Die Weltwoche, 2. Dezember 2021, Nr. 48, S. 46/47.
Mehr als zwei Dutzend wissenschaftliche Bücher, erschienen in neun Sprachen, verständlich für ein breites Publikum, zudem 140 wissenschaftliche Publikationen, zahlreiche Zeitungsartikel und viele fesselnde Videos – der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn zählt zu den bekanntesten Wirtschaftswissenschaftlern und Autoren Europas. Er hat als Leiter des ifo Instituts und Professor an der Universität München das internationale CESifo-Forschernetzwerk und das Institut CES aufgebaut und geführt. Seit seiner Emeritierung 2016 ist er ständiger Gastprofessor an der Universität Luzern. Soeben ist sein jüngstes Buch, «Die wundersame Geldvermehrung: Staatsverschuldung, Negativzinsen, Inflation» erschienen. Wir treffen Sinn zum Gespräch bei einem Besuch in Zürich.
Herr Sinn, Sie üben seit langem scharfe Kritik an der Geldpolitik vor allem der Europäischen Zentralbank, der EZB. Aber diese hat Europa doch mehrfach aus Krisen gerettet.
Man muss das Gute tun, darf es aber nicht übertreiben. Mass und Mitte müssen auch hier gewahrt bleiben. Geld lässt sich zwar beliebig drucken, aber die ökonomischen Ressourcen, die wirklich den Lebensstandard ausmachen, lassen sich nicht beliebig vermehren.
Wurde in der Corona-Krise zu viel abgefedert durch Ausgleichsmassnahmen?
Deutschland jedenfalls hat zu viel Geld ausgegeben. Man kann nicht einerseits Produktionsschliessungen anordnen und andererseits den Leuten so viel Geld in die Hand geben zum Einkaufen. Das ist, wie wenn man beim Autofahren gleichzeitig auf die Bremse und auf das Gaspedal tritt. Das überhitzt den Motor.
Was läuft falsch?
Firmen machen keinen Umsatz mehr und erhalten Ersatzgeld vom Staat. Die Staaten verschulden sich massiv, und deren Schuldpapiere werden dann von den Notenbanken mit frisch gedrucktem Geld gekauft. Geld aus der Druckerpresse geht also fast direkt an die Firmen und ihre Mitarbeiter, die in dieser Zeit nicht produzieren.
Immerhin rettet das Existenzen.
Ja, subjektiv haben wir das Gefühl, es sei eigentlich noch alles in Ordnung. Aber die Güter fehlen. Immer mehr Geld jagt immer weniger Güter. Dieses Missverhältnis führt zurzeit zu einer ziemlich heftigen Inflation in Deutschland.
Was heisst heftig?
Die Oktober-Daten für die gewerblichen Erzeugerpreise, die alle Vorstufen der Produktion und nicht nur die Konsum-Endstufen erfassen, liegen um 18,4 Prozent über dem Vorjahr. Das ist die höchste Zunahme seit 1951 und stellt selbst die beiden Ölkrisen der siebziger und achtziger Jahre in den Schatten.
Ist das einfach eine vorübergehende Spitze wegen der Lieferprobleme?
Zum Teil, aber hinzu kommt der enorme Nachfrageimpuls durch Staatsverschuldung und Gelddrucken. Die Lieferengpässe werden sich bis zum nächsten Sommer wohl auflösen, sofern die Epidemie nicht wieder zuschlägt, aber es gibt Verstärkungseffekte, die den heutigen Inflationsschub auch in die nächsten Jahre hineintragen.
Auf welche Weise?
Ein wichtiger Verstärkungseffekt ist die Lohn-Preis-Spirale, die entsteht, wenn die Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen zusätzlich zur diesjährigen Lohnsteigerung einen Zuschlag zum Ausgleichen der Inflation erkämpfen. Diese Lohnkosten verteuern die Produktion in den Firmen, die ihrerseits mit Preissteigerungen reagieren.
