Interview mit Hans-Werner Sinn, Spiegel Online, 10.11.2015.
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Sympathisch, ja, aber nicht besonders weitblickend - so urteilt Ifo-Chef Hans-Werner Sinn über Angela Merkels Flüchtlingspolitik. "Die Willkommenskultur der Kanzlerin hat die Migration beschleunigt."
Ein Interview von Yasmin El-Sharif, Florian Harms und Stefan Kaiser.
SPIEGEL ONLINE: Herr Sinn, in der Flüchtlingskrise sind Sie zuletzt mit Äußerungen aufgefallen, Deutschland müsse seine Grenzen besser schützen und Eigentumsrechte verteidigen. Durch die Flüchtlinge seien außerdem Jobs von Niedrigqualifizierten gefährdet. Was antworten Sie Kritikern, die sagen, Sie würden damit rechten Populisten in die Hände spielen?
Sinn: Mir sind solche Kritiker nicht begegnet. Aber klar, wenn ein Ökonom den Mund aufmacht, klingt das für viele rechtslastig. Es ist es aber nicht. Das Mitgefühl für die Flüchtlinge und die ökonomische Realität schließen sich nicht aus. Wenn ich sage, dass die Migranten mit den gering qualifizierten Einheimischen konkurrieren, ist das ein Faktum, keine wertende Aussage.
SPIEGEL ONLINE: Aber wenn Sie sagen, dass die Grenzen besser kontrolliert werden müssten, ist das eine politische Aussage.
Sinn: Es ist aber auch eine eminent ökonomische Aussage, denn es zählt zu den Aufgaben eines Staates, als Sachwalter des staatlichen Vermögens aufzutreten. Würden wir auf den Schutz von Eigentumsrechten verzichten, hätten wir eine Wildwest-Situation. Viele Leute scheinen zu übersehen, dass es in Form der öffentlichen Infrastruktur, des Schutzes des Sozialstaates und der freien Natur ein Vermögen des deutschen Staates gibt. Der Ökonom spricht von "Club-Gütern". Ohne den Schutz des Club-Eigentums gibt es keine Freiheit und keinen Frieden.
SPIEGEL ONLINE: Heißt das, dass Ihnen der Schutz der deutschen "Club-Güter" wichtiger ist als der Schutz von Leib und Leben der Menschen, die aus Krisengebieten kommen?
Sinn: Nein, warum unterstellen Sie mir das? Ich würde ja auch jemanden, der verfolgt ist, in mein Haus aufnehmen, wenn das erforderlich wäre. Der Unterschied ist aber: Da kontrolliere ich es selbst.
SPIEGEL ONLINE: Deutschland versucht ebenfalls zu kontrollieren, wen es aufnehmen möchte.
Sinn: Das klappt aber nicht mehr. Wir hatten allein im September neben rund 160.000 registrierten Flüchtlingen vermutlich 110.000 nicht registrierte Flüchtlinge. Das zeigt: Wir haben wenig Kontrolle darüber, wer zu uns kommt.
SPIEGEL ONLINE: Deutschland hilft Schutzbedürftigen und heißt sie willkommen. Das hat Kanzlerin Merkel mit ihrem Satz "Wir schaffen das" signalisiert.
Sinn: Die ostentative Willkommenskultur der Kanzlerin hat die Migration beschleunigt. Aber es war ja nicht nur sie: Es war schon die Verwaltungsentscheidung der Bundesanstalt für Migration und Flüchtlinge, die am 21. August beschlossen hat, dass Syrer pauschal als Bürgerkriegsflüchtlinge anerkannt werden. Die Organisation Pro Asyl hat das sogleich in die Lager übermittelt. Das hat dazu geführt, dass sich noch viel mehr Menschen in Bewegung gesetzt haben. Immer mehr Syrer verließen die türkischen Uno-Lager und machten sich auf den Weg nach Deutschland. Und auf diesem Weg öffneten sich im Sommer auch noch mehrere staatliche Grenzen, die vorher für sie geschlossen waren.
SPIEGEL ONLINE: Wie hätte Merkel denn in Ihren Augen reagieren müssen?
Sinn: Sie hätte sich bedeckter halten müssen. Ich bin kein Politiker, aber sie hätte deutlich machen müssen, dass es in Deutschland zwar ein Asylrecht gibt, aber dass es ein restriktives Recht ist. Es berechtigt nicht zur unkontrollierten Massenimmigration. Das Asylrecht ist ein Individualrecht, kein Recht für ganze Volksgruppen.
