Handelsblatt, 19./20./21. November 2021, Nr. 225, S. 58/59.
Es gibt nicht vieles, was Hans-Werner Sinn in Rage bringt. Die Attacken amerikanischer Investoren und Ökonomen auf FDP-Chef Christian Lindner, weil der marktwirtschaftliche Prinzipien verteidigt, treiben ihn allerdings „auf die Palme“.
Im Unterschied zu vielen Beschwichtigern sieht der ehemalige Ifo-Chef eine „massive Inflation längst im Gang“. Die Preissteigerungen werden in Schüben kommen. Ausdrücklich warnt er vor einer Stagflation.
Sinn ist jetzt 73 Jahre. Er schreibt immer noch Bücher, hält Vorlesungen, mischt in der politischen Debatte mit. Seine Fähigkeit, als Ökonom immer auch die politische Dimension mitzudenken, stellte Sinn im Interview mit dem Handelsblatt einmal mehr unter Beweis.
Herr Sinn, Sie begleiten die EU-Integration seit Jahren kritisch. Insbesondere bei der Währungsunion gelten Sie als großer Mahner. Doch der Euro lebt, Italien wächst derzeit kräftiger als der Rest Europas. Fühlen Sie sich manchmal wie ein notorischer Pessimist?
Nein, als der Maastrichter-Vertrag geschlossen wurde, war ich ein glühender Verfechter der Gemeinschaftswährung – übrigens gegen die Stimmen erfahrener, älterer Kollegen. Im Gegensatz zu ihnen glaubte ich an die Macht der Verträge. Inzwischen wurde ich eines Besseren belehrt. Meine Furcht war übrigens nie, dass der Euro zerbricht, sondern dass er das Vehikel für eine Schuldenunion wird, und so ist es ja gekommen.
Wann haben Sie den Glauben an die Macht der Verträge verloren?
Das war im Jahr 2010, als Kanzlerin Angela Merkel die Rettung der Gläubiger der überschuldeten Euro-Staaten gegen den Maastrichter Vertrag akzeptierte. Wer den Bail-out wolle, überschreite eine rote Linie, sagte die Kanzlerin damals. Das war, bevor sie insbesondere von französischer Seite mal eben über die rote Linie geschubst wurde.
Dann dürfte es Sie auch nicht überraschen, dass jetzt die Maastricht-Kriterien, etwa die Staatsverschuldungsgrenze von 60 Prozent, zur Disposition stehen. Ist das ein weiterer unverzeihlicher Regelbruch oder doch nur noch eine Anpassung an die Realität?
Beides: Wenn sie ihre Ziele nicht erreichen, ändern Fatalisten sie lieber, als sich anzustrengen.
Italien hat eine Staatsverschuldung von 160 Prozent der Wirtschaftsleistung, Griechenland liegt jenseits der 200 Prozent. Glauben Sie im Ernst, diese Länder wären jemals in der Lage, wieder auf 60 Prozent zu kommen?
Sie könnten, wenn sie wollten. Schulden machen ist schön, Schulden tilgen lästig. Das Schuldengeld ist der Grund dafür, dass Italiens Konjunktur derzeit anzieht.
Sie wollen doch nicht bestreiten, dass Italiens Premier Mario Draghi auch wichtige Reformen angeht?
Nein, das bestreite ich nicht. Ungeachtet meiner Kritik an der Europäischen Zentralbank (EZB) halte ich Mario Draghi für einen sehr guten italienischen Ökonomen. Er ist der richtige Premier für sein Land. Trotzdem ist der Aufschwung in Italien nicht das Ergebnis seiner Reformen, sondern nur ein konjunkturelles Strohfeuer.
Was soll daran nicht nachhaltig sein, wenn Italien geliehenes Geld für Investitionen verwendet, die das Wachstumspotenzial langfristig erhöhen?
Italien braucht vor allem Reformen, die kein Geld kosten. Das Staats- und Justizsystem und die Verwaltung sind dringend reformbedürftig. Draghi hat hier genau das Richtige getan. Den Arbeitsmarkt und die Renten sollte er sich als Nächstes vorknöpfen. All das schafft Wachstum und kostet kein Geld. Es spart sogar Geld. Der Aufschwung, den wir jetzt sehen, resultiert aber noch nicht daraus, sondern aus bloßen Nachfrageeffekten aufgrund der neuen Finanzmittel im Umfang von 200 Milliarden Euro, die die EU Italien zur Verfügung stellt.
