Die Zeit, 13. Januar 2022, Nr. 3, S. 10.
Wenn Deutschland sich weiter verschuldet, werden auch die Preise immer höher steigen, warnt der Ökonom Hans-Werner Sinn – und das sei extrem gefährlich. Seine Kollegin Philippa Sigl-Glöckner hält dagegen: Die Regierung müsse gerade jetzt frisches Geld investieren.
DIE ZEIT: Frau Sigl-Glöckner, Herr Sinn, der deutsche Staat hat Schulden in Höhe von rund 70 Prozent der aktuellen Wirtschaftskraft – gut 2,3 Billionen Euro. Können wir uns noch mehr Schulden leisten?
Philippa Sigl-Glöckner: Ja, ohne Probleme. Die Frage sollte doch aber vor allem sein, welche Finanzpolitik jetzt sinnvoll ist. Derzeit ist es gut, wenn der Staat die Wirtschaft stabilisiert, damit keine Arbeitsplätze verloren gehen, die Leute ein Einkommen haben und private Unternehmen investieren, weil sie darauf vertrauen, dass wir gut durch die Krise kommen. Hinzu kommt ein großer Investitionsbedarf in den nächsten Jahren. Auch das spricht für mehr Schulden.
Hans-Werner Sinn: Nach dem Maastrichter Vertrag sind nur Schulden in Höhe von 60 Prozent der Wirtschaftskraft erlaubt, wir haben aber 70 Prozent. Perspektivisch kommt noch die anteilige Corona Verschuldung der EU mit knapp 10 Prozentpunkten hinzu. Nein, wir brauchen nicht noch mehr Schulden, wir müssen Schulden tilgen.
Warum?
Sinn: Wegen unserer Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen. Und wegen der wirtschaftlichen Folgen. Wir haben in den vergangenen Jahren die hohen Schulden quasi aus der Druckerpresse der Notenbank finanziert. Drei Viertel der Staatsanleihen der Euro-Länder, die seit 2008 ausgegeben wurden, hat die Europäische Zentralbank (EZB) aufgekauft. Das kann man eine Weile machen, doch aus dem billigen Schuldengeld entsteht eine Inflationsgefahr.
2021 stiegen die Preise in Deutschland so stark wie zuletzt 1993. Ist das eine Folge der hohen Schulden?
Sinn: Zur einen Hälfte. Die Lieferengpässe kommen hinzu. Die Kombination aus Schuldendampf und Lockdowns erzeugt eine Inflation, die sich gewaschen hat.
Muss die aktuelle Inflation von 5,3 Prozent uns sorgen?
Sinn: Ja, natürlich. Weil sie die realen Löhne, Renten und Sparguthaben um 5,3 Prozent reduziert. Die größten Sorgen machen mir allerdings die gewerblichen Erzeugerpreise, das sind Preise für Rohstoffe und Vorprodukte, die man braucht, um Endprodukte herzustellen. Die sind überall im Euro-Raum in die Höhe geschossen. Spanien, Holland und Italien liegen bei etwa 30 Prozent, Deutschland knapp unter 20 Prozent. So etwas habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Selbst die Ölkrisen, die ich als junger Uni-Assistent vor fast 50 Jahren miterlebt habe, verblassen im Vergleich dazu.
Sigl-Glöckner: Aber gerade die Erzeugerpreise, die Ihnen solche Sorgen bereiten, sind von den Energiepreisen getrieben. Und die steigen unter anderem, weil wir weltweit starkes Wachstum haben und überall Energie benötigt wird. Das hat mit Deutschland wenig zu tun. In Deutschland gibt es momentan keine überhitzte Wirtschaft. Der Arbeitsmarkt läuft nicht so heiß, dass Arbeitnehmer deutlich höhere Löhne als zuvor verlangen könnten. Die Tariflöhne sind 2021 so wenig angestiegen wie noch nie seit Beginn ihrer statistischen Erfassung. Deshalb ist die Gefahr gering, dass Löhne und Preise sich gegenseitig hochschaukeln.
Sinn: Es geht nicht nur um die Energie. Das schlimmere Problem sind die weltweit durch die Pandemie verursachten Lieferengpässe. Die Frachter stauen sich wegen der Quarantänemaßnahmen vor den Häfen Chinas. Mehr deutsche Firmen denn je zuvor in den letzten 30 Jahren wollen nach einer Umfrage des ifo Instituts die Preise erhöhen. Wir haben sehr wohl eine inflationär überhitzte Wirtschaft – und in einer solchen Situation noch mehr Schulden zu machen, ist wirklich völlig falsch. Man müsste Dampf rausnehmen aus dem Kessel. Und das geht durch Schuldentilgung.
Frau Sigl-Glöckner, ist für Sie die Inflation kein Grund zur Sorge?