SPIEGEL ONLINE: Das klingt schlüssig für jemanden, der in einem Land mit Freiheitsrechten, Demokratie und großem Wohlstand lebt. Kommt man aber aus einem Kriegsgebiet, zum Beispiel Syrien, und will in ein sicheres Land flüchten, um das eigene und das Leben seiner Kinder zu retten, dann verschiebt sich die Perspektive.
Sinn: Richtig, deshalb nehmen wir diese Menschen ja auch auf.
SPIEGEL ONLINE: Also hat Frau Merkel doch Recht gehabt.
Sinn: Das ist eine Frage der Kommunikation. Das Gute zu tun ist das eine, es über die Fernsehkanäle in die Welt zu verbreiten das andere.
SPIEGEL ONLINE: Mal abgesehen vom politisch-ökonomischen Urteil, finden Sie es eigentlich sympathisch, was Merkel gemacht hat?
Sinn: Sympathisch sicher, aber leider nicht besonders weitblickend. Ich erwarte von einem Politiker, dass er seine Tätigkeit von den Konsequenzen her beurteilt. Jetzt sind wir in einer Situation, in der die freundlichen Bilder, die Frau Merkel in die Welt senden wollte, sich in ihr Gegenteil verkehren.
SPIEGEL ONLINE: Wie wäre die Situation denn wieder in den Griff zu bekommen?
Sinn: Als Ökonom denke ich in besten, zweitbesten, drittbesten Lösungen und so weiter. Die beste Lösung liegt bei der Türkei. Dort müssten die Flüchtlinge besser behandelt werden, wie es durch die Genfer Konvention vorgesehen ist. Es ist unerträglich, wenn es stimmt, dass das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen die Essensrationen gekürzt hat, weil das Geld fehlt. Wir sollten die Türkei auch dabei unterstützen, dass dort, wo jetzt Flüchtlingslager stehen, Städte gebaut werden. Die zweitbeste Lösung ist, dass Griechenland die Außengrenze der EU sichert und die Flüchtlinge kontrolliert. Ich glaube aber nicht, dass das funktioniert.
SPIEGEL ONLINE: Warum nicht?
Sinn: Griechenland hat in der Vergangenheit nicht damit geglänzt, dass es über ein funktionierendes Staatswesen verfügt und Vereinbarungen einhält.
SPIEGEL ONLINE: Wenn Griechenland bei Ihrem Plan nicht mitspielt: Was bleibt dann?
Sinn: Die drittbeste Lösung ist, dass wir das Schengen-Abkommen ernstnehmen und die Schengen-Grenze kontrollieren.
SPIEGEL ONLINE: So wie Viktor Orban das mit seiner Abschottungspolitik in Ungarn tut - mit Zäunen und massivem Polizeieinsatz?
Sinn: Dass die Ungarn den Schengen-Vertrag einhalten und die Grenzen kontrollieren, können wir ihnen nicht vorwerfen. Ungarn hat, soweit heute bekannt, in diesem Jahr relativ zu seiner Bevölkerung fünfmal so viele Asylbewerber aufgenommen wie Deutschland. Das sollte man anerkennen. Slowenien erfüllt derzeit nicht seine Verpflichtung, die Schengen-Grenze zu kontrollieren. Das kann nicht toleriert werden. Die slowenisch-kroatische Grenze müsste gesichert werden, und die Asylsuchenden müssten dort registriert werden. Das ist für mich die drittbeste Lösung. Wir könnten Slowenien und Ungarn eine Quotenregelung im Kleinen anbieten.
SPIEGEL ONLINE: Und wenn das auch nicht funktioniert?
Sinn: Dann erst müssten wir als viertbeste Lösung zu einer Situation zurückkehren, wie wir sie in Deutschland vor 30 Jahren hatten: wieder umfassende Grenzkontrollen einführen.
SPIEGEL ONLINE: Sie meinen, Deutschland schließt seine Außengrenzen und jeder muss an der Grenze wieder seinen Ausweis vorzeigen?
Sinn: Ja, das ist eine unschöne Sache und wäre eben nur die viertbeste Lösung mit vielen Nachteilen. Ich bin aber zuversichtlich, dass es reicht, sie ernsthaft zu erwägen, um mit Slowenien zu einer Übereinkunft zu kommen. Wir haben eine bessere Welt, wenn die Schengen-Grenzen kontrolliert werden, als wenn wir die Kontrolle bei uns durchführen müssen.
