökonomisch ist das Ganze sehr fragwürdig, denn die Energie, die man aus dem Kohlenwasserstoff Erdgas gewinnt, kommt nur zur Hälfte aus der Verbrennung von Kohlenstoff. Die andere Hälfte entsteht aus der Verbrennung von Wasserstoff, bei der kein CO₂ entsteht.
Was bedeutet das?
Erdgas ist eine sehr gute Brückentechnologie auf dem Weg zur Dekarbonisierung. Anstatt vorhandene Gasleitungen zu zerstören, sollte man lieber gasbetriebene Wärmepumpen empfehlen, die den Gasverbrauch weiter reduzieren helfen. Gaskraftwerke sind im Übrigen als Komplemente und Partner des Wind- und Solarstroms unerlässlich, weil sie deren wetterbedingte Schwankungen bis hin zu Dunkelflauten ausgleichen. Ohne die Hilfe der konventionellen Stromquellen lässt sich der grüne Strom im Netz nun einmal nicht verwerten. Also Hände weg von den Gasleitungen. Die Zerstörung der Atomkraftwerke hat schon genug Schaden angerichtet. Es ist auch schon deshalb nicht sinnvoll, den gesamten Wärmemarkt auf Strom umzustellen, weil Deutschland damit im Kriegsfalle sehr verwundbar wäre. Mir graust es vor der Vorstellung, dass sich das Land in einem Cyberkrieg mit ein paar Mouseclicks einfrieren ließe, weil es nur noch elektrische Energie gibt.
Sie unterstützen die Forderung nach einem „Klima-Club“, einer weltweit nötigen Übereinkunft zur Verringerung der Nachfrage nach fossilen Brennstoffen, um dem Klimawandel wirksam zu begegnen. Ist diese Option durch die geopolitischen Entwicklungen des vergangenen Jahres, unter anderem der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, noch unwahrscheinlicher geworden?
Wenn Europa international handelbare Brennstoffe wie Erdgas oder Öl nicht mehr kauft, ist das nicht einmal ein kleiner Beitrag zur Verringerung des weltweiten CO₂-Ausstoßes, denn die Brennstoffe, die wir freigeben, werden in diesem Fall nur anderswohin geleitet und dort zu fallenden Preisen verkauft. In der Erde bleiben sie nicht. Der heimischen Industrie dreht man den Hahn zu, und die freigesetzten Brennstoffmengen stehen den Konkurrenten in aller Welt verbilligt zur Verfügung. Nur ein Klima-Club, der alle wichtigen Verbraucherländer der Welt umfasst, wäre theoretisch in der Lage, das Unterlaufen der eigenen Umweltpolitik durch andere zu verhindern und die Ressourcenländer zu zwingen, ihre Kohlenstoffe in der Erde zu lassen. Zu diesem Klima-Club müssten neben der EU mindestens die USA, China, Indien und Brasilien gehören. Er war schon immer nur eine Wunschvorstellung. Mit der Wahl von Trump ist er noch weitere Ferne gerückt.
Was heißt das nun für Deutschland?
Statt mittels all der Daumenschrauben, die die Politik ansetzt, die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen auf den Weltmärkten zu verringern, sollte sich Deutschland – oder besser die EU im Ganzen – vorläufig auf Maßnahmen beschränken, die selbst dann einen Beitrag zur Verlangsamung der Erderwärmung leisten, wenn die anderen nicht mitmachen. Dazu gehört der Ersatz der heimischen Braunkohle- durch Atomkraftwerke und vor allem die Sequestrierung von CO₂, etwa in Form einer Verpressung von flüssigem CO₂ in alten Gasfeldern unter dem Meeresboden. Letztlich kann Europa nur dann auf dem Wege unilateraler Aktionen einen Beitrag zur Verringerung des Klimawandels leisten, wenn es den eigenen Kohlenstoff in der Erde belässt oder anderswo gekauften Kohlenstoff dort wieder hineinstopft. Alle anderen Maßnahmen sind ohne den Klima-Club wirkungslos.
Wenigstens kommt Deutschland bei seinen Ausbauzielen für erneuerbare Energien voran. Ihr Anteil an der Stromerzeugung stieg in den ersten neun Monaten auf 56 Prozent. Dem Ziel, bis 2030 80 Prozent des in Deutschland erzeugten Stroms aus erneuerbaren Quellen zu generieren, kommt das Land damit doch planmäßig näher.
