Münchner Merkur, 22. November 2021, Nr. 270, S. 3, S. 3, Badische Zeitung, 22. November 2021, S. 7.
Viele Jahre war sie kein großes Thema: die Inflation. Nun ist sie zurück auf der Bühne – und die Geister scheiden sich, wie lange der Auftritt dauern wird. Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), spricht von vorübergehenden Schocks, die derzeit die Inflation treiben. In Deutschland nehmen indes die mahnenden Stimmen zu. Auch HansWerner Sinn, bis 2016 Präsident des Münchner Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo), sieht die Entwicklung kritisch und mahnt im Interview mit unserer Zeitung, die Ära des billigen Geldes endlich zu beenden. Heute erscheint sein neues Buch „Die wundersame Geldvermehrung – Staatsverschuldung, Negativzinsen, Inflation“ (Herder-Verlag, 28 Euro).
Herr Sinn, Sie warnen vor langfristig stark steigenden Preisen. Damit positionieren Sie sich gegen viele Ökonomen, die den momentanen Preisschub für vorübergehend halten.
Der weltweite Handel wird sich sicher erholen. Das ist nicht die Frage. Aber es gibt weitere Faktoren, die zu einer höheren Inflation führen können. Schon jetzt steigen die Erzeugerpreise, die die Produzenten den Großhändlern in Rechnung stellen, so stark wie zuletzt vor 50 Jahren. Und es besteht die Gefahr von Selbstverstärkungseffekten. Ich vermute, dass die Gewerkschaften im nächsten Jahr ihre Lohnforderungen erhöhen, was zu einer Lohn-Preis-Spirale führen wird. Auch die Inflationserwartung spielt eine Rolle: Wenn Produzenten und Konsumenten mit künftig steigenden Preisen rechnen, ziehen sie ihre Käufe vor. Dadurch wächst die Nachfrage, was zusätzlichen Preisdruck erzeugt. Ist die Inflation erst mal losgelaufen wie jetzt, ist sie nur schwer zu stoppen.
Warum bereitet Ihnen die Politik der Europäischen Zentralbank besondere Sorgen?
Um die Inflationsrate auf die gewünsch ten zwei Prozent hochzudrücken, hat die EZB große Mengen Staats- und Unternehmensanleihen angekauft. Dadurch hat sich der Bestand an Zentralbankgeld im Euro-Raum von Sommer 2008 bis September 2021 fast versiebenfacht, von 880 Milliarden auf ziemlich genau 6000 Milliarden Euro – viel schneller, als die Wirtschaftsleistung gestiegen ist. Ein großer Teil davon befindet sich nun in Horten, also in den Tresoren von Privatleuten und Firmen sowie als Sichteinlagen der Geschäftsbanken bei der Notenbank. Würden diese Mittel mobilisiert, um Investitionen und Konsum zu finanzieren, würden sie die Inflation enorm anheizen.
Was sollte die Zentralbank Ihrer Meinung nach tun?
Sie müsste den Preisauftrieb bremsen, indem sie die Geldmenge verringert. Dazu wäre es notwendig, dass sie ihre erworbenen Papiere wieder verkauft. ImGegenzug gäben die Käufer der EZB das zusätzliche Geld zurück, das ihnen die Notenbank seit 2008 zur Verfügung stellte. Doch das wird nicht passieren. Aus politischen Gründen wird die EZB die Mittel nicht wieder einsammeln. Die Inflationsbremse ist zerstört. Wir fahren in einem Wagen ohne Bremse.
Warum fällt es der EZB schwer, die gekauften Anleihen zu veräußern und so einen Teil des vielen Geldes zurückzuholen?
Weil sie damit einerseits Wertverluste bei den Geschäftsbanken auslösen würde, die ähnliche Papiere in ihren Büchern haben. Wenn die EZB große Mengen Staats- und Firmenanleihen auf die Märkte bringt, sinken deren Kurse. Damit nimmt auch das Vermögen der Banken ab. Die Geschäftsbanken gerieten in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Das große Angebot von Staatsanleihen auf dem Markt hätte aber noch eine zweite Folge: Die Staaten müssten, wenn sie neue Papiere verkaufen wollen, den Investoren höhere Zinsen bieten. Die damit einhergehende Belastung wollen die chronischen Schuldenländer des Euro-Systems nicht tragen. Also tendiert die EZB erst mal dazu, von solchen Aktionen die Finger und die Inflation weiterlaufen zu lassen.
Als warnendes Beispiel nennen Sie in Ihrem neuen Buch die Hyperinflation der 1920er-Jahre. Ist die Rückkehr eines solchen Szenarios wirklich realistisch?
Es ist nicht realistisch – das schreibe ich ja. Die 1920er-Jahre werden sich so schnell nicht wiederholen. Wenngleich die Wahrscheinlichkeit gering ist, sollte man sich aber doch vor Augen führen, welche riesigen Gefahren und Schäden eine sehr hohe Inflation verursachen kann und weshalb man eine Inflation frühzeitig ausbremsen muss.
Es geht derzeit um einen Preisanstieg von vielleicht fünf Prozent pro Jahr – wie in den 1970er-Jahren. Ist das tatsächlich dramatisch? Der Bundesbank und anderen Zentralbanken ist es damals gelungen, die Inflation wieder einzufangen.
Das stimmt, aber zu welchem Preis? Die US-Notenbank Fed schraubte den Zinssatz auf 18 bis 20 Prozent hoch. Das war eine Gewaltbremsung, die zu einer starken Aufwertung des Dollars führte. Als Folge kam es zur lateinamerikanischen Schuldenkrise. Mexiko, Brasilien, Peru und einige andere Länder Südamerikas
waren nahezu insolvent. Ein guter Autofahrer bremst gefühlvoll und viel früher.
Warum leiden die Leute, die Sie Kleinbürgertum nennen, besonders unter einer Inflation?
Diese Bevölkerungsschichten verfügen nur über wenig Vermögen, das sie typischerweise auf Sparbüchern oder in Lebensversicherungen anlegen. Solche Geldvermögen werden durch die steigenden Preise teilweise entwertet, ihre Kaufkraft sinkt. Wer dagegen über ausreichendes Kapital verfügt, um es in Sachwerte wie Immobilien oder Firmenanteile zu investieren, ist vor der Inflation geschützt.
Das Interview führte Hannes Koch.