„Politiker singen in Echokammern“

Tichys Einblick, 17. August 2024, Nr. 9/2024, S. 28-31.

Professor Hans-Werner Sinn gilt als einer der führenden Köpfe der deutschen Volkswirtschaftslehre. Empirisch fundiert kritisiert er oft das kopflose Handeln der Politik. Er warnt vor den anstehenden Verteilungskonflikten und fordert ein Ende der dirigistischen Politik der Ampel und auf EU-Ebene.

Tichys Einblick: Wenn Sie der Ampel eine Schulnote für ihre Wirtschaftspolitik geben müssten, welche Note von 1 bis 6 würden Sie vergeben?

Hans-Werner Sinn: Ich möchte mich da nicht so politisch äußern. Das Handeln der Bundesrepublik ist zu kritisieren, aber auch das der Europäischen Union. Es spielen viele Faktoren zusammen. Insgesamt bin ich mit der Politik sehr unzufrieden. Die Leistung ist schon zu bemängeln. 

Mangelhaft ist ein hartes Urteil. Die Ampel hat sich bemüht aber es reicht einfach nicht?

Das Problem ist weniger mangelnder Fleiß als eine ideologische Grundausrichtung, die ich sowohl in der europäischen als auch in der deutschen Wirtschaftspolitik sehe: Ein grüner Extremismus, der offenbar in der Mitte der Machtzentren angekommen ist. Der menschengemachte Klimawandel ist ein wichtiges Thema, die Menschheit muss ihr Verhalten ändern. Aber die Maßnahmen, die hier in Deutschland und Europa ergriffen werden, können nicht funktionieren und richten nebenbei den größtmöglichen volkswirtschaftlichen Schaden an.

Ist dieser volkswirtschaftliche Schaden nicht Ziel der Politik? Die Grünen sagen, wir müssen unsere Freiheit einschränken und unseren Wohlstand reduzieren, um zu überleben.

So würde ich es nicht formulieren. Die Menschheit muss materielle Einschränkungen hinnehmen, um den Klimawandel zu begrenzen. Der Versuch, den Klimawandel zu verlangsamen, ist richtig. Aber unilaterale Maßnahmen, wie wir sie hier in Deutschland und in Europa ergreifen, werden wohl kaum erfolgreich sein. Meine grundsätzliche Kritik kann ich am Beispiel des Verbrennerverbotes verdeutlichen. Wenn wir hier ein Verbot von Verbrennungsmotoren, Ölheizungen und so weiter durchsetzen, wollen wir erreichen, dass weniger CO2 ausgestoßen wird. Man kann aber gar nicht durchsetzen, dass handelbare Brennstoffe, also im Wesentlichen Öl, Gas, Steinkohle, nicht einfach in andere Länder außerhalb der EU geliefert und dort verbrannt werden.

Aber Sparen ist doch nicht falsch?

Nein, aber Fakt ist, dass es bislang trotz aller Sparbemühungen bei den fossilen Brennstoffen nicht gelungen ist, die Fördermengen zu reduzieren oder auch nur die Abbautrends zu brechen. Wir sehen das sehr deutlich beim Öl. Der Ölpreis ist in den vergangenen 40 Jahren auf und ab gegangen, er ist in die Höhe geschossen oder in den Keller gefallen. Die Fördermengen aber folgen ganz stur einem linearen, leicht wachsenden Trend ohne sichtbare Ausschläge. Es gibt nur eine Ausnahme: Während der Pandemie waren alle Länder gleichzeitig in der Krise und haben weniger Öl gekauft - da waren die Ölscheichs und die anderen Förderländer gezwungen die Fördermengen zu drosseln, um einen Preisverfall ins Bodenlose zu verhindern. Das zeigt, dass ein Klima-Club theoretisch funktionieren könnte. Umgekehrt ist die Zeit davor aber auch ein Beleg dafür, dass einseitige Nachfragebeschränkungen nichts bringen. Immer wenn irgendwo auf der Welt die Nachfrage nach Öl wegen einer Rezession zurückging, fielen die Preise - und andere Länder kauften diese Ölmengen gerne auf. Das Öl ist also nicht im Boden geblieben. Das ist eine empirische Tatsache. 