Die von Ihnen genannte Zahl ist ziemlich belanglos, wenn man bedenkt, dass vier Fünftel des deutschen Energieverbrauchs gar nichts mit Strom zu tun haben. Tatsächlich liegt der Anteil des Wind- und Solarstroms am Primärenergieverbrauch der Bundesrepublik nach den Angaben der Kraftwerksbetreiber bei etwa sieben Prozent. Der Löwenanteil fällt in Form fossiler Brennstoffe für Heizungen, Prozesswärme und den Transport an. Im Übrigen ist zu bedenken, dass die 56 Prozent die weihnachtlichen Dunkelflauten aussparen und dass sie sich auf eine Strommenge beziehen, die durch das Weglassen des schmutzigen Eigenstroms der Firmen und durch die Deindustrialisierung der vergangenen Jahre verkleinert wurde. Ferner wird darüber hinweggetäuscht, dass ein wachsender Teil des grünen Stroms in der Mittagszeit bei negativen Strompreisen anfällt und im Ausland unter hohen Kosten als virtueller Elektronikschrott entsorgt werden muss. Wir hatten im Jahr 2023 insgesamt 520 Stunden, in denen der Strompreis im Day-ahead-Markt null oder negativ war. Den in dieser Zeit produzierten Grünstrom haben wir stolz zur Leistungsstatistik des grünen Stroms hinzugerechnet, obwohl er keinerlei Wert hatte.
Der scheidende CEO der Deutschen Börse, Theodor Weimer, Markus Krebber von RWE und Ryanair-Chef Michael O’Leary haben sich dieses Jahr bemerkenswert missfällig zur deutschen Wirtschaftspolitik geäußert. Warum sind kritische Töne aus der Wirtschaft wie diese trotz der schlechten Wirtschaftslage so selten?
Sind sie wirklich selten, oder berichten die Medien darüber nicht? Überall schlagen die Unternehmer die Hände über den Köpfen zusammen. Angesichts der horrenden Stromkosten, der Strafzahlungen für die Autoproduktion und der stark rückläufigen Industrieproduktion verbreitet sich Entsetzen in den Chefetagen. Die Warnungen des BDI und der Unternehmensverbände werden in den Medien leider überhört.
Dem argentinischen Präsidenten Javier Milei wird die Missachtung von Umweltschutz und Menschenrechten vorgeworfen. Wer, wie FDP-Chef Lindner, gern ein wenig von seinem Reformeifer auf Deutschland übertragen sähe, bekommt dafür sogar aus der CDU massiven Gegenwind. Nun gestehen Milei aber sogar eher linke Medien wie die „ZEIT“ oder die „Süddeutsche Zeitung“ erste wirtschaftliche Erfolge zu. Ist das ein Zeichen, dass sich das Stimmungsbild für Reformen für Deutschland langsam dreht?
Der Umschwung ist offenkundig. Nachdem das Märchen aufflog, man tue mit der Energiewende zugleich etwas für das Weltklima und den eigenen Geldbeutel, wendet sich das Blatt. Das hat aber so gut wie nichts mit Milei zu tun.
Womit eine neue Bundesregierung 2025 zu allem Überfluss beschäftigt sein könnte, ist ein Wieder-Aufflammen der Euro-Krise durch die politischen Wirren im überschuldeten Frankreich. Für den schlimmsten Fall rechnen Experten mit Eingriffen der Europäischen Zentralbank als letzter Instanz. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Frankreich hatte den Deutschen die Schuldenbremse zugestanden, ohne diese Zusage jemals ernst zu meinen. Da Frankreich Frankreich ist, wie der ehemalige Kommissionspräsident Juncker einmal sagte, durfte es Schulden machen, wie es wollte. Wenn die EZB mit ihren Krediten aus der Druckerpresse nun nicht nur Italien und Griechenland retten muss, sondern auch noch Frankreich, wird es Deutschland schwerfallen, die Schieflage durch Sparsamkeit auszutarieren. Frankreichs hemmungslose Schuldenneigung gefährdet die Stabilität des Euro und der ganzen EU.
Das Interview führte Michael Höfling.
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