„Jetzt wird Geschichte gemacht“

Das Ende der Pax Americana ist eine Riesenchance für die EU, sich als politische Union zu vollenden – als Bundesstaat mit gemeinsamer Nuklearstreitmacht.
Hans-Werner Sinn

WirtschaftsWoche, 7. März 2025, Nr. 11, S. 34-35.

Nachdem Donald Trump unmissverständlich klargemacht hat, dass die Pax Americana – der amerikanische Schutzschild der westlichen Welt – nicht mehr existiert, ist ein Machtvakuum entstanden, das Europa nun schleunigst durch den Schritt zu einer politischen Union füllen muss, will es nicht unter die Räder der Geschichte geraten.

Die neue Schuldenorgie mit einer Geldverteilung an die Mitgliedstaaten zum Zwecke der nationalen Aufrüstung ist zwar als Sofortmaßnahme in der Not der Verzweiflung verständlich. Wirklich zielführend ist sie jedoch nicht. Zum einen beschwört sie eine neue Inflation herauf und droht damit, die Stabilität der europäischen Währung, wenn nicht sogar der Gesellschaft zu untergraben. Zum anderen erinnert sie an den Turmbau zu Babel und ist viel zu kurz gesprungen, als dass sie Europa wirklich Sicherheit verschaffen könnte.

Nötig ist stattdessen die Weiterentwicklung der EU zu einer politischen Union mit einem echten Bundesstaat. Staaten wurden in der Geschichte stets unter dem Druck äußerer Feinde gegründet. Jetzt ist die Zeit für die EU gekommen, den nächsten Integrationsschritt zu tun.

Nachdem Donald Trump unmissverständlich klargemacht hat, dass die Pax Americana – der amerikanische Schutzschild der westlichen Welt – nicht mehr existiert, ist ein Machtvakuum entstanden, das Europa nun schleunigst durch den Schritt zu einer politischen Union füllen muss, will es nicht unter die Räder der Geschichte geraten.

Die neue Schuldenorgie mit einer Geldverteilung an die Mitgliedstaaten zum Zwecke der nationalen Aufrüstung ist zwar als Sofortmaßnahme in der Not der Verzweiflung verständlich. Wirklich zielführend ist sie jedoch nicht. Zum einen beschwört sie eine neue Inflation herauf und droht damit, die Stabilität der europäischen Währung, wenn nicht sogar der Gesellschaft zu untergraben. Zum anderen erinnert sie an den Turmbau zu Babel und ist viel zu kurz gesprungen, als dass sie Europa wirklich Sicherheit verschaffen könnte.

Nötig ist stattdessen die Weiterentwicklung der EU zu einer politischen Union mit einem echten Bundesstaat. Staaten wurden in der Geschichte stets unter dem Druck äußerer Feinde gegründet. Jetzt ist die Zeit für die EU gekommen, den nächsten Integrationsschritt zu tun.

Eine politische Union im Sinne eines Bundesstaates ist nicht in erster Linie durch eine Währungs- oder Transferunion definiert, sondern durch eine gemeinsame, von einem Parlament eingesetzte Regierung, die mit ihrer Bundesarmee über ein Gewaltmonopol verfügt. Und nur dann, wenn die Bundesarmee über Atomwaffen verfügt, kann sie ihre Feinde in der heutigen Welt wirksam abschrecken.

Schon zweimal hat es in Europa die Diskussion um eine politische Union gegeben. 1954 einigten sich Adenauer und de Gaulle auf die Westeuropäische Verteidigungsunion; aber die französische Nationalversammlung ratifizierte den Vertrag nicht, weil der interne Widerstand übermächtig war. Den nächsten Schub gewann das Thema mit dem Amtsantritt von Helmut Kohl im Jahr 1982. Der Kanzler bezeichnete die politische Union als „Primärziel der deutschen Außenpolitik“. Er vertrat die Idee der Krönungstheorie, nach der die von französischer Seite geforderte Währungsunion erst nach der Herstellung einer politischen Union sinnvoll sei.

Atomschirm gegen D-Mark

Wie weit damals unter der politischen Union eine militärische Union zu verstehen war, blieb zwar unklar, denn über dieses heikle Thema wollte man nicht offen sprechen. Die militärische Union war jedoch der Elefant im Raum. Es ist bezeichnend, dass Francois Mitterrand damals die D-Mark als „Force de Frappe“ der Deutschen bezeichnete. Der Präsident maß der gemeinsamen Währung einen extrem hohen Wert bei, weil Frankreich mitsamt den mediterranen Nachbarstaaten sehr unter den hohen Zinsen litt, die die Kapitalmärkte wegen der hohen Staatsverschuldung und des Währungsrisikos verlangten.

Frankreich versprach sich vom Euro eine implizite, wenn nicht gar explizite Haftungsunion, die es in die Lage versetzen würde, seine Gläubiger zu beruhigen und sich mit niedrigeren Zinsen zufriedenzugeben. Eine Vereinbarung, wonach Frankreich bereit gewesen wäre, die Hergabe der D-Mark mit einer Sozialisierung der französischen Atomstreitmacht zu bezahlen, erschien damals denkbar.

Durch eine glückliche Fügung der Geschichte gelang es Frankreich, sein Ziel auch ohne diesen Preis zu erreichen. Nach der unerwarteten Auflösung der Sowjetunion sah es die Möglichkeit, die 2+4-Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung zu blockieren oder zu verzögern. Demonstrativ besuchte Mitterrand noch im Herbst 1989 die DDR, um das dortige Regime zu stabilisieren, und zeigte sich äußerst reserviert gegenüber dem deutschen Wunsch nach einer Wiedervereinigung. Erst als Kohl der gemeinsamen Währung zustimmte und das Thema der politischen Union nicht mehr in den Vordergrund stellte, erklärte sich Mitterrand Anfang 1990 bereit, die Wiedervereinigung zu unterstützen.