Und was ist die Konsequenz?

Wir Europäer müssen wissen, dass jedes Verbot, Öl zu verbrennen, nur Brennstoffe für andere Länder freisetzt und klimapolitisch nichts bringt, es sei denn, wir würden das Öl weiterhin kaufen und irgendwo einlagern und versiegeln. Einige sagen: Wenn wir Europäer mit unseren acht Prozent Anteil am globalen CO2-Ausstoß jetzt aufhören, Öl, Gas oder Kohle zu kaufen, dann habe das nur einen kleinen Effekt auf den CO2-Ausstoß der Menschheit. Das Argument ist irreführend. Tatsächlich ist zumindest beim Öl beweisbar, dass die Zurückhaltung gar keinen Einfluss hat. 

Die deutsche Energiepolitik hat ja einige Besonderheiten. Das Grundprinzip ist, Energie teurer zu machen, um sie zu verknappen und den Verbrauch zu senken. Aber ist der Energiepreis heute nicht einer der wichtigsten Faktoren einer Volkswirtschaft?

Ja und nein. Der wichtigste Preis ist der Preis der menschlichen Arbeitskraft, der Lohn. Auch Boden ist ein wichtiger Produktionsfakor. Lohn und Bodenzins werden jedoch endogen im Inland bereits durch die Marktkräfte bestimmt. Das ist ein Schutz gegen die Zerstörung der Wettbewerbsfähigkeit. Der Preis für gehandelte Brennstoffe wird dabei - außer für die Braunkohle - auf den Weltmärkten festgelegt. Dort haben wir allerdings kaum Einfluss. Das gibt der Energie eine Sonderstellung. Nationale Zusatzbelastungen der Energieverbraucher mindern den Wohlstand der einheimischen Bevölkerung und sind umweltpolitisch sinnlos, wenn keine verbindlichen Vereinbarungen mit den großen Ländern der Erde wie vor allem Indien, China, USA und Brasilien gefunden werden können.

Deutschland hat praktisch kein Wirtschaftswachstum mehr. Andere Länder - auch im Westen - schaffen ein Vielfaches. Woran liegt die Schwäche?

Seit 2018 haben wir so ziemlich das niedrigste Wirtschaftswachstum unter den OECD-Ländern. Nur Japan, das seine besonderen Probleme hat, liegt noch darunter. Aber Japan wächst schon seit 30 Jahren nicht mehr. Was ist also 2018 passiert? Es gab den Dieselskandal, es gab eine moralische Empörung in der Politik über die Mogelei der Autofirmen bei den Abschaltvorrichtungen, und auf der Empörungswelle haben sich dann bestimmte industriepolitische Interessen im EU-Parlament durchgesetzt. 

Was meinen Sie genau?

Die einen wollen es der Autoindustrie zeigen, die anderen wollten einen Markt für ihre Elektroautos schaffen. Wie so oft in der Politik wurde nach außen hin eine moralische Entscheidung kommuniziert, hinter der eine industriepolitische stand. Am Ende wurde eine Reduktion des CO2-Ausstoßes der Fahrzeugflotten um 37,5 Prozent verordnet. Konkret bedeutet das, dass ein Auto 2,2 Liter Dieseläquivalente auf 100 Kilometer verbrauchen darf. Inzwischen sind im Green Deal daraus sogar 1,8 Liter Dieseläquivalente entstanden. Können Sie sich ein Auto vorstellen, das mit 2,2 Liter Dieseläquivalente fährt? Das geht nicht! Das wäre eine billige Seifenkiste, die auch unsere Sicherheitsanforderungen nicht erfüllt. Aber das waren die Vorgaben. Man fragt sich, was sich das EU-Parlament dabei gedacht hat. Wie kann man etwas vorschreiben, was technisch gar nicht möglich ist? Nun, man wollte die Leute zwingen, Elektroautos zu kaufen. Denn die haben angeblich einen CO2-Ausstoß von null. Dass das selbst wieder eine große Mogelei ist, weiß heute jeder, denn der Auspuff eines Elektroautos liegt ja nur etwas weiter weg: im Kohlekraftwerk. In Europa wird der Strom zu erheblichen Teilen immer noch aus Kohle erzeugt. Die Batterien werden oft in China mit Kohlestrom hergestellt. Das Elektroauto ist in Wahrheit auch ein Kohleauto. 

