ZEIT Geschichte, Nr. 3/2018, S. 104-109
Frau Wagenknecht, Herr Sinn: Marx hat sein Lebtag auf die große Krise gewartet. Wann bricht der Kapitalismus denn nun zusammen?
Sahra Wagenknecht:
Marx nahm nicht an, dass die Geschichte nach einem Automatismus abläuft. Für ihn hing alls vom Ausgang sozialer Kämpfe ab. Eine finale Krise, mit der sich der Kapitalismus selbst abschafft, wird es nicht geben. Es wäre auch nicht im Sinne von Marx, das zu erwarten.
Hans-Werner Sinn:
Das sehe ich anders. Ich habe Marx ja nun auch gelesen, und nach meiner Erinnerung gibt es genug Stellen, an denen er behauptet, dass der Kapitalismus - einem quasi naturwissenschafltichen Automatismus folgend - zugrunde gehen wird. Den Grund dafür sieht er in den Gesetzen des Marktes, in der steten Abfolge von Krisen: Nach dem Tief gibt es in der Regel eine Erholung, dann geht es wieder von vorn los. Doch die nächste Krise wird jeweils größer als die vorige, bis das System zusammenbricht. Diese These von Marx können wir nicht im Nachhinein einfach umdeuten, Frau Wagenknecht. Außerdem: So falsch ist die Theorie nicht. Nur werden die Krisen nicht immer schlimmer, und der Zusammenbruch des Kapitalismus ist nicht unausweichlich, ja nicht einmal wahrscheinlich.
Sahra Wagenknecht:
Ist es etwa keine existenzielle Krise, in der sich unsere Wirtschaftsordnung befindet? Schauen Sie auf den Finanzsektor: Das europäische Bankensystem ist marode, und zwar seit Jahren. Dort werden riesige Schulden angehäuft. Die Handelsbilanzen vieler Länder sind dauerhaft im Ungleichgewicht, die soziale Ungleichheit wächst. Potenzial für eine große Krise gibt es reichlich, auch wenn sich der Kapitalismus dadurch nicht von allein auflösen wird. Aber es ist schon interessant, dass Karl Marx, der im 19. Jahrhundert lebte, bessere Instrumente liefert, die Krisen zu analysieren, als die heutige Mainstream-Ökonomie.
Hans-Werner Sinn:
Ich stimme Ihrer Analyse des Finanzsektors zu. Die Banken haben viel zu wenig Eigenkapital, zugleich gewähren wir ihnen das Recht, ohne Privathaftung riskante Geschäfte zu machen. Früher war das anders: Die Banken mussten ihre Geschäfte viel besser durch eigenes Kapital absichern. Ich fürchte auch, dass die europäische Finanzkrise noch lange nicht gelöst ist. Weltweit wird das Finanzsystem infiziert vom Kasinokapitalismus. Aber dagegen könnte man etwas tun - das ist kein Schicksal.
Frau Wagenknecht, Sie haben die Bedeutung der Kämpfe betont, die Veränderung vorantreiben. Wo sind denn heute die Menschen, die Veränderung wollen, oder marxistisch gesprochen: Wo ist das revolutionäre Subjekt?
Sahra Wagenknecht:
Für Marx war alle Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen. Kämpfe kann man gewinnen - oder verlieren. Der Milliardär Warren Buffet hat einmal in Anlehnung an Marx gesagt: "In Amerika herrscht Klassenkampf, und es ist meine Klasse, die gewinnt." In der jüngeren Vergangenheit haben sich die Verhältnisse in den meisten Industrieländern zulasten der Arbeitnehmer verändert und zugunsten derer, die Kapital besitzen.
Warum wehren die Menschen sich nicht?
Wagenknecht:
Der Kapitalismus heute ist ein anderer als im 19. Jahrhundert. Für Beschäftigte in armen Ländern wie Bangladesch gilt das Motto aus dem Kommunistischen Manifest, nach dem die Unterdrückten nichts zu verlieren haben als ihre Ketten, auch heute noch. Aber für die meisten Menschen in den Industrieländern nicht mehr. Sie haben viel zu verlieren: Wohlstand, Sicherheit, Zukunft. Und sie haben schon etwas verloren. Viele sind damit beschäftigt, Abwehrkämpfe zu führen, um ihren Lebensstandard zu erhalten. Hinzu kommt eine politische Ernüchterung, die für die Demokratie gefährlich werden kann: Viele Menschen glauben nicht mehr, dass Politiker wirklich etwas in ihrem Sinne verändern wollen oder können.
