„Was muss nach der Wahl passieren, Herr Prof. Sinn?“

€uro, 15. Februar 2025, Nr. 3, S. 12-18.

Deutschlands bekanntester Ökonom Hans-Werner Sinn über unabdingbare Entscheidungen für die Wirtschaftswende 

€uro: Vor etwa neun Monaten sagten Sie uns, es sei für Deutschland „kurz vor zwölf“. Ist es jetzt wirtschaftliche gesehen „nach zwölf“?

Prof. Hans-Werner Sinn: Nein. Es gibt immer noch Möglichkeiten umzusteuern.

Kann es durch die Bundestagswahl nach Ihrer Einschätzung zu einem echten Kurswechsel kommen?

Da bin ich eher skeptisch. Der Grund dafür ist das mangelnde ökonomische Verständnis in der Bevölkerung. Im Vergleich zur angelsächsischen Welt, wo wirtschaftliches Grundwissen oft zum Grundstudium gehört, bleibt volkswirtschaftliches Denken in Deutschland eine Randerscheinung — insbesondere auch in der geisteswissenschaftlich geprägten Medienlandschaft.

Sie konstatieren einen Strukturbruch.

Das liegt daran, dass es sich aktuell nicht um eine konjunkturelle, sondern um eine strukturelle Krise handelt, eben einen Strukturbruch: Es wird mehr abgebaut als aufgebaut. Wenn Sie sich die Wirtschaftsentwicklung seit 2018 ansehen, erkennen Sie einen kontinuierlichen Abwärtstrend. Der Grund dafür ist ein ausgeprägter Attentismus bei Investitionen. Eine Folge von politischen Weichenstellungen, insbesondere in der Energiepolitik. Ein Land, dem schrittweise die Energieversorgung abgedreht wird, hat keine solide wirtschaftliche Perspektive. Unternehmer sehen das und investieren lieber anderswo.

Sie haben frühzeitig vor falscher Energieund Wirtschaftspolitik gewarnt. Wie fühlt es sich an, wenn Ihre Prognosen eintreffen, aber keine Korrektur erfolgt?

Ich habe die Wirtschaft ein halbes Jahrhundert lang beobachtet. Es ist oft so, dass die Erkenntnis erst sehr spät einsetzt. Selbst wenn Fachleuten die längerfristig drohenden Probleme längst klar sind, dauert es
Jahre, bis die Medien die Themen aufgreifen. Die tun das erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist.

Die Bundestagswahl steht vor der Tür. Welche drei Schritte müsste eine neue Bundesregierung sofort umsetzen?

Als Erstes müssten wir die Politik der Nachfrageverbote bei fossilen Brennstoffen aufgeben, solange die anderen großen Länder nicht folgen. Denken Sie nur an den Verbrennungsmotor oder die Ausstiegsbeschlüsse der EU bei der Steinkohle, dem Öl und dem Gas. Die Nachfrage nach international handelbaren Brennstoffen zu reduzieren, macht keinen Sinn, weil die anderen Gebiete derWelt eben diese Brennstoffe dann billiger erwerben und sie selbst verbrennen. Wirksam sind nur Maßnahmen auf der Angebotsseite. Wenn wir Europäer weniger Kohle fördern, bleibt sie in der Erde und kann nirgendwo sonst in der Welt verbrannt werden. Außerdem sollten wir Kohlenstoff sequestrieren. Den Kohlenstoff, den wir auf den Weltmärkten kaufen, könnten wir nach der Verbrennung als CO2 abscheiden und unter dem Meeresboden verpressen.

Der zweite Schritt ist die Aktivierung der Arbeitsmarktreserve: Millionen von erwerbsfähigen Menschen arbeiten nicht und beziehen stattdessen Bürgergeld. Das Bürgergeld sollte in einen Lohn für kommunale Arbeit oder Lohnzuschüsse verwandelt werden, damit jeder, der arbeiten will, arbeiten kann und dann genug zum Leben hat. 

Drittens sollten wir das Rentensystem reformieren. Die Babyboomer sind jetzt 60, 61 Jahre alt und wollen in Kürze eine Rente von einer Generation von Kindern beziehen, die sehr schmalbrüstig ist. Das geht schief. Die Politik hat das lange wissen können, denn es gibt seit Jahrzehnten Gutachten, die die unvermeidliche Entwicklung beschreiben. Die Frühverrentungsmöglichkeiten sollten abgeschafft, das Renteneintrittsalter flexibler gestaltet und längeres Arbeiten belohnt werden.