SPIEGEL ONLINE: Was geschähe denn mit den Menschen, die nach Ihrem Plan an der slowenischen oder an der deutschen Grenze abgewiesen würden?
Sinn: Von Abweisung habe ich bislang nicht geredet. Wie viele man abweisen würde, ist ein ganz anderes Thema. Das muss nach Recht und Gesetz entschieden werden, denn natürlich sollte sich Deutschland seiner humanitären Aufgabe nicht entziehen und helfen, soweit es in seiner Macht steht. Aber wenn die Einreise kontrolliert und zum Teil auch verwehrt würde, weil nach der Genfer Flüchtlingskonvention kein Schutzanspruch besteht, würden viele gar nicht erst kommen.
SPIEGEL ONLINE: Dann haben wir ein komplett verändertes Europa, das nichts mehr zu tun hat mit dem Europa der offenen Grenzen, das wir über Jahrzehnte mühsam geschaffen haben. Ein abgeschotteter Kontinent. Keine schöne Vorstellung.
Sinn: Mag sein. Aber die Vorstellung, dass Europa gar keine Außengrenzen braucht, halte ich für naiv und utopisch. Sind Sie schon mal in die USA eingereist? Wenn die gesellschaftliche Stabilität in Europa aus den Fugen gerät, hilft das auch niemandem. Meine Hoffnung ist, dass mit den Nachbarländern verhandelt werden kann, sobald Deutschland sich etwas entschiedener positioniert hat, so wie Horst Seehofer oder Thomas de Maizière das fordern.
SPIEGEL ONLINE: ...die Flüchtlinge vor allem als Problem zu betrachten scheinen. Warum sehen eigentlich so wenige Politiker und Ökonomen die Chancen, die die Zuwanderung junger Menschen in eine alternde Gesellschaft bietet?
Sinn: Ja, die Altersstruktur dieser Menschen ist tatsächlich genau richtig. Viele von ihnen sind Anfang oder Mitte 20. Und wir brauchen natürlich Immigration in Deutschland, um mit der demographischen Krise fertig zu werden. Die Generation der Babyboomer ist jetzt um die 50 Jahre alt. In 15 Jahren will sie von Kindern, die sie gar nicht hat, eine auskömmliche Rente haben. Die wird sie nicht bekommen. Wir brauchen also dringend Zuwanderung. Aber, und das ist der entscheidende Punkt: Wir brauchen Zuwanderer, die wir uns selbst aussuchen, die qualifiziert sind und den Staat mitfinanzieren. Die meisten Flüchtlinge, die derzeit kommen, genügen diesen Kriterien nicht. Sie sind leider gerade keine Facharbeiter.
SPIEGEL ONLINE: In einer Situation, in der die Menschen vor Bomben, Folter und Verfolgung fliehen, funktioniert das mit dem Aussuchen nun mal nicht.
Sinn: Stimmt, deswegen sollte man das humanitäre Thema nicht mit dem wirtschaftlichen vermengen. Wir müssen Menschen, die verfolgt werden, aus humanitären Gründen aufnehmen und dürfen nicht fragen, was sie uns kosten. Aber bei denen, die nach unseren Gesetzen kein Bleiberecht haben, sollten wir uns genau überlegen, wen wir hier aus ökonomischen Gründen haben wollen.
SPIEGEL ONLINE: Deutschland braucht also ein echtes Zuwanderungsrecht?
Sinn: Ja, die SPD hat das lange gefordert. Nach kanadischem Muster.
SPIEGEL ONLINE: Die meisten Flüchtlinge stammen derzeit aber nun mal aus Krisengebieten, müssen also auch nach Ihrer Interpretation aufgenommen werden. Viele von ihnen sind jung. Sie könnten doch gut in Deutschland ausgebildet werden und unseren Arbeitsmarkt bereichern.
Sinn: Sicher. Man muss diejenigen, die da sind, in den Arbeitsmarkt integrieren und viele davon auch erst mal gut ausbilden. Und zwar selbst dann, wenn sie später zurückgeschickt werden. Es darf keinerlei Beschäftigungsverbot geben.
SPIEGEL ONLINE: Das gibt es aber bisher noch. Asylbewerber dürfen in den ersten drei Monaten in Deutschland nicht arbeiten.