Sigl-Glöckner: Momentan ist gut erklärbar, woher sie kommt. Das sind, wie gesagt, vor allem die Energiepreise, es hat wenig mit der Staatsverschuldung zu tun. Es ist daher nicht plausibel, warum die Verschuldung momentan deshalb begrenzt werden sollte. Aber natürlich muss man die Inflation beobachten. Wenn es so ist, dass die Inflationserwartungen stark steigen, wenn die Gewerkschaften plötzlich hohe Tarifabschlüsse durchsetzen, dann müssen wir reagieren. Aber in der Situation sind wir derzeit nicht.
Sinn: Das kommt mit Sicherheit. Man muss doch nicht warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist.
Sigl-Glöckner: Der Chef der volkswirtschaftlichen Abteilung der Bundesbank sagt: Die Inflation geht im nächsten Jahr erheblich zurück. Da stimmen Sie nicht zu?
Sinn: Die Inflation kommt in Wellen wie die Pandemie. Die erste Welle könnte dieses Jahr abebben. Aber sie führt jetzt schon dazu, dass die Firmen in großem Umfang Vorprodukte hamstern, was die nächste Welle anschiebt. Auch werden die Gewerkschaften bei den kommenden Lohnrunden die Inflation des letzten Jahres mit einfordern. Wir kriegen eine Lohn-Preis-Spirale.
Sigl-Glöckner: Die Lohn-Preis-Spirale dreht sich nicht. Die Löhne steigen doch gar nicht!
Sinn: Weil die Gewerkschaften die Inflation noch nicht auf dem Schirm hatten! Die Statistiken liegen ja erst jetzt auf dem Tisch.
Sigl-Glöckner: Im Übrigen ist es nicht richtig, dass das Geld, das die Zentralbank schafft, einfach so eine große Inflation hervorruft, wie Sie das beschreiben. Wir haben die unkonventionelle Geldpolitik der EZB doch schon seit 2015. Und hatten seitdem eher wenig Inflation.
Sinn: Auch das ändert sich gerade. Aktuell überhitzt sich die Wirtschaft vor allem, weil Material und Arbeitskräfte knapp sind. Das Handwerk sucht händeringend Leute. 80 Prozent der Firmen des verarbeitenden Gewerbes klagen darüber, dass sie die Produkte nicht bekommen, die sie brauchen. Das hat es noch nie gegeben. Sorgen macht mir, dass die Inflationsbremse der EZB kaputt ist. Wenn die EZB jetzt bremsen wollte, müsste sie eine riesige Geldmenge wieder einziehen, indem sie die mehr als 4 Billionen Euro an Staatspapieren, die sie gekauft hat, wieder abstößt. Das wird sie aus politischen Gründen nicht tun wollen.
Sollte die Notenbank die Zinsen erhöhen, um gegen die Inflation anzugehen?
Sigl-Glöckner: Nein. Lieferprobleme kann man nicht beheben, indem die Zentralbank die Zinsen erhöht. Es dauert, bis sich eine Zinserhöhung auf die Preise auswirkt. Etwa in einem Jahr würden wir den Effekt sehen. Das heißt, die Zentralbank würde die Nachfrage in einem Jahr dämpfen, in dem die Lieferketten nach allen Prognosen wieder funktionieren. Dann hätten wir mit dem Hammer auf eine Wirtschaft gehauen, die sich eigentlich gerade erholt.
Sinn: Das Feuer der Inflation muss man sofort austreten, weil es später sehr schwierig wird, es zu löschen. Die Beschwichtigungspolitik der EZB ist vertragswidrig und verantwortungslos. Die Amerikaner und Briten fangen längst damit an, die Zinsen zu erhöhen. Die EZB sollte folgen.
Und wenn sie es nicht tut?
Sinn: Dann gibt es noch mehr Inflation. Die Wirtschaft überhitzt, weil mehr Güter und Dienstleistungen nachgefragt werden, als angeboten werden können. Deshalb muss die EZB die Nachfrage drosseln, indem sie mit dem Rückverkauf der Staatspapiere beginnt. Aber die Euro-Länder sind stark verschuldet und fürchten, dann höhere Zinsen zahlen zu müssen.
Sigl-Glöckner: Es gibt doch einen anderen Grund, wieso die Zinsen so niedrig sind: Weil die EZB nämlich in den letzten Jahren als Einzige versucht hat, die Wirtschaft Europas in Gang zu bekommen. Sie hat immer wieder deutlich gemacht, dass es ihr lieber wäre, die Staaten würden das übernehmen, indem sie mehr Geld in Umlauf bringen, also Schulden machen. Die Staaten könnten das Geld dann auch sinnvoll ausgeben, zum Beispiel für die Dekarbonisierung. Insofern ist es absolut sinnvoll, wenn auch in Deutschland jetzt der Staat einspringt.
Im Koalitionsvertrag sind Zukunftsinvestitionen vorgesehen in Bildung, Klimawandel und so weiter, die auch durch zusätzliche Schulden finanziert werden sollen. Das müsste dann ja in Ihrem Sinn sein.