Der Kapitalismus mag sich verändert haben - aber Marx doch nicht. Er ist beinahe daran zerbrochen, dass die große Krise nicht heraufziehen wollte. Kann man von seiner 150 Jahre alten Sicht wirklich so viel lernen?
Sahra Wagenknecht:
Marx hat sich geirrt, was die Fähigkeit des Kapitalismus zu Wandlung und Anpassung betrifft. Aber die inneren Widersprüche des Systems hat er genial beschrieben. Und er hat nicht bloß auf den Zusammenbruch gewartet. Er hat viel Zeit seines Lebens investiert, eine Arbeiterpartei auf den Weg zu bringen. Richtig ist: Marx hat gehofft, dass alles viel schneller geht.
Sein Blick auf die Industrialisierung war ambivalent: Er bewunderte ihre Dynamik und geißelte ihre Grausamkeiten. Vom Wohlstand, den sie vielen Menschen brachte, schreibt er kaum etwas. Herr Sinn, was überwiegt für Sie?
Hans-Werner Sinn:
Der Wohlstandsgewinn. In der bäuerlichen Gesellschaft herrschten schreckliche Armut und Unterdrückung. Die Industrie schuf Arbeitsplätze in den Städten. Mit einiger Verzögerung hat sich danach die Gesundheit der Menschen und auch ihr Lebensstandard verbessert.
Sahra Wagenknecht:
Wir dürfen aber nicht vergessen, dass die Industriearbeiter damals in England und anderswo unter elendigen Bedingungen lebten und schufteten, ihre Lebenserwartung war zunächst deutlich gesunken. Langfristig haben Sie jedoch recht: Wir haben heute einen Wohlstand erreicht, den sich im 19. Jahrhundert niemand vorstellen konnte.
Da hat Marx sich also auch geirrt?
Hans-Werner Sinn:
Er stand unter dem Eindruck der Landflucht der Menschen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er meinte, die Löhne würden nicht im Gleichschritt mit dem Wachstum steigen, weil es die industrielle Reservearmee arbeitsloser Landarbeiter gab. Von 1820 bis 1870, zu seinen Lebzeiten, stagnierten die Reallöhne. Aber dann zogen immer weniger Arbeitslose in die Städte, und die Löhne stiegen. Das dynamische Wachstum hat die Produktivität schließlich so stark gehoben und die Arbeitsnachfrage so vergrößert, dass die Arbeiter daran teilhaben konnten. Systeme wie die soziale Marktwirtschaft haben später auch die Verteilung des Sozialprodukts korrigiert, sodass es zum Beispiel in der Bundesrepublik nie ein echtes Potenzial für eine radikale linke Partei gab.
Sahra Wagenknecht:
Das sehe ich anders. Ja, der Kapitalismus ist wandlungsfähig; der Aufbau des Sozialstaaats war eine Reaktion auf die erstarkenden Arbeiterparteien. Aber so, wie Sie es beschreiben, sah es vielleicht in der alten Bundesrepublik aus: Da gab es eine belastbare Arbeitslosenversicherung, eine echte Krankenversicherung und eine sichere Rente. In den vergangenen 20 Jahren haben sich die Verhältnisse gedreht: Die Lohnquote sinkt seit der Jahrtausendwende, der Niedriglohnsektor wächst, und die sozialen Sicherungen wurden abgebaut.
Wa die Wirtschaft heute umtreibt, ist die digitale Revolution. Ist diese Umwälzung vergleichbar mit der Industrialisierung zu den Zeiten von Marx?