Folgt man Ihrer Lesart, entlastet auch die EZB entgegen ihrem Mandat südeuropäische Staaten. Die Zentralbank sagt, sie müsse das tun, um ihre geldpolitischen Ziele zu erreichen. Das halten Sie für vorgeschoben?
Ja. Die EZB sagt, sie müsse die Zinsunterschiede zwischen den Ländern der Euro-Zone verringern, damit der geldpolitische Transmissionsmechanismus funktioniere. Das Gegenteil ist der Fall: Wir brauchen Spreads, damit die Anreize funktionieren. Wer sich stärker verschuldet, muss seinen Gläubigern höhere Zinsen bieten. Und wegen der höheren Zinsen hören die Schuldner auf, sich immer weiter zu verschulden. Nur so kann der europäische Föderalismus funktionieren.
Wäre der Euro nicht längst Geschichte, hätte die EZB nicht so gehandelt?
Das bezweifle ich. Den Dollar gibt es ja auch noch. Er wurde erst stabil, nachdem im 19. Jahrhundert mehrere US-Bundesstaaten in Konkurs gegangen waren – Folge von Schuldenexzessen, die durch die Schuldenvergemeinschaftung Alexander Hamiltons angeregt worden waren.
Erst das No-Bail-out-System, das danach kam, brachte die Wende. Die EZB hat staatliche Papiere im Volumen von vier Billionen Euro angekauft und die Zentralbankgeldmenge in den vergangenen 13 Krisenjahren bald doppelt so schnell anwachsen lassen wie die Fed. Der Geldüberhang beträgt fast fünf Billionen Euro. Die Gefahr ist, dass dieser Geldüberhang irgendwann Güter sucht, die es nicht gibt. Die Folge wäre eine große Inflation.
Dass es einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Geldmenge und Inflation gibt, bestreitet die Wissenschaft.
Zu Recht. Das liegt daran, dass Banken, Firmen und private Haushalte das neue Geld horten. Eine Inflation gibt es erst aufgrund von Anstoßeffekten auf den Gütermärkten. Dadurch entsteht zwar zunächst nur ein Inflationsbuckel. Doch es ändern sich die Inflationserwartungen. Käufe werden vorgezogen und erzeugen noch mehr Inflation. Die Gewerkschaften bauen die erwartete Inflation in ihre Lohnforderungen ein. Eine Lohn-Preis-Spirale beginnt.
Die EZB und viele andere Ökonomen sagen, die steigenden Preise beruhten auf Sondereffekten wie Lieferkettenproblemen oder Nachholeffekten wegen der Pandemie. Die Inflationsraten würden wieder zurückgehen.
Die Sondereffekte sind die Anstoßeffekte. Weltweit wütet die Pandemie, überall gibt es Lockdowns. Die Frachtschiffe liegen vor den Häfen in Quarantäne. Die Frachtraten für Containerschiffe haben sich seit 2019 verzehnfacht. Die gewerblichen Erzeugerpreise, die auch die Preissteigerungen auf den Zwischenstufen der Produktion erfassen, sind in Deutschland gegenüber dem Vorjahresmonat um über 14 Prozent gestiegen. Der Anstieg ist der höchste seit 50 Jahren, als der erste Ölpreisschock die Welt erschütterte. Eine massive Inflation ist also bereits im Gange.
Sie glauben also, die Inflation bleibt dauerhaft hoch?
Die Inflation verläuft vermutlich in Wellen, ähnlich wie die Pandemie. Und am Horizont warten weitere Anstoßeffekte, vor allem durch die Energiewende. Die Abwendung von der Kernenergie und sämtlichen konventionellen Brennstoffen wird einen lang anhaltenden Kostendruck im Produktionsprozess entfalten, wie wir ihn noch nie erlebt haben. Das ist die Ölkrise im Quadrat.
Jetzt sprechen Sie aber über langfristige Effekte.
Ja, und es gibt weitere – etwa die Alterung der Gesellschaft. Die Babyboomer wollen in Kürze in die Rente gehen, weiter konsumieren, doch nicht mehr produzieren. Auch das erzeugt einen inflationären Nachfrageüberhang. Wir erleben derzeit ein neues Inflationsregime.
Gehören Sie zu jenen, die selbst eine Hyperinflation für denkbar halten?
Denkbar ist vieles. Doch halte ich die konkrete Furcht vor einer Wiederholung von dem, was Deutschland vor hundert Jahren erlebte, heute für nur bedingt wahrscheinlich. Ich glaube eher, dass der Vergleich mit den Siebzigerjahren passender ist.
