Warum traf das Corona-Virus in Europa eigentlich zuerst Italien? Sicher kann das niemand wissen, der Ökonom Hans-Werner Sinn hat aber eine Vermutung: In der italienischen Textilindustrie, die sich in der Lombardei konzentriert, gebe es sehr viele chinesische Gastarbeiter, die dort unter Sonderbedingungen zu sehr niedrigen Löhnen arbeiteten - oft auch schwarz. Als diese Arbeiter Ende Januar vom chinesischen Neujahrsfest zurückgekommen seien, hätten sie das Virus von Wuhan nach Italien mitgebracht, vermutet der frühere Chef des Münchener ifo-Instituts.
Sinn hebt in diesem Punkt nicht den Zeigefinger gegen Italiener und Chinesen. Der Ökonom lobt in seinem neuen Buch die italienische Regierung, sie habe schnell reagiert und die Ausbreitung energisch bekämpft. Erst die schockierenden Bilder aus Italien hätten den Rest Europas richtig alarmiert: Deutschland habe im Grunde Glück gehabt und so früher reagieren können. Italien bei der Bewältigung der Corona-Pandemie zu helfen, sieht er daher als moralische Verpflichtung. Die Frage ist nur: wie? Italien sei heute in einer ähnlichen Lage wie früher Griechenland: "Wir spielen dasselbe Theater wie vor zehn Jahren." Es sei aber nicht die Aufgabe der europäischen Steuerzahler, die Gläubiger des italienischen Staates zu retten. Das seien vor allem französische Banken.
Schnelle und einmalige Hilfe für Italien in der Corona-Krise hätte Sinn gut gefunden - auch als reines Geschenk von Deutschland. Aber: "Eine Hilfe muss immer ein einmaliger Akt sein, freiwillig betrieben vom Helfer in einem Umfang, den er selbst definiert. Sie begründet keinen Rechtsanspruch und keinen politischen Mechanismus, wie er jetzt mit den EU-Maßnahmen etabliert wird." Mit den Plänen für eine europäische Rettungspolitik mit einem milliardenschweren "europäischen Wiederaufbaufonds" geht er hart ins Gericht: Dass Angela Merkel dem Drängen von Emmanuel Macron nachgegeben hat, hält Sinn für einen Fehler: Er warnt vor einer "brandgefährlichen Vergemeinschaftung von Schulden". Viele Maßnahmen gehen ihm deutlich zu weit: "Man braucht jetzt nur noch Corona sagen, und es ist Geld für alles da."
Sinns Corona-Buch dreht sich aber nicht nur um Corona, es ist ein Rundumschlag gegen all das, was aus seiner Sicht in Deutschland und Europa schiefläuft. Vieles hat er schon früher vorgebracht. Er schildert abermals die Grundprobleme der Europäischen Währungsunion, diskutiert über Staatsschulden und Anleihekäufe der EZB, warnt abermals vor den Gefahren, die aus dem Anstieg der Target-Salden entstehen. Er plädiert wieder für seine Idee einer "atmenden Währungsunion", also der Möglichkeit für Länder, den Euro vorübergehend zu verlassen, um die eigene Währung abwerten zu können.
Vieles erinnert an die langen Debatten der Euro-Krise, aber das Buch enthält auch Neues. So macht er Vorschläge zur Verbesserung der Corona-App, deren Verwendung verbindlich vorgeschrieben werden müsse. Zudem sollten Nutzer nicht nur im Nachhinein erfahren, ob sie sich in der Nähe eines Infizierten aufgehalten haben, sondern die App sollte auf einer Karte mit Kreisen anzeigen, wo sich potentiell Infizierte aufhalten - zumindest ungefähr, damit die Anonymität gerade noch gewahrt bleibt. So könnte jeder aktiv einen Bogen um potentielle Virusträger machen. Eine solche App könnte helfen, einen zweiten totalen "Lockdown" zu verhindern. Das sei dringend notwendig, selbst wenn eine zweite Welle komme. Zwar seien die flächendeckenden Ausgangsbeschränkungen im März richtig gewesen, aber auch teuer. Jede Woche im harten Lockdown koste die deutsche Volkswirtschaft 30 Milliarden Euro, schreibt er. "Wir befinden uns jetzt gerade in einer Atempause", künftig müsse man zielgenauer vorgehen: "Wir müssen den Sommer und Herbst nutzen, um uns für die zweite Welle sturmfest zu machen." Neben einer verbesserten App gehöre dazu eine drastische Erhöhung der Testkapazität.
Geschrieben ist das Buch in Frage-Antwort-Form, der Tonfall des Gesprächs macht das Buch leicht zu lesen, auch wenn es oft um ökonomisch komplexe Themen geht. Im Duktus kann Sinn freilich auch die Variante "robust": Die "grünen Sperenzchen" müssten jetzt ein Ende haben, fordert er mit Blick auf die Klimapolitik. Sonst zerstöre man das Rückgrat der deutschen Wirtschaft, die deutsche Automobilindustrie. "Auch Germanisten müssen letztlich von den Einkommen miternährt werden, die dort verdient werden", poltert der streitlustige Altmeister und bekommt für solche wohldosierten Spitzen sicher den Applaus seiner Fans. Wobei ihm die Sprachsensibilität von Germanisten an manchen Stellen sicherlich zur Hilfe käme, etwa wenn er in die Niederungen vom "Bevölkerungsaustausch" absinkt.
Polemik kann er, seriös aber auch. Die Klimapolitik der Regierung sei viel zu teuer und zudem weitgehend wirkungslos. Schuld daran sei auch mangelnder Sachverstand. Die Klimavorgaben für die Automobilindustrie - wonach der CO2-Ausstoß bis 2030 auf unter 59 Gramm je Kilometer gesenkt werden soll - seien utopisch. In Dieseläquivalenten ausgedrückt, wären das Autos, die nur 2,2 Liter Diesel auf 100 Kilometern verbrauchen. "Absurd", schimpft Sinn: "Die Erfindungsgabe der Ingenieure in allen Ehren, aber das wird nicht möglich sein." Die Corona-Krise werde so teuer, dass wir uns solchen Luxus nicht mehr leisten könnten. Wer Sinns Buch liest, bekommt bisweilen ein beklemmendes Gefühl, ob das alles gutgehen kann: mit dem Euro, den Target-Salden, dem Niedergang der Autoindustrie und den Kosten für die Rettungspakete. Man muss ihm nicht immer folgen, Sinn poltert auch gerne mal und überzieht dabei. Lehrreich und lesenswert ist die Lektüre allemal.