Hans-Werner Sinn:
Die Dimension der Digitalisierung ist jedenfalls gigantisch. Erst wurde die menschliche Muskelkraft ersetzt, jetzt auch der Geist, könnte man sagen. Wobei das nicht ganz stimmt: Weder Muskeln noch Intelligenz konnten oder können voll substituiert werden. Neue Technik führt zwar oft zum Abbau von Arbeitsplätzen, aber meist entstehen auch neue. Um das Jahr 1850, also kurz nachdem Marx und Engels ihr Manifest veröffentlichten, waren 85 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt; heute sind es noch zwei Prozent - und wir habne nicht gleichzeitig 83 Prozent Arbeitslosigkeit bekommen. Diese Entwicklung konnte Marx nicht sehen, auch wenn er Dynamik und Wandlungsfähigkeit als Stärke der Marktwirtschaft erkannt hatte.
Aber hat Marx nicht auch geschrieben, dass die Produktivkräfte erst in einem anderen, dem kommunistischen System voll z ur Entfaltung kommen würden?
Hans-Werner Sinn:
Er schrieb, dass die Verteilung dabei gerechter sein würde - die stürmische Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus hat er mehrfach anerkannt. Ich denke, heute wird niemand bestreiten, dass Dynamik, die aus dem Profitinteresse des Unternehmers resultiert, durch andere Formen des Wirtschaftens letztlich nicht erreichbar ist. Auch die Löhne müssen flexibel bleiben; in Zeiten der digitalen Revolution ist es besonders wichtig, das Sozialsystsem von Ersatzleistungen für den Lohn auf Zuschüsse umzustellen, damit die Einkommen trotz niedriger Löhne in manchen Branchen gesichert bleiben und die Jobs nicht der Rationalisierung zum Opfer fallen.
Sahra Wagenknecht:
Ich würde daraus einen anderen Schluss ziehen: Im Zeitalter der Digitalisierung müssen wir neue Regeln für den Markt finden. Sonst haben wir bald vor allem Arbeitsplätze, von denen die Menschen nicht leben können - und die der Staat am Ende subventionieren muss. Das halte ich nicht für sinnvoll.
Hans-Werner Sinn:
Warum denn nicht? Es ist doch besser, wenn der Staat die Arbeit mitbezahlt, als wenn er die Arbeitslosigkeit finanziert. Oder sollen wir den technischen Fortschritt einfach abblocken? Mehr Möglichkeiten gibt es nicht.
Sahra Wagenknecht:
Technischer Fortschritt bedeutet, dass die Gesellschaft insgesamt produktiver wird. Ein Unternehmen, das produktiver wird, kann auch höhere Löhne zahlen. Oder es kann die Leute zu gleichen Löhnen bei weniger Arbeitszeit beschäftigen. Es ist keine Folge der Digitalisierung, sondern Ergebnis einer bestimmten Politik, dass Löhne sinken, während Gewinne steigen.
Hans-Werner Sinn:
Es hängt von der Art des technischen Fortschritts ab und nicht von der Politik. Es geht darum, ob die neuen Computer und Maschinen komplementär zur menschlichen Arbeit sind oder sie ersetzen: Entweder drücken sie die Arbeitslöhne, oder sie erhöhen sie sogar. Das kann aber niemand voraussehen. Deswegen müssen die Löhen flexibel bleiben und muss der Staat etwas zuschießen, wenn die Löhne nicht zum Leben reichen. Nur so kann man die Menschen in Beschäftigung halten und die Einkommensverteilung stabilisieren.
Im Extremfall bedeutet das: In der Zukunft erzeugt ein Riesenrechner mit 3-D-Drucker alle Waren, erwirtschaftet das gesamte Bruttoinlandsprodukt - und der Lohn wird aus der Steuer, die sein Besitzer zahlt, vom Staat verteilt?
Hans-Werner Sinn:
Ja, in diesem unrealistischen Science-Fiction-Szenario müsste der Staat dem Besitzer dieser Wundermaschine per Steuer so viel wegnehmen, wie nötig ist, um allen anderen ein angemessenes Leben zu ermöglichen. Besser noch wäre es, wenn die Bürger Beteiligungsrechte an der Wundermaschine erwürben.
Mit Marx kommen wir bei Supercomputer und Digitalwirtschaft aber endgültig nicht mehr weiter, oder?