Sie sagen also, dass diese CO2-Begrenzung die Wachstumsdelle in Deutschland ausgelöst hat. Aber andere Länder sind seitdem gewachsen, obwohl sie denselben Regeln unterliegen. 

Die deutsche Autoindustrie ist das Herz unserer Wirtschaft. Die CO2-Regulierung in Kombination mit dem Dieselskandal hat die Autoindustrie dezimiert. Der Absatz ist sichtbar eingebrochen. Erschwerend kommt die sonstige Energiepolitik hinzu. Sie verursacht horrende Kosten: Kohlekraftwerke müssen am Netz gehalten werden, um den schwankenden Strom aus erneuerbaren Energien auszugleichen. Wir bezahlen also den grünen Strom zweimal, zum einen über die grünen Anlagen, zum anderen über die konventionellen Kraftwerke, ohne die sich der flatterhafte grüne Strom gar nicht verwerten lässt. Deutschland hat mit diesen Doppelstrukturen einen besonders teuren Weg gewählt, und das wissen die Firmen und suchen das Weite, besonders in der Chemieindustrie.

Aber die Chemieindustrie hat noch andere Gründe genannt. 

Die chemische Industrie wird durch die Begrenzung der erlaubten Chemikalien ohnehin weiter eingeschränkt. Vorprodukte werden verboten, weil sie angeblich so "giftig" sind. Das ist irreführend. Chemische Stoffe sind meistens von Natur aus giftig, ohne dass das in Deutschland zu Problemen führt, weil man hochkomplexe Verfahren im Einsatz hat, die Gifte zu beherrschen und zu neutralisieren. Jetzt wandert das Geschäft nach China und in andere Schwellenländer ab. Ob dort genauso viel Sorgfalt in die Beherrschung der Gifte investiert wird wie in Deutschland, wage ich zu bezweifeln. Man kann alles Mögliche verbieten, wenn man will, aber dann bleibt keine Industrie mehr in Deutschland übrig, vor allem dann nicht, wenn es sich um komplementäre Industrien handelt und man zentrale Bausteine aus einem komplexen Wirtschaftsgebäude herausschlägt. Die Zauberlehrlinge, die hier am Werke sind, gehören auf die Schulbank.

Mit Verlaub, das ist kein neues Argument. Man bringt es vor, alle zucken mit den Schultern und machen weiter.

Das liegt daran, dass Wirtschaftspolitiker an solchen Sachargumenten nicht sonderlich interessiert sind. Sie wollen die nächste Wahl gewinnen. Sie müssen sich an der Stimmung in der Bevölkerung orientieren, und die wird durch die Rückkoppelung mit den Medien wieder verstärkt. Das Internet fördert stattdessen eine Skandalberichterstattung. Statt sachlicher Informationen wird über Meinungen berichtet, und so erzeugt man bloße Echokammern für die Politik. Es gibt immer weniger Sachinformationen und Sachkenntnis, und die Politiker lernen, in den Echokammern zu singen, weil sie damit die Wähler erreichen. 

Durch Migration ist Deutschland in den vergangenen Jahren um fünf Millionen Menschen gewachsen. Wenn die Wirtschaft gleich bleibt, wird der Kuchen pro Kopf immer kleiner.