Sinn: Dieses Beschäftigungsverbot ist falsch. Wenn die jungen Männer monatelang in den Lagern aufeinander hocken und nicht arbeiten dürfen, drehen sie durch. Das kann doch gar nicht gut gehen. Die einzige Chance, die wir haben, ist es, diese Leute schnell in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
SPIEGEL ONLINE: Wie genau könnte das aussehen?
Sinn: Die deutsche Wirtschaft boomt. Es gibt also Möglichkeiten, die Menschen in Jobs zu bringen. Nur eines ist klar: Wenn viele Geringqualifizierte auf den Arbeitsmarkt drängen, wird das die Löhne am unteren Rande drücken.
SPIEGEL ONLINE: Nicht wenn der Mindestlohn gilt.
Sinn: Richtig. Doch wird es mit dem Mindestlohn nicht genug Jobs geben. Wenn in einer Marktwirtschaft das Angebot von Arbeitskräften steigt, dann wird dieses zusätzliche Angebot nur dann durch eine höhere Nachfrage aufgesogen, wenn der Preis fällt - in diesem Fall der Lohn. Das sind leider die Gesetze der Ökonomie, die kann man nicht durch Wunschdenken überwinden. Das wäre zu schön.
SPIEGEL ONLINE: Das heißt, der Mindestlohn müsste gesenkt oder gar abgeschafft werden?
Sinn: Ja. Wenn es nach mir ginge, würde der Mindestlohn für alle durch Lohnzuschüsse ersetzt. Als Kompromiss könnte man ihn senken oder für eine gewisse Zeitspanne nach dem Eintritt in den Arbeitsmarkt aussetzen, damit die Politiker, die ihn gerade erst eingeführt haben, ihr Gesicht wahren können.
SPIEGEL ONLINE: Da freuen sich die Unternehmen, dass sie massenhaft Billiglöhner einstellen können und der Staat bezahlt.
Sinn: Mindestlöhne zwingen die Unternehmen, Sozialpolitik zu machen, und sie stellen einen gravierenden Markteingriff dar. Paradoxerweise sind sie auch für den Staat besonders teuer, weil sie bedeuten, dass Arbeitslose zu hundert Prozent von der Allgemeinheit finanziert werden müssen. Da ist es besser, Niedriglöhne zu bezuschussen und Arbeitsplätze zu haben. Mindestlöhne verhindern die Integration der Migranten und führen zu einer Immigration in die Massenarbeitslosigkeit. Parallelgesellschaften sind die Folge. Nach allem, was wir wissen, sind die meisten Flüchtlinge eben leider sehr schlecht qualifiziert. Es wird nicht genug Unternehmen geben, die ihnen den Mindestlohn zahlen.
SPIEGEL ONLINE: Noch mal: Die meisten Flüchtlinge sind jung. Sie könnten erst mal ausgebildet und qualifiziert werden.
Sinn: Ja, aber das dauert. Eine normale Berufsausbildung dauert in Deutschland drei Jahre. Und die Voraussetzung ist, dass man die lateinische Schrift lesen und schreiben kann. Arabisch oder Aramäisch können die meisten unserer Firmen nicht. Zudem gibt es derzeit nur 40.000 freie Lehrstellen. Bei einer Million Migranten wird das eine große Herausforderung. Viele Migranten würden indes auch in jeder anderen Art von Beschäftigung etwas lernen, zum Beispiel die deutsche Sprache. Das ist wichtig und funktioniert meist besser als irgendwelche Sprachkurse.
SPIEGEL ONLINE: Wegen der Flüchtlinge wird jetzt der Mindestlohn für alle gesenkt: Können Sie sich vorstellen, wie das bei jenen Menschen ankäme, die jetzt schon vom Mindestlohn profitieren?
Sinn: Meine Hoffnung ist, dass die neuen Lohnzuschüsse, die mir vorschweben, sie versöhnen. Aber ja, ich sehe das Problem. Das ist einer der Gründe dafür, dass wir bei der Immigration auf die Bremse treten sollten. Die Alternative, dass die Migranten zwar kommen, aber wegen des Mindestlohns nicht arbeiten können, wäre eine Katastrophe. Manche Politiker mögen träumen, dass wir die Flüchtlinge zum gegenwärtigen Mindestlohn integrieren können. Aus diesem Traum werden sie schmerzlich erwachen.