Pioneer: Die deutsche Wirtschaft läuft untertourig. Warum sind wir das Wachstumsschlusslicht unter den Industrienationen?
Prof. Sinn: Wir Deutschen haben die Energiewende versemmelt, indem wir Wege gesucht und gefunden haben, die die Energie einfach nur teuer machen. Energie ist aber nötig, um die Räder der Industrie
zu bewegen.
Die Strompreise für die Industrie sind vom Allzeithoch nach dem Überfall auf die Ukraine wieder spürbar gesunken. Das reicht nicht?
Diesen Rückgang der Strompreise haben andere auch. Wir brauchen aber nicht nur einen günstigen, sondern auch einen verlässlichen Strom. Den haben wir derzeit nicht. Der Bundesrechnungshof hat am 7. März festgestellt, dass die Bundesregierung einen Kurs verfolgt, der bezüglich der Versorgungssicherheit wirklichkeitsfremd sei, so wörtlich.
Deswegen werden jetzt 20 neue Gaskraftwerke gebaut.
Wir haben einen Weg gewählt, der mit Doppelstrukturen einhergeht. Die Regierung kann im Grunde kein einziges Kraftwerk abstellen, ohne die Versorgungssicherheit zu gefährden. Diese Anlagen und ihre Belegschaften müssen Gewehr bei Fuß stehen, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint. Das macht den deutschen Weg sehr, sehr teuer.
Die Regierung hat dennoch die Kernkraftwerke abgeschaltet. Richtig oder falsch?
Das ist eine völlig sinnlose Politik gewesen. Überall in der Welt gibt es ein Revival der Kraftwerke. Die Franzosen bauen viele neue. Die Internetgiganten stecken ihr Geld in die Erforschung und den Bau dieser neuen Reaktortypen. Und Deutschland macht die alten kaputt. Das ist kaum nachvollziehbar.
Wirtschaftsminister Robert Habeck blickt anders auf die Welt. Ursache unseres geringen Wachstums, sagt er, sei eine zu schwache Investitionstätigkeit des Staates. Also: Schuldenbremse weg und mehr staatliche Investitionen initiieren? Was halten Sie davon?
Das ist ökonomischer Unsinn. Man glaubt, dass man ökonomische Ressourcen aus dem Nichts zaubern kann. Wenn der Staat mehr investiert, dann entzieht er die Mittel dem privaten Sektor, belastet also den Kapitalmarkt. Das führt zu höheren Zinsen. Wenn man wirklich will, dass Deutschland mehr investiert, muss man die Standortbedingungen so verändern, dass die Firmen freiwillig investieren.
Die deutsche Klimapolitik versucht mit einer Vielzahl von Maßnahmen, die Nachfrage nach fossilen Energien zu senken. Geht diese Strategie auf?
Die Ölscheichs haben die letzten 40 Jahre nach einem linearen, leicht ansteigenden Pfad produziert und haben sich nicht beirren lassen von unilateralen Nachfrageeinschränkungen in Teilen der Welt. Alles, was aus der Erde rauskommt, wurde und wird weiterhin verbrannt. Wenn man verhindern will, dass mehr CO₂ in die Luft kommt, muss man weniger rausholen aus der Erde. Der ganze Rest ist müßig.
Die Schuldenbremse ist im Grundgesetz fest verankert. Wie sollen wir Mehrausgaben, wie die von Verteidigungsminister Boris Pistorius geforderten Milliarden für die Ukraine, finanzieren?
Wir müssen Steuern erheben, um die Rüstung zu bezahlen, oder wir müssen die Sozialausgaben kürzen. Also der liebe Gott hilft uns hier nicht mit. Man muss sich endlich darüber klar werden, dass wir eine Ressourcenbeschränkung haben. Die Mittel sind nur einmal da.
Also empfehlen Sie Steuererhöhungen?
Nein, der Staat bekommt schon so viele Steuern. Wir haben den Sozialstaat sehr stark entwickelt. Da ist so viel, was falsch läuft. Denken Sie an das Bürgergeld.
Was läuft genau da falsch?
Das Bürgergeld kostet wahnsinnig viel Geld und etabliert den Staat als Konkurrent auf dem Arbeitsmarkt. Der Staat muss helfen, dass Menschen in die Wirtschaft kommen und nicht, dass sie Geld bekommen, ohne zu arbeiten.
Wir leben in der sozialen Marktwirtschaft. Was für einen Sozialstaat brauchen wir?
Man muss einen Sozialstaat haben, wo der Staat die Menschen unterstützt, die nicht genug verdienen, um davon auskömmlich leben zu können. Aber doch nicht unter der Bedingung, dass sie selber aufhören zu arbeiten. Sondern unter der Bedingung, dass sie selbst das Mögliche tun und ein Basiseinkommen selber verdienen. Jeder, der arbeiten will, muss arbeiten können und dann genug zum Leben haben. Das geht aber nur mit einer aktivierenden Sozialpolitik, wo die Sozialleistungen nicht mehr den Charakter eines Lohns für das Nichtstun haben.
Die Geldentwertung bekümmert uns noch immer. Ist die Inflation wirklich auf dem Rückmarsch?
Ja, auf dem Rückmarsch ist sie. Wir hatten diesen starken Schub durch die massive Staatsverschuldung und gleichzeitig haben wir die Lockdowns gehabt, den Zusammenbruch der Lieferketten. Angebotsverknappung und staatliche Nachfragepolitik durch Verschuldung haben diese Inflation hervorgerufen. Das ist jetzt erstmal vorbei.
Also geben Sie Entwarnung?
Die Raten sind immer noch ziemlich hoch. Wir liegen bei 2,4 Prozent in der Eurozone und in Amerika sind wir bei 3,4 Prozent. Aber man muss sehen, dass die Amerikaner die Rate anders berechnen. Wenn man die amerikanische Methode für Europa anwendet, kommt auch Europa auf 3,4 Prozent statt die heutigen 2,4 Prozent.
Das Interview führte Gabor Steingart.
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