So kann man nicht argumentieren, denn die meisten Migranten arbeiten, und ohne sie wäre der Kuchen kleiner. Die eigentliche Frage ist, ob die Migranten so viel zum Sozialprodukt beitragen, wie sie bekommen. Das ist zwar in einer Marktwirtschaft grundsätzlich so, doch nicht, wenn der Staat die Einkommensverteilung beeinflusst. Hoch qualifizierte Migranten verdienen viel und zahlen wegen unseres progressiven Steuersystems mehr Steuern, als sie in Form von Staatsausgaben für Infrastruktur, Verteidigung, Polizei, Soziales, Schulen et cetera zurückbekommen. Die meisten Migranten sind allerdings gering qualifiziert, verdienen und leisten unterdurchschnittlich und zahlen deshalb unterdurchschnittlich Steuern, obwohl sie überdurchschnittlich von den Staatsausgaben profitieren. Die qualifizierten Migranten erzeugen aber auch Wohlstandsgewinne für die Einheimischen, insofern sie mit ihren Sozialbeiträgen die Rentenkassen mitfinanzieren. Die Zusammenhänge sind komplex. Richtig ist jedoch, dass wir Wirtschaftswachstum brauchen. Im Wachstum lösen sich viele Verteilungskonflikte. Es ist sehr schwierig, eine Gesellschaft ohne Wachstum zu befrieden. Ohne Wachstum brechen solche Konflikte auf, mit Wachstum können auch die, die nicht so erfolgreich sind, ein bisschen mitmachen.

Ist dieser Prozess jetzt schon zu beobachten?

Ja, natürlich, wir haben jetzt zum Beispiel die Rentenfrage. Das ist ein riesiger Verteilungskonflikt zwischen Jung und Alt. Die Babyboomer, die jetzt 60 sind, wollen eine Rente von Kindern, die sie nicht haben. Das ist das Hauptproblem. Es kommen zu wenig junge Menschen nach, die qualifiziert ausgebildet wurden und ein Einkommen erwirtschaften können, aus dem Rentenbeiträge finanziert werden. Die wenigen Jungen sollen die vielen Alten ernähren. Die Regierung sagt, die Rente soll im Gleichschritt mit den Löhnen steigen. Das ist kaum möglich, wenn die Zahl der Alten relativ zu der der Jungen ansteigt. 

Wir haben über verschiedene Probleme der deutschen Wirtschaft gesprochen. Wollen wir nicht optimistisch sein? Sehen Sie Korrekturmöglichkeiten? 

Ja. Ich denke, wir sollten uns von dem Unilateralismus in der Klimapolitik verabschieden. Aber da das alles EU-Recht ist, müssen wir das auf EU-Ebene machen. Die EU muss ihre Beschlüsse zum Teil kassieren. Das betrifft das Verbrennerverbot und die verschiedenen dirigistischen Maßnahmen für Sektoren und Wirtschaftszweige. Wenn man Umweltschutz machen will, dann muss man es richtig machen. Das heißt Koordination mit den großen Ländern der Welt und dass man innerhalb Europas einen Preismechanismus nutzt, wenn eine solche Koordination gelingt. Das heißt auch, man braucht einen umfassenden Emissionshandel, der alle Bereiche der Wirtschaft umfasst, aber man braucht definitiv keine einzelwirtschaftlichen Eingriffe und Vorschriften, wie man Häuser isolieren muss, wie man Automotoren bauen muss und so weiter. Wir müssen mit diesem Dirigismus sofort aufhören. Wir wollen alles per Verordnung regeln. Das geht unweigerlich schief. Die Industrie will abwandern und soll dann mit Steuergeldern subventioniert werden, um die früheren Fehler auszugleichen.

Wo sehen Sie das Wirtschaftswachstum in den nächsten zwei, drei Jahren?

Ich bin kein Hellseher, aber auch die beste Regierung, die eine Wahl hervorbringen könnte, wird das Ruder nicht schnell genug herumwerfen können. Änderungen sind möglich, nur brauchen sie einen langen Atem.

Das Interview führte Roland Tichy.

Nachzulesen auf www.tichyseinblick.de.