Sie haben vor dem forcierten Übergang zum Elektroauto gewarnt. Die jüngsten Entwicklungen in der Autoindustrie geben Ihnen recht.

Ich habe nicht vor dem Elektroauto gewarnt, sondern vor staatlichen Produktionsverboten für Verbrenner. Wenn sich die neue Technik auf den Märkten von allein durchsetzen würde, wäre es doch gut. Das Problem liegt in der EU-Verordnung für den CO2-Ausstoß für eine Autoflotte. Die EU bewertet Elektroautos mit einem CO2-Ausstoß von null, was geradezu aberwitzig ist. Denn auch Elektroautos verbrauchen fossile Energie, da der Strom oft aus Kohle oder Gas erzeugt wird. Diese Mogelei ist gerade dabei, die deutsche Automobilindustrie zu dezimieren und im Gefolge lähmendes Gift in der gesamten Industrie zu verstreuen.

Volkswagen ist für Sie ein frühes Opfer des Abbaus des Industriestandorts Deutschland. Wer könnte folgen?

Die Chemieindustrie ist wegen der staatlich oktroyierten Energieknappheit bereits stark betroffen. Sehen Sie sich BASF an: Die größten Investitionen fließen nach China. In Deutschland herrscht wenig Bereitschaft, Kapital und Vermögen in einem zunehmend regulierten und kontrollierten Umfeld zu riskieren. Ein neuer Dirigismus greift um sich, der an zentralplanerische Staaten erinnert. Wir haben das ja in der DDR lange genug erlebt. In einer solchen Welt, jetzt noch konfrontiert mit der Zucker-und-Peitsche-Politik von Trump, fühlt sich kein Unternehmer mehr wohl, was dazu führt, dass Firmen vermehrt in Länder wie die USA abwandern.

Was droht Deutschland, wenn die Bedingungen für die Industrie nicht besser werden?

Die Produktionsmengen sinken bereits in vielen Sektoren. Seit 2018 sind die Produktionszahlen der Branchen Auto und Chemie um 20 beziehungsweise 22 Prozent gefallen, in der gesamten Industrie um 15 Prozent. Der Arbeitsplatzabbau ist eine logische Folge. Der demografische Wandel verstärkt das Problem: Die Babyboomer gehen in Rente, aber wer erzeugt dann das Sozialprodukt, von dem die Menschen leben sollen? Es wird also extrem haarig. Wir müssen dringend die Reserve der Bürgergeldbezieher mobilisieren. Es ist nicht akzeptabel, dass Millionen gesunde, erwerbsfähige Menschen nicht arbeiten und dennoch Geld erhalten.

Solche Vorschläge stoßen auf massiven Widerstand.

Ohne Arbeit können wir unseren Wohlstand nicht finanzieren. Jeder muss nach seinem Vermögen zum Sozialprodukt beitragen. Und wenn er dabei nicht genug verdient, dann kann der Staat ihm auch noch etwas dazugeben. Es wäre in Ordnung, Lohnzuschüsse zu zahlen, aber Geld an gesunde Menschen ohne Arbeitsleistung zu verteilen, ist falsch. Und wenn es keine Jobs im ersten Arbeitsmarkt geben sollte, müsste im Zweifel die Kommune dafür sorgen. Wir hatten das Thema schon mal unter dem Namen Ein-Euro-Jobs. Es schlief dann nur unter Angela Merkel wieder ein. Wenn es kein Geld mehr gibt, ohne dafür zumindest bei der Kommune einen Besen in die Hand nehmen zu müssen, werden Millionen von Menschen in den ersten Arbeitsmarkt drängen.

Wie lange können unsere Sozialsysteme unter diesen Vorzeichen eigentlich noch funktionieren?

2035 haben wir die maximale Verwerfung zwischen der Zahl der Alten und der Jungen. Und dann wird das Geld hinten und vorn nicht reichen. Es wird ein Hauen und Stechen geben. Wir müssen das Mitmachen ganz generell belohnen und auch die Menschen ermutigen, länger zu arbeiten. Das Renteneintrittsalter sollte an die steigende Lebenserwartung gekoppelt werden.

Was halten Sie von einer teilweisen Umstellung auf ein kapitalgedecktes Rentensystem?

Die ist schwierig. Die heutigen Renten müssen aus den Beiträgen der heute arbeitenden Menschen finanziert werden. Zusätzliches Sparen ist für viele kaum möglich. Man hätte früher auf ein kapitalgedecktes System setzen müssen, doch jetzt bleibt uns nur, die Menschen aus dem alten Bürgergeld herauszuholen und sie auch länger arbeiten zu lassen, um die Rentenversicherung zu entlasten.