Sigl-Glöckner: Ja. Es ist richtig, in der aktuellen Lage Staatsschulden zu machen. Nehmen wir das Beispiel Bildung: Ein Kind, das eine gute Ausbildung erhalten hat, wird mit großer Wahrscheinlichkeit später den eigenen Lebensunterhalt bestreiten können und ordentlich Steuern zahlen, statt auf Sozialleistungen angewiesen zu sein. Das ist gut für den zukünftigen Staatshaushalt. Und rechtfertigt heute Investitionen in Schulen.
Sinn: Ja, das Bildungssystem braucht viel mehr Geld. Aber dafür müssen wir uns nicht verschulden. Wir sollten die zukünftigen Generationen entlasten, statt sie zu belasten.
Sigl-Glöckner: Eine Wirtschaft zu hinterlassen, die schlecht ausgebildete Arbeitskräfte besitzt und nicht auf eine ökologische Transformation ausgerichtet ist: Das wäre eine Versündigung an der nächsten Generation.
Sinn: Ich sehe nicht, was das mit der Verschuldung zu tun hat. Man kann die Bildung auch finanzieren, indem man Steuern erhöht und andere Ausgaben kürzt. Ich glaube, wir haben die Prioritäten nicht richtig gesetzt in diesem Land. Die Investitionen sind zu gering, Konsum und Verschuldung sind zu hoch.
Sigl-Glöckner: Ich verstehe nicht, wieso Staatsschulden für Sie generell schlecht sind.
Sinn: Noch mal: wegen der Inflation und wegen der Belastung zukünftiger Generationen. Wir haben ein demografisches Problem besonderer Größe. Die Babyboomer, die jetzt um die 57 Jahre alt sind, wollen in Kürze aufhören zu arbeiten und verlangen dann eine Rente von Kindern, die sie nicht haben. Die wenigen Menschen, die nachkommen, tragen deshalb ohnehin schon riesige Lasten. Man kann ihnen nicht auch noch Schulden aufbürden.
Sigl-Glöckner: Momentan gibt es negative Renditen auf zehnjährige deutsche Staatsanleihen. Bei zwei Prozent Inflation bekommen wir jedes Mal ungefähr 20 Prozent geschenkt, wenn wir diese ausgeben, bei dreißigjährigen sogar fast die Hälfte. Das ist doch keine Last.
Sinn: Das Geschenk ist die Inflation. Schulden können keine Facharbeiter ersetzen.
Sigl-Glöckner: In einem Land mit über 20 Prozent Niedriglöhnern können noch viele Facharbeiter mehr ausgebildet werden, als wir sie heute haben. Schulden beschaffen in diesem Fall echte Ressourcen. Ebenso würde ein verbessertes Kinderbetreuungsangebot insbesondere Frauen erlauben, mehr Stunden mit Erwerbsarbeit zu verbringen.
Sinn: Ja, klar. Man kann die Arbeitszeit ausweiten und die Arbeitskräfte besser ausbilden. Aber es wird viele Jahre dauern, bis man bei der Ausbildung Ergebnisse sieht.
Der Vertrag von Maastricht legt wie erwähnt die maximale Verschuldung bei 60 Prozent der Wirtschaftsleistung fest für die Euro-Länder. Ist eine solche Obergrenze sinnvoll?
Sinn: Ja. Und zwar schon deshalb, weil die Politik dazu neigt, Lasten stets auf zukünftige Generationen zu verschieben, die heute noch nicht wählen können. Wir brauchen ein Korrektiv.
Sigl-Glöckner: In den vergangenen Jahren ist Deutschland auf Bundesebene immer unter der maximal zulässigen Neuverschuldung geblieben. Und zwar deutlich. Die These, wonach Politiker immer mehr Schulden machen wollen, lässt sich empirisch nicht halten. Auf dieser Basis durch eine feste Schuldengrenze das Budgetrecht des Parlaments einzuschränken ist auch aus demokratischer Perspektive problematisch.
Sinn: Selbst wenn man diese These auf Deutschland bezogen teilen könnte: Im Rest Europas sieht es anders aus. Wir sind als Mitglied der Währungsunion in einer Haftungsgemeinschaft. Und weil diese die Zinsen der hoch verschuldeten Länder gesenkt hat, verschulden sich diese Länder immer mehr, obwohl sie es nicht dürfen. Die durchschnittliche Schuldenquote im Euro-Raum liegt bei etwa 100 Prozent.
Sigl-Glöckner: Einverstanden! Für Europa braucht es Regeln, da wir eine gemeinsame Währung, aber kein europäisches Finanzministerium haben. Die heutigen Regeln sind jedoch Dinosaurier. Eine ökonomische Begründung haben sie nicht. Hier braucht es dringend ein Update.
Das Interview führten Lisa Nienhaus und Mark Schieritz.
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