Sie meinen das Stagflationsszenario?
Genau, das sehen wir bereits. Das ifo hat ausgerechnet, dass die Lieferengpässe im Jahr 2021 immerhin 40 Milliarden Euro an Sozialprodukt gekostet haben. Das ist deutlich mehr als ein Prozentpunkt Wachstumsverlust, ein klares Stagflationsphänomen.
Andererseits: Was geschähe, wenn die EZB jetzt zügig mit der geldpolitischen Straffung begänne? Die Südstaaten bekämen Probleme mit der Refinanzierung ihrer Schulden, die Banken gerieten durch die Kursverluste der Staatspapiere in Schieflage. Kann die EZB diesen Weg überhaupt gehen?
Nur unter Mühen. Wenn sie die Staatspapiere verkauft, um das viele Geld wieder abzusaugen, würden die Kurse abstürzen, und die Banken erlitten Abschreibungsverluste. Das würde erneut eine Finanzkrise auslösen. Der Exit ist sehr schwierig. Es war von Anfang an ein Fehler, mit diesen Ankaufprogrammen überhaupt zu starten. Das sogenannte „Quantitative Easing“ (QE), das in Japan erfunden wurde, ist des Teufels: Anfangs entstehen Scheinrenditen durch Wertzuwächse, bloße Luftblasen. Die Banken verschulden sich daraufhin und schütten das Schuldengeld als Dividenden aus. Wenn die Blasen platzen, bleiben nur noch leere Hüllen übrig.
Das heißt, die schädlichen Nebenwirkungen eines Exits sind inzwischen größer als die Nebenwirkungen der expansiven Geldpolitik selbst?
Ich würde sagen: Das QE hat die Inflationsbremse zerstört.
Ausgerechnet inmitten der Inflationsängste tritt Bundesbank-Chef Weidmann zurück. Auch das dürfte Wasser auf die Mühlen derer sein, die die EZB kritisieren.
Ich bedaure den Rücktritt sehr. Weidmann war ein guter Mann. Er hat sich jahrelang vergebens abgekämpft. Er hatte im EZB-Rat aber nur eine Stimme, genauso wie der maltesische Notenbankpräsident. Kalt lächelnd wurde er jahrelang von den romanischen Ländern übergangen. Das ist ja der Konstruktionsfehler des Euros. Die Regierung Kohl, die damals die Gemeinschaftswährung verhandelte, nahm an, dass die überschuldeten Länder der Euro-Zone genauso an stabilem Geld interessiert sein würden wie Deutschland. Das war so naiv wie mein eigener Glaube an die Macht der Verträge.
Die EZB handelt ähnlich wie die anderen großen Notenbanken. Warum soll für die Euro-Zone nicht das gelten, was auch für andere große Volkswirtschaften gilt?
So ist es nicht. Die Fed kauft eben nicht Papiere der Einzelstaaten, sondern nur des Bundes. In Europa gibt es diesen Bundesstaat aber nicht.
Da die EU-Kommission jetzt auch selbst Schulden aufnimmt, für die alle Mitgliedstaaten gemeinsam haften, könnte die EZB nun aber auch wie die Fed Anleihen des „Bundes“ ankaufen …
... unter Bruch der EU-Verträge. Lesen Sie mal die Kritik des Bundesrechnungshofs dazu, und bedenken Sie: Kalifornien war vor zehn Jahren insolvent, Illinois und Minnesota standen am Rande des Konkurses. Trotzdem hat niemand geholfen. Indem die EZB die Schuldpapiere der Staaten mit frischem Geld kauft, stolpert Europa von einem Schuldenexzess zum nächsten.
Die EZB musste wie die anderen Notenbanken immer wieder auf schwerwiegende Krisen reagieren: Es begann mit der Finanzkrise und endete jetzt mit der Pandemie.
Nein, die EZB hat die Wirtschaftspolitik der Staaten, die sich ja eindeutig auf Schuldenpakte geeinigt hatten, massiv unterlaufen. Sie hat die Zinsen der Schuldenstaaten gedrückt, ihre Schulden monetisiert und eine expansive Fiskalpolitik angeregt. Während der Lockdowns die Nachfrage der Staaten zu stützen ergab keinen Sinn, denn das ging in die Preise.
Gerade die Bundesregierung erfährt von allen Seiten Druck, doch bitte die schwarze Null zu beerdigen. US-Ökonomen wie Joseph Stiglitz warnen vor einem Finanzminister Christian Lindner, weil sie befürchten, dass er eine sparsame Politik verfolgt. Irren all diese Ratgeber?