Und es gibt weitere Effekte?
Ja, ein weiterer besteht darin, dass selbst eine temporäre Inflation die Erwartungen verändern kann. Die Menschen sehen plötzlich, dass etwas, was ihnen vorher unmöglich erschien, doch möglich und wahrscheinlich wird. Dann reagieren sie mit vorgezogenen Käufen, vor allem bei langlebigen Konsumgütern wie Haushaltseinrichtung oder Autos, auch bei Immobilien, wodurch das Wohnen verteuert wird. Das heizt die Inflation von morgen an.
Eine starke Nachfrage kann doch auch einfach Vorbote einer Belebung sein.
Klar, normalerweise würde ein Nachfrageanstieg einen Aufschwung erzeugen, aber jetzt schon ist die Nachfrage viel zu gross. Die Lieferausfälle kosten die deutsche Wirtschaft gut 1 Prozent des Sozialprodukts. Solche Engpässe haben wir seit ewig nicht mehr gehabt, da muss man schon auf die Ölkrisen zurückgehen, ein halbes Jahrhundert zurück.
Dann herrscht heute also eine Ausnahmesituation?
Ja, und was daraus entsteht, hat einen Namen, der ein besonderes ökonomisches Regime bezeichnet: Jetzt droht Stagflation. Das heisst: Die Überschussnachfrage entlädt sich in Inflation, gleichzeitig stagniert die Wirtschaft.
Was wäre denn jetzt die richtige Politik?
Die richtige Geldpolitik wäre: bremsen. Die Preise dürfen nicht einfach so steigen. Die EZB hat ein klares Mandat, nämlich die Gewährleistung von Preisstabilität. Bei einer Verknappung des Güterangebots würde das heissen, Geld aus dem Markt zu ziehen, Angebot und Nachfrage besser miteinander in Einklang
zu bringen.
Das passiert jetzt aber nicht.
Die EZB sagt, die aktuelle Inflation sei nur eine vorübergehende Erscheinung, Handlungsbedarf bestehe nicht. Meiner Ansicht nach ist das aber bereits eine Verletzung des Maastrichter Vertrags. Man darf eine Inflation nicht laufen lassen, das ist gesetzlich klar befohlen, und es ist auch ökonomisch nicht sinnvoll, diese laufen zu lassen.
Viele Ökonomen fnden aber, Inflation sei ein willkommenes Schmiermittel.
Das Preisniveau in einer Wirtschaft ist eine sehr sensible, unstabile Angelegenheit. Setzt Inflation ein, kann sie über die Selbstverstärkungseffekte rasch ausarten in eine galoppierende Inflation. Die Leute kaufen dann lieber heute als morgen, was die Preisentwicklung anheizt. Umgekehrt verhält es sich bei Deflation, da werden Käufe aufgeschoben. Weil das Preisniveau derart anfällig ist auf Erwartungsänderungen, ist es wichtig, dass man die Preise stabil hält und Gedanken an Inflation gar nicht erst aufkommen lässt.
Ist die jetzige Euro-Konsumentenpreisinflation von 4,1 Prozent zu viel?
Der Maastrichter Vertrag verlangt 0 Prozent. Die EZB-Führung hat Preisstabilität irgendwann uminterpretiert auf 2 Prozent Inflation. Und jetzt argumentiert sie, man dürfe ruhig eine Weile lang überschiessen. Wenn man die Ziele verfehlt, passt man sie halt an.
Man kann einwenden, dass die Zentralbank auch auf die Konjunktur achten und jetzt nicht bremsen sollte.
Im Maastrichter Vertrag steht einzig das Ziel Preisstabilität. Anders als die amerikanische Notenbank Fed, die einen mehrfachen Auftrag hat, darf die EZB keine anderen Erwägungen mitberücksichtigen, weder Arbeitslosigkeit noch sonstige wirtschaftspolitische Ziele.
Das tut sie mit ihren vielen Krisenhilfen aber seit langem.