Und welche Rolle spielt hier die private Vorsorge?

Es gibt zwei Möglichkeiten: Man spart für das Alter oder setzt auf Kinder, die einen später unterstützen. Eine Gesellschaft, die beides nicht schafft, wird im Alter Armut erleben. Junge Menschen sollten rechtzeitig in einen privaten Kapitalstock investieren, vorzugsweise in Aktien, nicht so viel in angebliche mündelsichere festverzinsliche Anlagen — die sind ja gar nicht sicher in Zeiten der Inflation.

Wird die Krise zu einem Umdenken in der Gesellschaft führen?

Ja, ich glaube, die Krise wird die traditionellen Werte stärken. Menschen ohne Kinder oder Vermögen werden im Alter massive Probleme haben. Diese Erfahrung wird die nächste Generation dazu bringen, wieder
mehr Wert auf Familie und Vorsorge zu legen.

Mehr Staat, weniger Eigenverantwortung - das ist hierzulande en vogue. In den USA sehen wir eine konservative Gegenbewegung. Könnte diese auch zu uns schwappen?

Ja, ich denke, das ist unvermeidlich. Derzeit stoßen Demokratien mit einem starken Sozialstaat an ihre Grenzen. In Deutschland zahlt die Mehrheit der Einkommensbezieher keine Einkommensteuer. Das ist auf Dauer nicht tragfähig. In den USA sehen wir bereits eine konservative Trendwende, die auch Europa beeinflussen wird. Man kann die Umverteilung in diesem Umfang, wie wir sie in Europa praktizieren, nicht fortsetzen. Länder, die dies versuchen, sind auf dem absteigenden Ast, ähnlich wie die Italiener, die es nicht schaffen, ihre Rentenprobleme in den Griff zu kriegen, oder die Franzosen, die es ebenfalls nicht hinbekommen und mit riesigen Defiziten ihr Budget ausgleichen wollen. Es muss wieder eine Rückbesinnung auf die ökonomischen Mechanismen der Volkswirtschaft stattfinden, ohne dabei den Sozialstaat zu opfern. Wir haben zu viel Wunschdenken in der Sozialpolitik gehabt und wir beobachten Extremismus in
der Klimapolitik. Die Wünsch-dir-was-Konzerte der politischen Mitte sind das wirkliche Problem in Deutschland.

Wird nicht der Druck auf die Staatsfinanzen noch größer, etwa durch die US-Politik unter Donald Trump?

Die USA unter Trump zwingen Europa, in Bereiche wie Verteidigung zu investieren. Auch um solche Anforderungen zu erfüllen, müssen die Unternehmen samt ihrer Arbeitnehmer wieder wettbewerbsfähig werden.

Zur Energiepolitik. Während weltweit die Atomkraft ein Comeback erlebt, ist Deutschland ausgestiegen.

Weltweit wird an neuen, sicheren Technologien wie Schmelzsalzreaktoren gearbeitet, die effizienter und sicherer sind. Länder wie Kanada, die USA oder China treiben diese Innovationen voran, während wir uns in Deutschland mit ideologischen Debatten über Endlagerstätten blockieren.

Das Thema Energie ist eng mit dem Wohlstand verknüpft, der in Deutschland bröckelt. Wie lange kann man sich wirtschaftlichen Realitäten entgegenstellen?

Bis „die Nase so richtig blutig ist“ - das ist bislang nicht der Fall. Viele Menschen haben die Realität noch gar nicht wahrgenommen. In den letzten Jahren haben wir uns mit der Druckerpresse des Eurosystems finanziert. Das hat es uns ermöglicht, den passivierenden Sozialstaat aufrechtzuerhalten. Denken Sie an die sogenannten Sondervermögen - im Grunde Sonderberechtigungen, um Kredite am Kapitalmarkt aufzunehmen. Diese Kredite wurden durch den Verkauf von Staatspapieren finanziert, die wiederum die Europäische Zentralbank mit frisch gedrucktem Geld kaufte. Das war die Lösung, aber es war keine Dauerlösung. Diese Vorgehensweise verstärkt die Inflation und vernebelt die ökonomische Realität.

Das Gebäudeenergiegesetz kritisieren Sie als „Auswuchs zentralplanerischer Denkweise“. Was muss hier geschehen? 

