Süddeutsche Zeitung, 30. Dezember 2022, Nr. 301, S. 13.
Sie schießen erst einmal ein Foto von ihrem Zusammentreffen, um es auf Twitter zu posten. Doch es sind keine alten Weggefährten, die in der Wirtschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung im 23. Stock kurz vor Weihnachten aufeinandertreffen. Es sind zwei Generationen und zwei ökonomische Welten.
Auf der einen Seite Hans-Werner Sinn, 74, ehemaliger Präsident des ifo Instituts und jahrelang der bekannteste Ökonom der Republik, auch weil er klare Thesen nie scheute. Auf der anderen Seite Jens Südekum, 47, Professor in Düsseldorf, eher sanfter im Stil, dafür einer der meistbeschäftigten Politikberater seiner Zunft. Beide liberal, na klar, es sind Ökonomen. Doch der eine kritisiert die hohe Staatsverschuldung und die EZB, der andere ist da entspannter. Mit zwei so unterschiedlichen Charakteren lässt sich vielleicht dahinterkommen, was es mit den zuletzt schnell steigenden Preisen auf sich hat.
SZ: Herr Sinn, Herr Südekum, müssen wir uns Sorgen um die Inflation machen?
Jens Südekum: Ja, wir müssen uns große Sorgen machen, denn sie ist ein riesiges soziales Problem. Die untersten 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung leiden unter den Preissteigerungen noch mal viel stärker als die Wohlhabenden. Es geht an die Substanz. Dass es deswegen noch keine Aufstände gibt, liegt daran, dass die Regierung einiges getan hat. Es ist gut, dass es die Entlastungspakete gibt, auch wenn insbesondere die wichtige Gaspreisbremse viel zu spät kam.
Hans-Werner Sinn: Die Gaspreisbremse ist ein Taschenspielertrick. Sie ist die Vereinbarung, dass wir alle Schulden aufnehmen, einander damit die Gasrechnung bezahlen und in der Folge nur noch die Nettopreise in der Inflationsstatistik berücksichtigen. Ein Beitrag zur Überwindung der Gas-Knappheit ist damit nicht verbunden.
Südekum: Das finde ich überzogen. Die Bremse ist natürlich eine Preisregulierung. Und wir sehen in anderen Ländern, dass das die Inflation zähmt. Etwa in Frankreich, wo viel früher die Preise gebremst wurden. Aber das ist kein Trick, sondern hat einen ökonomischen Sinn. Es minimiert nämlich auch die Folgen der Inflation, etwa die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale, also die Gefahr, dass infolge der hohen Preise die Löhne stark steigen, was wiederum die Preise treibt. Dadurch nimmt die Regierung etwas Druck von der Europäischen Zentralbank, die gerade mit Zinserhöhungen gegen die Preissteigerung kämpft. Das ist richtig.
Sinn: Dass man mit statistischen Tricks die Lohn-Preis-Spirale bremsen kann, halte ich für wenig plausibel. Aber ja, die Gaspreisbremse verteilt Kaufkraft um. Haushalte, die viel Gas verbrauchen, werden entlastet. Das sind häufig die reicheren Haushalte. Dass das viel Sinn macht, wage ich zu bezweifeln. Wenn die Politik Einkommen umverteilen will, dann sollte sie im Übrigen mit offenem Visier kämpfen und auch sagen, wem sie das Geld wegnimmt, denn irgendwer muss ja am Ende die Zeche zahlen.
Wem würden Sie es wegnehmen?
Sinn: Den Besserverdienenden, weil sie auch die Nutznießer sind. Aber das ist ein politischer Entscheid, der sich nicht objektiv begründen lässt. Klar ist indes: Verschuldung wirkt inflationstreibend. Scheinbar nimmt man niemandem etwas weg. Aber man erzeugt Nachfrage, und die treibt die Inflation. Wenn nicht bei den Gaspreisen, dann anderswo.
Moment: Senkt die Gaspreisbremse nun die Inflation oder steigert sie sie?
Sinn: Sie steigert sie, wenn man von dem beschriebenen Rechentrick absieht. Es kommt zusätzliche Kaufkraft ins System. Und das ausgerechnet in einer Zeit, in der die Lieferprobleme weiter bestehen. Die Lieferprobleme haben die Inflation ausgelöst, die neue Verschuldung verstärkt sie für sich genommen.
Südekum: Das klingt bei Ihnen so, als würde die Gaspreisbremse die Inflation auslösen. Das stimmt doch nicht! Natürlich: Die Leute können jetzt wieder mehr ausgeben für andere Dinge als für Energie. Aber das stabilisiert doch nur den Konsum, der sonst komplett eingebrochen wäre. Wir hätten eine wirklich dramatische Rezession bekommen ohne Olaf Scholz’ Doppelwumms.
Sinn: 200 Milliarden Euro zusätzlicher Nachfrage werden ins System gepumpt, zweieinhalb Prozent der Wirtschaftsleistung.