Am Anfang stand die Kritik der Investmentgesellschaften Blackrock und State Street an der FDP. Es ist schon paradox, dass erzkapitalistische US-Einrichtungen die liberalste und marktwirtschaftlichste Partei Deutschlands fürchten. Auf den zweiten Blick wird aber klar: Die Finanzinvestoren haben an der Marktwirtschaft gar kein Interesse. Sie wollen ungestört im Casino spielen. Die Gewinne werden privatisiert, die Verluste sozialisiert. Und wehe, es kommt ein Lindner daher, der das ändern will.
Das klingt arg nach Verschwörungstheorie ...
Nein, viele Investmentbanker dieser Welt denken so, sie müssen sich nicht erst verschwören. Die zu Beginn der Euro-Krise zunächst zögerliche Kanzlerin war ja für manche Journalisten der Londoner City schon damals die „gefährlichste Frau Europas“. Deutschland stürze Europa nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg abermals ins Unglück, hieß es. Das ist grotesk. Und nun versuchen sie es bereits bei einer Regierung, die noch nicht einmal im Amt ist.
Das scheint Sie in Rage zu bringen.
Nichts bringt mich mehr auf die Palme als die Angriffe der angelsächsischen Finanzwelt auf die Marktwirtschaft. Es geht ums Ganze. Es ist essenziell für eine Marktwirtschaft, dass jemand, der Fehler macht bei seinen Investitionen, auch für die Konsequenzen aufkommt, indem er einen Schuldenschnitt erleidet, anstatt die Rechnung an die Steuerzahler anderer Länder weiterzureichen. Investoren aus aller Welt decken sich hemmungslos mit den Schuldscheinen hochverschuldeter Staaten ein, wohl wissend, dass die Staatengemeinschaft die Risiken übernimmt. Lindner hat das verstanden und will es zu Recht verhindern.
Nun gibt es auch neutrale Ökonomen, die nicht im Verdacht stehen, im Interesse des Großkapitals zu handeln, und schlichtweg sagen, es sei ein gutes Geschäft bei der derzeitigen Zinslage, langfristige Investitionen zu finanzieren. Was entgegnen Sie?
Erstens werden die Zinsen nicht so niedrig bleiben wie heute, und zweitens ist die europäische Volkswirtschaft bereits inflationär überhitzt. Jetzt ist die Zeit, fiskalisch zu bremsen, anstatt noch mehr Gas zu geben.
Das Thema schwarze Null ist auch eines der Konfliktthemen in den Koalitionsverhandlungen. Wie blicken Sie auf die neue Regierung?
Ich hoffe, dass sie die Schuldenbremse nicht umgeht, indem sie die Staatsausgaben in Fonds verlagert. Aber grundsätzlich bin ich gelassen. Sehen Sie, der SPD-Kanzler Gerhard Schröder hat marktwirtschaftliche Reformen gemacht, um der CDU die Stimmen wegzunehmen. Angela Merkel hat eine eher linke Politik betrieben, um der SPD die Stimmen wegzunehmen. Später stellte sie die CDU wegen der Grünen ökologisch auf. Ich kann mir vorstellen, dass auch Robert Habeck über seinen eigenen Schatten springt, wenn sich die Gelegenheit bietet, anderen Parteien Stimmen abzuluchsen.
Und Scholz, hat er Kanzlerformat?
Das hat er. Entscheidend wird aber sein, ob er die Parteilinke in Schach halten kann. Ich freue mich auf jeden Fall, dass die gute alte SPD noch mal eine Chance hat, wieder hochzukommen.
In der schwierigen Coronalage haben sich Scholz und die neuen Koalitionäre allerdings ziemlich zurückgehalten.
Ja, im Wahlkampf regierte wegen der impfunwilligen Wähler die Unvernunft. Wie es besser geht, zeigen Italien und Frankreich. „Dracron“ greift dort durch.
Ist das ein Plädoyer für die Impfpflicht?
Ja, die Gegner hantieren mit einem falschen Freiheitsbegriff. Die Freiheit findet dort ihre Grenzen, wo das Leben anderer Menschen bedroht wird. Die nicht Geimpften müssen akzeptieren, dass auch für sie die Verkehrsregeln einer zivilisierten Gesellschaft gelten, auch wenn sie es nicht wollen. Hier kann Deutschland von Italien und Frankreich lernen.
Herr Sinn, vielen Dank für das Interview.
Das Interview führte Jens Münchrath.
Nachzulesen auf www.handelsblatt.com.