Hans-Werner Sinn:
Nein, wahrlich nicht. Dennoch hat Marx Erkenntnisse geliefert, die auch in der Gegenwart nützlich sind. Ich empfehle die Lektüre des dritten Bandes des Kapitals: Dort beschreibt Marx das, was wir heute die Bildung und das Platzen ökonomischer Blasen nennen, sowie den Wiederaufschwung nach der Entwertung des Kapitals. Für mich ist das seine große intellektuelle Leistung: Während die Klassiker der Wirtschaftstheorie vor ihm alles im Gleichgewicht vermutet haben, beschreibt er die langen Wellen, das Auf und Ab der Wirtschaftsentwicklung.
Sahra Wagenknecht:
Ich würde unbedingt auch den ersten und zweiten Band des Kapitals zur Hand nehmen: Da geht es etwa um Ausbeutung; die ist auch in Zeiten der Digitalisierung Realität auf dem Arbeitsmarkt. Es gibt auch heute einen Interessengegensatz zwischen denen, die über großes Kapital verfügen - und von der Arbeit anderer leben können -, und denen, die jeden Tag zur Arbeit gehen müssen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Ausbeutung wollte Marx überwinden.
Aber wie genau? Er schreibt viel über die Revolution, aber wenig zu einer neuen Ordnung.
Hans-Werner Sinn:
Marx konnte nicht abschätzen, welche Möglichkeiten eine Gesellschaft einst haben würde, Krisen abzumildern, damit langfristik stabiles Wachstum entsteht. In seinen Schriften deutet er recht vage ein Zentralverwaltungssystem an, doch das hat in der Realität noch nie funktioniert. Wenn die Wirtschaftsteilnehmer kein Eigeninteresse an ihrem Tun haben, sondern nur Anordnungen einer Zentrale befolgen, muss man im Prinzip neben jeden Arbeiter einen Kommissar stellen, mit der Pistole in der Hand. Das ist der Weg in die Knechtschaft.
Sahra Wagenknecht:
Die Alternative zum Kapitalismus ist nicht die Planwirtschaft, die ist gescheitert. Aber es gibt auch eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus. In der digitalen Ökonomie zeigen sich allerdings auch die Grenzen marktwirtschaftlicher Effizienz: Je größer dort ein Unternehmen wird, desto erfolgreicher ist es. Da gibt es ab einem bestimmten Punkt keinen Wettbewerb mehr.
Hans-Werner Sinn:
Firmen wir Microsoft, Amazon oder Facebook haben eine unheimliche Marktmacht aufgebaut, das stimmt. Es liegt an den Vorteilen ihrer großen Netzwerke. Aber Kraft und Nutzen der Innovationen, die sie geschaffen haben, sind so groß, dass trotz ihres Monopols ein Wohlstandsgewinn für die ganze Welt entstanden ist. Wir kaufen freiwillig die neuen Produkte oder nutzen die neuen Online-Angebote - weil wir uns damit besserstellen.
Digitalisierung und Globalisierung als Wohlstandsmotor, wie seinerzeit die Industrialisierung?
Hans-Werner Sinn:
Die Globalisierung hat jedenfalls die Armut in der Welt deutlich verringert: Der Anteil der Menschen, die von weniger als einem Dollar am Tag leben, ist seit dem Fall des Eisernen Vorhangs dramatisch gesunken. Die Unternehmer oder, bitte sehr, die Kapitalisten tragen ihr Geld rund um den Erdball, vor allem in Niedriglohnländer - um dort zu investieren und etwas zu verdienen. Die Folge ist, dass Arbeitsplätze entstehen und aufgrund des höheren Bedarfs an Arbeitskräften auch die Löhne steigen.
Sahra Wagenknecht:
Es gibt aber auch das Gegenteil: In Afrika hat sich die Armut in vielen Ländern verschärft. Von der Globalisierung profitieren gerade diejenigen, die keine klassischen offenen Marktwirtschaften haben: China, Südkore und andere Länder in Ostasien. Da gibt es keinen freien Kapitalverkehr, der Staat nimmt starken Einfluss auf Kredite und Investitionen. Alle haben ihre Unternehmen so lange protektionisch geschützt, bis sie wettbewerbsfähig waren. Die Profiteure der Globalisierung sind nicht die, die sich bedingungslos geöffnet haben.