Diese Vorgaben müssen gestrichen werden. Selbst wenn wir erfolgreich den Verbrauch fossiler Brennstoffe durch bessere Gebäudedämmung reduzieren, handelt es sich doch meist um Brennstoffe, die weltweit gehandelt werden. Es ist wiederum eine Politik der Nachfragereduktion, die dazu führt, dass wir anderen Ländern die von uns eingesparten Brennstoffe zum Verbrennen überlassen. Welchen Sinn ergibt es, Kohlenstoff auf europäischem Boden nicht mehr zu verbrennen und ihn dann anderen zur Verbrennung zu
überlassen? Wenn Sie das durchdenken, merken Sie schnell, wie sinnlos das ist, was wir da alles machen.

Die USA versuchen, günstige Energie zu gewinnen und Kapitalströme zu ihren Gunsten zu lenken. Kann Deutschland dagegenhalten?

Das ist schwierig. Trump verfolgt die Idee, Steuern teilweise durch Zölle zu ersetzen, mit dem Argument, dass dann die „Ausländer“ zahlen. Das mag stimmen, weil die USA ein großes Land sind, das die Terms
of Trade verändern kann. Konkret ist zu erwarten, dass der Dollar in Einheiten von Euro sehr teuer bleibt. Die Dollarstärke ist eine Folge der angekündigten Zölle. Sie senken die Nachfrage nach dem Euro, da weniger europäische Waren gekauft werden, und fördern gleichzeitig den Kapitalexport in die USA. Europäische Unternehmen, die Schwierigkeiten haben, von hier aus in die USA zu exportieren, ziehen es vor, direkt in den USA zu investieren. Dafür verkaufen sie ihre Anlagen in Europa und kaufen Dollar. Die Dollar-Aufwertung schwächt den Euro und treibt damit sogar noch die Inflation in Europa an. Die Amerikaner profitieren von billigeren Importen, während Europa durch den schwachen Euro mit teureren Einfuhren und einer importierten Inflation konfrontiert wird. Allerdings zieht die Dollar-Aufwertung auch die Geschäfte amerikanischer Firmen in Mitleidenschaft.

Was können wir tun?

Wir müssen dagegenhalten, indem wir unsere anderen Absatzmärkte halten und verteidigen. Wir sollten China halten und uns auch noch mit anderen asiatischen Ländern und Lateinamerika beschäftigen.
Das Mercosur-Abkommen wird hoffentlich schon bald neue Chancen eröffnen, insbesondere in wachsenden Märkten wie Brasilien.

Ein zentrales Wahlkampfthema ist die Schuldenbremse. Wie ist Ihre Sicht?

Ich kann nur vor der Vorstellung warnen, dass Schulden die Wirtschaft beleben. Verschuldung schafft zwar Nachfrage, die in einer Zeit der keynesianischen Unterbeschäftigung nützlich wäre, in der es freie Kapazitäten gibt. Aber wir haben keine freien Kapazitäten, wir haben zu wenig Energie, und wir haben zu wenig Menschen, die arbeiten. Eine zusätzliche Nachfrage durch Schulden würde lediglich die Inflation anheizen. Verschuldung ist außerdem extrem gefährlich, weil sie die Bonität eines Landes mindert. In Europa wurde dieses Problem durch die Politik der Europäischen Zentralbank verschleiert, die Staatsanleihen von Schuldenstaaten aufkauft und damit die Spreads zu Deutschland verringert. Das hat den Mechanismus zerstört, dass der Schuldner mit wachsender Kreditlast höhere Zinsen zahlen muss und von allein aufhört, sich massiv zu verschulden. Alles hängt an der Bonität Deutschlands. Sollte Deutschland
dem Beispiel Frankreichs und Italiens folgen und die Schuldendisziplin aufgeben, würde das ganze europäische System den Berg hinunterrutschen. Dann müsste man sich wieder um die Stabilität des Euro sorgen.

Gibt es auch Aspekte, die Ihnen Hoffnung machen?

Es gibt erste Anzeichen eines Bewusstseinswandels in der Bevölkerung und bei den Parteien. Die politische Mitte hat Angst, dass neue Parteien die kritischen Themen aufgreifen, und reagiert durch die Umstellung der eigenen Programme. Das sehen wir an den alten Ampelparteien und bei der CDU. Als Angela Merkel noch regierte, versuchte sie stets, den Grünen den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem sie das tat, was dort gefordert wurde. Heute sehen wir ähnliche Entwicklungen bei den etablierten Parteien im Hinblick auf neue Parteien, die an den Rändern hochgekommen sind. 

Das Interview führten Marian Kopocz und Frank Mertgen.