Und jetzt die Krönung, bitte!

Kohl gab seine Grundidee aber nicht vollends auf. Er erklärte immer wieder, dass die Reihenfolge der Schritte für den Erfolg der europäischen Integration von entscheidender Bedeutung sei. Es sei wie bei einer Weste. Wenn man einmal mit dem falschen Knopf angefangen habe, könne man das beim weiteren Zuknöpfen nie wieder korrigieren. Dennoch gab er schließlich nach. Zwar schaffte er es noch, auf der Ebene der EU neben einer Kommission für die Vorbereitung der neuen Währung eine zweite Kommission für die Vorbereitung einer politischen Union beschließen zu lassen, doch wurde diese Kommission nie installiert, und sein Bemühen verlief im Sande.

Dass die Weste falsch geknüpft wurde, weil der Euro vor der politischen Union kam, erklärt die Schwierigkeit, die eine machtlose EU heute bei ihrem Versuch hat, Trump zu beeindrucken und Putin zu kontern: Deutschland hat die D-Mark nicht mehr und kann sie nicht mehr in die Waagschale werfen, um Frankreich für die Zustimmung zur Sozialisierung seiner Force de Frappe zu kompensieren. Das erschwert die Verteidigung der gesamten EU. Es ist bezeichnend, dass Macron heute sagt, sein Land sei bereit, die europäischen Partner mit seinen Atomwaffen zu schützen, doch wie selbstverständlich den roten Knopf weiterhin allein verwalten will. Er hat noch nicht einmal angedeutet, dass er bereit sei, die Force de Frappe in die Nato zu integrieren.

Frankreich droht, zum Hegemon Europas zu werden

Diese Verweigerungshaltung ist für die anderen EU-Länder nicht hinnehmbar, denn Frankreich droht, zum Hegemon Europas zu werden, wie einst die USA der Hegemon der westlichen Welt waren. Ungeachtet aller Verträge bestünde das Risiko, dass das Schutzversprechen im Ernstfall über Nacht wieder zurückgezogen würde – ähnlich wie Trump es mit seinen absurden Beschuldigungen Selenskyjs und der gesamten EU derzeit tut. Sie dienen dem Zweck, sich gesichtswahrend aus der Verantwortung des Nato-Vertrages herauszustehlen und sich nebenher noch schnell die Hälfte der Bodenschätze der Ukraine zu sichern. Man stelle sich nur einmal vor, was ein französisches Schutzversprechen wert wäre, wenn die große Trump-Freundin Marine Le Pen eines Tages allein über den Einsatz der französischen Atomwaffen zum Schutze ihrer europäischen Nachbarn entscheiden dürfte.

Ohne eine glaubhafte atomare Abschreckung freilich lässt sich Putin nicht beeindrucken. Dass er überhaupt den Angriff auf die Ukraine wagte, liegt an der Unbesiegbarkeit seiner Atomwaffen. Dass sich der Iran nicht zum Eintritt in die neuen Nahostkriege provozieren ließ, lag an seiner Angst vor der israelischen Atomwaffe. Und nur mit dem Rückhalt dieser Waffe konnte Israel einen Krieg gegen so viele Feinde wagen. Auch der Umstand, dass England und Frankreich schon früh anboten, Bodentruppen in die Ukraine zu schicken, während Deutschland es nicht einmal wagte, die Taurus-Flugkörper freizugeben, ist allein durch die Unterschiede bei der Atombewaffnung erklärbar: Konventionelle Kriege gegen eine Atommacht lassen sich nicht durchstehen, wenn man selbst nichts mehr in der Rückhand hat.

Den Rockzipfel der Geschichte ergreifen

Was Europa deshalb schleunigst braucht, ist eine echte politische Union mit einer gemeinsamen Atomstreitmacht, die von einer demokratischen EU-Regierung gelenkt wird, die wiederum vom Parlament eingesetzt wird. Diese Regierung braucht auch eine begrenzte Steuerhoheit. Am besten wäre es, der EU das Recht zu geben, einen einheitlichen Zuschlag auf die Mehrwertsteuersätze der Mitgliedsländer zu erheben. Eine Konsumsteuer hat den Vorteil, dass sie verteilungsneutral wäre, weil sie alle Menschen in Proportion zu ihrem Konsumstandard belastet.

Zur Schaffung einer funktionsfähigen europäischen Armee führen zwei Wege, die gleichzeitig begangen werden sollten. Der eine besteht darin, dass Frankreich bewegt wird, die Force de Frappe unter die Kontrolle der EU zu stellen. Das Land würde dann für die Gemeinschaft der europäischen Staaten ein ähnliches Opfer bringen wie seinerzeit Deutschland mit der Hergabe der D-Mark. Der andere Weg ist durch den Aufbau einer eigenen EU-Armee, möglichst mit einer Nuklearkapazität, gekennzeichnet.

Realistischerweise sollte die EU beide Wege simultan verfolgen. Sie sollte versuchen, Frankreich für die Idee eines echten Bundesstaates zu gewinnen, und sie sollte unabhängig davon eine Koalition der willigen Mitgliedsländer zulassen, die selbst eine gemeinsame Nuklearstreitmacht aufbaut.

So oder so muss die Europäische Union nun schnellstmöglich entstehen. Den Rockzipfel der Geschichte, der sich nach Trumps Eskapaden heute bietet – die EU sollte ihn ergreifen. 

Nachzulesen auf www.wiwo.de.