Ja, wo kein Kläger ist, ist kein Richter. Die Regierungen haben keinen Anreiz, vor dem EuGH zu klagen, weil sie selbst zu den Sündern gehören.
Was passiert, wenn ein Euro-Land wie Italien wegen steigender Zinsen seine Schulden nicht mehr tragen kann?
Italiens Verschuldungssituation hat sich etwas entschärft. Nicht wegen solideren Finanzgebarens, sondern weil die Länder jetzt einen Weg gefunden haben, Staatsschulden zu machen, ohne dass diese ihnen angerechnet werden. Sie verschulden sich neu auf der EUEbene, die in gemeinschaftlicher Haftung Geld aufnimmt und es dann an die Länder verteilt.
Wie sehen Sie die Folgen?
Die Vergemeinschaftung sichert alle Anleger ab, die Staatspapiere von hochverschuldeten Staaten kaufen. Das führt zu künstlich niedrigen Zinsen und zerstört einen Stabilisierungsmechanismus, der für einen föderalen Verbund essenziell wäre. Es gibt keine selbstregulierende Verschuldungsbremse mehr, das wird Schuldenlawinen auslösen.
Aber Staatsschulden kosten bei Nullzinsen doch nichts, hört man immer.
Lange Zeit wurde die Meinung gepredigt, dass man über Staatsverschuldung die nötigen Mittel zum Konsum und für alle möglichen öffentlichen Zwecke beschaffen könne, ohne dass jemand irgendeinen Nachteil habe. Heute wissen wir, dass das nicht stimmt.
Auch wenn die Zinsen null sind?
Klar, die EZB drückt durch ihre Geldschwemmen-Politik die Zinsen auf null, um Verdrängungseffekte zu übertünchen. Aber es gibt dennoch eine Verdrängung, halt nicht bei Investitionen über höhere Zinsen, sondern ganz allgemein bei den Gütern, via steigende Produktpreise. Die gewaltige Staatsnachfrage provoziert auf breiter Front Preissteigerungen, die andere Nachfrager aus dem Gütermarkt drängen.
Wie weit wird Inflation durch die EZB verursacht, und wie weit hat ein Land wie Deutschland es in der Hand, auf nationaler Ebene dagegenzuhalten?
Der Grossteil wird sicher durch die Zentralbank bestimmt, aber die nationale Finanzpolitik ist auch wichtig. Begrenzt man die Staatsverschuldung, heizt das die Staatsnachfrage weniger an, es gibt weniger Verdrängungswirkungen, weniger Inflation, dies verbessert die Wettbewerbsfähigkeit.
Es heisst oft, vor allem der niedrige Euro-Kurs sei gut für Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit. Aber hat das Land seine Exporte nicht fast zu billig weggegeben?
Ein Wechselkurs kann zu hoch sein oder zu niedrig. Ist eine Ware zu teuer, fehlen Kunden, ist sie zu billig, verdient man nichts. Das gilt für die ganze Volkswirtschaft. Je niedriger der Wechselkurs ist, desto weniger Importe kann man für die verkauften Exportgüter kaufen. Ein guter Lebensstandard braucht ein richtiges Austauschverhältnis.
Und wo liegt das?
Ich bin der Ansicht, dass Deutschland ein gewisses Mass an Aufwertung gebrauchen könnte, wenn es nicht inflationär wirkt. Dass man das hinkriegen kann, beweist ja die Schweiz, sie hält den Wechselkurs durch eine geschickte Währungspolitik da, wo man ihn haben will. Die Schweiz hat sich mustergültig entwickelt in den vergangenen vierzehn Jahren seit der Finanzkrise, ihre Industrieproduktion hat um 25 Prozent zugelegt, während Deutschland mit minus 2 Prozent noch lange nicht die Erholung erreicht hat, die man möchte.
Das Interview führte Beat Gygi.
Nachzulesen auf www.weltwoche.ch.