Hans-Werner Sinn:
Das ist sehr vereinfacht. Selbst china ist in jüngerer Vergangenheit ziemlich marktwirtschaftlich geworden: Ausländisches Kapital kommt durch Joint Ventures ins Land und mit ihm Innovation und wirtschaftliches Wachstum. Die Tendenz ist deutlich: Es entsteht heute ein Weltarbeitsmarkt, in dem die Wasserstände sich tendenziell angleichen werden. Für die bisher Ausgetrockneten ist das positiv, vor allem in Schwellenländern und in Ländern mit schwacher Wirtschaft. Für andere, wie zum Beispiel die amerikanischen Industriearbeiter, ist es negativ. Aber es verringert sich im Weltmaßstab die Ungleichheit. Gleichzeitig vergrößert sie sich zum Teil innerhalb der einzelnen Länder.
Warum schließen sich die Leidtragenden der Globalisierung heute nicht den Sozialisten an, sondern den Reaktionären? Warum wählen sie die AfD und nicht die Linke? Warum ist Trump Präsident der USA und nicht Bernie Sanders?
Hans-Werner Sinn:
Sozialisten wie Marx und Engels haben Solidarität gefordert und Gemeinsinn, mit allen Unterdrückten der Erde. Die Menschen in den Industrieländern interpretieren das heute etwas anders. Über Solidarität freuen sich viele, sofern sie selbst einen Vorteil davon haben - aber sie üben ungern Solidarität mit den Habenichtsen aus dem Rest der Welt oder stellen sich ihrer Konkurrenz. Vor diesem Dilemma steht auch die Sozialdemokratie, nicht nur in Deutschland: Die hehren Ziele sind das eine; aber die Wähler sehen eben auch die internationale Konkurrenz um den Arbeitsplatz; sie spüren das Gedränge bei den Leistungen des Sozialstaates - deswegen fühlen sie sich bei linken Parteien nicht mehr aufgehoben. Frau Wagenknecht gehört zu denjenigen in ihrer Partei, die diesen Denkfehler zu überwinden versuchen.
Nehmen Sie die Blumen an?
Sahra Wagenknecht:
Ich sehe das ähnlich. Die Menschen haben einen Anspruch darauf, dass der Staat sie vor Dumpingkonkurrenz schützt; also davor, dass Konzerne die Freiheit haben, sich weltweit die billigsten Arbeitskräfte und die niedrigsten Steuern zu suchen. Der Staat muss die Bevölkerung auch vor wachsender Konkurrenz im Niedriglohnsektor schützen. Die konzerngesteuerte Globalisierung nützt in den Industrieländern vor allem den Eliten und teilweise den überdurchschnittlich gut ausgebildeten Arbeitnehmern. Die große Mehrheit ist der Verlierer, insbesondere die wenig Qualifizierten. Ich finde es arrogant, den Ärmeren dann zu predigen, mit wem sie alles teilen sollen.
Was meinen Sie mit "Schutz vor Dumpingkonkurrenz"? Schutz vor Einwanderung?
Sahra Wagenknecht:
Das Asylrecht für politisch Verfolgte muss gelten. Aber Arbeitsmigration ist ein Problem, gerade im Niedriglohnsektor. Da wächst schlicht die Konkurrenz. Migration vergrößert übrigens auch die Not in den Ländern, aus denen die Leute kommen: Denn es sind meist Menschen mit besserer Ausbildung aus der Mittelschicht, die abwandern.
Marx und Engels haben gesagt: "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" Das gilt nicht mehr für alle, egal, woher sie kommen, wohin sie gehen, wo sie arbeiten wollen?
Hans-Werner Sinn:
Es ist eine aberwitzige Vorstellung, dass jeder Mensch der Erde das Recht hat, in jedes beliebige Land der Erde auszuwandern. Die Solidarität, die zwischen Menschen und Staaten ja wünschenswert ist, muss anders interpretiert werden als durch unbegrenzte Freizügigkeit bei der Arbeitskräfte-Migration.
Sahra Wagenknecht:
Doch, natürlich gilt der alte atz noch - im Kampf um bessere Lebensverhältnisse in den jeweiligen Heimatländern. Unsere Pflicht ist es, die Ausplünderung der armen Länder endlich zu beenden. Und wir müssen Flüchtlingen dort helfen, wo sich 90 Prozent von ihnen aufhalten: in den Nachbarländern ihrer Heimat.
Das Gespräch führten Mark Schieritz und Markus Flohr.