Südekum: Würde Ihre Hypothese stimmen, Herr Sinn, dann müssten wir jetzt in allen Bereichen außer der Energie eine dramatische Inflation sehen, etwa beim Friseur oder anderen Dienstleistungen. Das sehen wir aber nicht. In einem möchte ich Ihnen allerdings zustimmen: Die Finanzierung der Gaspreisbremse hätte nicht bloß über Schulden, sondern zumindest teilweise über höhere Steuern laufen müssen.
Wie wird es 2023 weitergehen mit der Inflation?
Sinn: Die gemessene Inflation wird vorübergehend zurückgehen. Erstens wegen des Rechentricks. Zweitens, weil die Spitze der gewerblichen Erzeugerpreis-Inflation längst hinter uns liegt. Der Inflationsbuckel bei den Konsumgütern dürfte mit etwa elf Prozent jetzt im Winter erreicht sein. Drittens erhöht die EZB nun die Zinsen. Das beendet die dramatische Abwertung des Euro gegenüber dem Dollar, die die EZB mit ihrer verspäteten Zinswende ausgelöst hat und die auch die Energieimporte verteuert hat.
Südekum: Wir wissen natürlich nicht, was noch geschieht. Sollte etwa jemand unsere Gasleitung aus Norwegen sabotieren, oder sollten die Gas-Speicher doch schneller leerlaufen als erwartet, dann kann auch die Inflation wieder nach oben springen. Entspannter bin ich bei der Lohn-Preis-Spirale. Sie wird nicht plötzlich losgehen. Die Gewerkschaften haben heute gar nicht mehr die Power, so hohe Löhne durchzusetzen, die es dafür bräuchte.
Sinn: Ich bin weniger entspannt. Die Lohnsteigerungen der IG Metall lagen schon bei 8,5 Prozent.
Südekum: Für zwei Jahre!
Sinn: Und Verdi hat 10,5 Prozent gefordert. Das ist noch nicht das, was wir in den 1970er-Jahren hatten. Aber wir sind auf dem Wege. Dazu kommt ein anderer Selbstverstärkungseffekt: Der Staat gewinnt durch die Inflation. Seine Einnahmen blähen sich auf, denn er kassiert überproportional mehr Steuern. Und seine Schulden fallen relativ zum inflationär aufgeblähten Bruttoinlandsprodukt. Das wird die Staaten zu neuen Schulden veranlassen, die mit immer neuen Notlagen begründet werden. Das steigert die Inflation weiter, wenn auch in Wellen.
Das heißt, die Inflation bleibt längerfristig hoch?
Sinn: Die Pandemie und die Lieferkettenprobleme waren eine Art Streichholz. Der Zunder brennt jetzt erst mal. Wir haben Inflation und Stagnation – und in dieser Situation kommt immer mehr keynesianischer Schuldendampf ins System. Das ist unverantwortlich.
Südekum: Ich glaube nicht daran. Es gab ja Gründe dafür, dass wir die letzten Jahre in einem deflationären Umfeld gelebt haben. Diese strukturellen Faktoren sind jetzt nicht wegen Covid und Ukraine-Kriegs plötzlich weg. Immer heißt es: Heute sehen wir es zwar noch nicht, doch morgen geht es los. Aber morgen ist dann nichts passiert. So lief es bei der Lohn-Preis-Spirale und so wird es auch mit der angeblichen Verschuldungsspirale laufen. Schauen wir uns die Fakten an: Alle Staaten haben nach der Pandemie ihre Defizite stark zurückgefahren. Auch in Deutschland sinkt die Schuldenquote wieder.
Deutschland will die Schuldenbremse wieder einhalten.
Sinn: Auch das ist nur ein Taschenspielertrick, denn die vielen Sondervermögen, die in Wahrheit Sonderschulden sind, werden in den nächsten zwei Jahren etwa zehnmal so viel Defizit ermöglichen, wie in der Schuldenbremse des Grundgesetzes vorgesehen ist. Dazu kommt auch noch die Energiewende, die sehr teuer wird.
Südekum: Da bin ich anderer Meinung. Langfristig ersetzen wir schmutzige und teure Energie durch klimafreundliche und günstige. Die grünen Energien sind heute schon günstiger. Wenn diese Transformation geschafft ist, werden wir in einer Welt mit günstigeren Energiepreisen aufwachen.
Sinn: Der beste Beweis dafür, dass die grüne Energie teurer wird, ist doch, dass man die konventionellen Energien verbieten muss, damit die grüne Energie sich durchsetzt.
Südekum: Sie ist doch dabei, sich durchzusetzen. Der Ausbau dauert halt eine gewisse Zeit.
Sinn: Nur mithilfe des Staates. Wir haben eine regelrechte Verbotsorgie erlebt: Atomausstieg, Verbrennerverbot, Kohleausstieg und in 23 Jahren sogar das Ende für Erdgas. Wäre die grüne Energie billiger, hätte man diese Verbote nicht aussprechen müssen, weil die Leute sich ihnen sowieso zugewandt hätten.
Südekum: Trotzdem ist die Kilowattstunde Strom aus grünen Energien schon heute günstiger als die Kilowattstunden aus vielen fossilen Energien. Wir ersetzen Energien, die Stand heute teurer sind, durch günstigere.
Sinn: Das wage ich zu bezweifeln. Der grüne Strom ist manchmal da, manchmal nicht. Deshalb braucht er eine regelbare Komplementärenergie, und das war bislang vor allem das Erdgas. Ohne die regelbare konventionelle Energie kann man den Wind- und Sonnenstrom nicht verwerten. Die hohen Gaspreise müssten Sie also zu einem Gutteil der grünen Energie zurechnen. Man tut es nur nicht.
Wieso hat eigentlich kaum ein Ökonom diese Inflation so vorhergesehen, wie sie dann kam?
Sinn: Ich finde die Frage falsch. Ich hielt es schon in meiner öffentlichen Weihnachtsvorlesung von 2020 für sehr plausibel, dass eine Inflation kommt. Letztes Jahr habe ich die Inflation dann in einem Buch dokumentiert.
Ja, Sie haben Ende 2020 eine Inflation fürs neue Jahrzehnt für wahrscheinlich gehalten. Sie haben aber auch gesagt: "Wir kriegen jetzt keine Inflation im nächsten Jahr oder im übernächsten Jahr."
Sinn: Sorry, das ist aus dem Zusammenhang gerissen. Der Satz bezog sich auf die Hyperinflation, die ich direkt vor diesem Satz diskutiert hatte. Die haben wir ja nun wirklich nicht. Tatsächlich hatte ich in der Vorlesung klar darauf hingewiesen, dass eine Inflation bald kommen kann: weil sich das Angebot wegen Corona verknappt, weil die Ölpreise steigen und weil es Selbstverstärkungseffekte gibt.
Herr Südekum, warum haben Sie diese Inflation nicht kommen sehen?
Südekum: Für Deutschland hat niemand diese zweistelligen Inflationsraten vorhergesehen, weil niemand den Krieg vorhergesehen hat. Das ist mit Abstand der wichtigste Inflationstreiber.
Sinn: Ja, der Krieg war ein Inflationstreiber, aber er war nicht entscheidend. Ende 2021, als von Krieg noch nicht die Rede war, lag die Inflation der gewerblichen Erzeugerpreise bei 24,2 Prozent. Das war der höchste Wert in der Geschichte der Bundesrepublik, zehn Prozentpunkte höher als in der ersten Ölkrise. Die gewerblichen Erzeugerpreise übertragen sich erfahrungsgemäß nach vier, fünf Monaten zu einem Drittel aus der Produktion in den Konsum. Ende 2021 war also schon vollkommen klar, dass eine massive Inflation unterwegs ist.
Sie beide nennen ähnliche Auslöser für die Inflation: Energie, Lieferketten, Corona. Doch Sie, Herr Sinn, verweisen auf darunter liegende Trends, die eine Inflation gefährlicher machen: Geld durch Staatsschulden und die EZB. Sie, Herr Südekum, sehen das nicht so.
Sinn: Corona war das Zündholz, das die Inflation entfacht hat. Aber da lag eine Menge trockenes Holz im Schober, das damit in Brand gesetzt wurde. Und das bestand im Kauf von Staatspapieren im Wert mehrerer Billionen Euro. Die Käufe haben die Zinsen für die Staaten praktisch eliminiert und eine riesige staatliche Schuldenorgie hervorgerufen, die die privaten Einkommen aufrechterhielt, während die Firmen dichtmachten.
Südekum: Mit dieser These zum Geldüberhang kann ich wenig anfangen. Ja, in der Pandemie hat sich die EZB-Bilanz auf fast neun Billionen Euro ausgeweitet. Aber die Menge an Zentralbankgeld ist uninteressant. Es geht nur darum, wie viel tatsächlich auf die Straße kommt.
Sinn: So ist es. Corona war der Anstoß, weil das Angebot verknappt wurde. Der Geldüberhang kann sich entladen. Und wenn er das tut, kann die EZB nicht richtig bremsen, weil sie die vielen Staatspapiere aus politischen Gründen nicht zurückverkaufen kann.
Südekum: Ich sehe nicht, dass sich hier etwas entlädt. Dann müsste ja in dramatischem Ausmaß die Nachfrage steigen. Die Bürger müssten ihre Ersparnisse auflösen. Unternehmen eine Investitionsagenda starten. Alle müssten anfangen, zu konsumieren, zu investieren. Das findet nicht statt.
Haben Ökonomen eigentlich wirklich verstanden, wie und wann Inflation entsteht? Aktuell kann man das bezweifeln.
Südekum: Es ist immer schwierig vorherzusehen, wie stark und wann genau ein ökonomisches Phänomen eintritt. Die Öffentlichkeit erwartet eine mathematische Präzision von den Ökonomen, die wir nicht leisten können.
Das Interview führten Bastian Brinkmann und Lisa Nienhaus.
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