Neue Zürcher Zeitung, 19. Februar 2022, Nr. 42, S. 28.
Mit ihrer Klimapolitik verlangt die EU ihrer Wirtschaft viel ab. Bis 2050 soll der CO2-Ausstoss auf null heruntergefahren werden. Durch die Verknappung von Emissionsrechten sollen die Preise für CO2 im europäischen Emissionshandel dramatisch erhöht werden, auch sollen mehr Sektoren einem solchen Handel unterworfen werden. Dazu kommen eine Vielzahl technischer Auflagen, die zum Energiesparen zwingen, und eine rabiate Beschränkung des Flottenverbrauchs der Autohersteller, womit man dem Verbrennungsmotor den Garaus macht.
Deutschland steht, getrieben von den Grünen, an vorderster Front der Entwicklung. Seine Stromkosten sind bereits die höchsten der Welt und sollen nun mit riesigen jährlichen Budgetmitteln heruntersubventioniert werden.
Der deutsche Autobau befindet sich seit 2018, als die Regelungen über den Flottenverbrauch besonders verschärft wurden, im freien Fall. Seit Mitte 2018 hat sich die Fahrzeugproduktion fast halbiert. In China erlebt VW mit dem Flop seiner E-Modelle gerade die Stunde der Wahrheit. Wegen der einschneidenden Umweltauflagen wurde die gesamte deutsche Industrie herzkrank. Schon vor der Pandemie begann die Produktion des verarbeitenden Gewerbes in Deutschland zu schrumpfen, während sie zum Beispiel in der Schweiz kräftig wuchs.
Teure Doppelstrukturen
Vielfach wurde behauptet, dass die grüne Energiewende quasi zwei Fliegen mit einer Klappe schlage, indem sie einerseits die Erderwärmung verlangsame und andererseits der eigenen Industrie einen Wettbewerbsvorteil im Vergleich zu anderen Ländern verschaffe: Da die Sonne keine Rechnung schicke, habe ein Land, dessen Energien grün seien, auf den Märkten einen Wettbewerbsvorteil und könne den Lebensstandard seiner Bevölkerung heben, hieß es jahrelang.
Dieses Argument ist falsch und verwegen. Es ist falsch, weil der technische Aufwand gigantisch ist. Da der grüne Strom den vorhandenen Kraftwerkspark weiterhin braucht, um Phasen ohne Wind- und Sonnenstrom zu überbrücken, entstehen teure Doppelstrukturen. Speicherlösungen sind so teuer, dass sie allenfalls für die Aufnahme überschiessender Stromspitzen in Betracht kommen.
Das Argument ist zudem verwegen, weil es unterstellt, dass Politiker Marktchancen besser erkennen können, als es die privaten Unternehmen selbst vermögen. Neuerdings räumen selbst grüne Politiker ein, dass die Energiewende teuer wird.
Das heisst nicht, dass man den Klimawandel hinnehmen soll. Der Klimawandel resultiert nun einmal aus einer weltweiten Externalität der Industrialisierung und des Bevölkerungswachstums. Die Korrektur der Fehlentwicklungen lässt sich am besten durch ein weltumspannendes koordiniertes Preissystem für CO2 realisieren.
Als praktischen Weg zu einem solchen weltweiten System hat der Nobelpreisträger William Nordhaus vorgeschlagen, in einem ersten Schritt einen Klimaklub zu gründen. Die Klubmitgliedschaft beinhaltet bindende Mengenbeschränkungen beim CO2-Ausstoss, doch auch den Vorteil des Freihandels, von dem Nichtmitglieder ausgeschlossen sind. Ein solcher Klub müsste aber, damit er attraktiv genug ist, neben der EU zumindest auch die USA, China und Indien umfassen.
Warum es allein nicht geht
Von der notwendigen Mindestgrösse eines solchen Klubs ist die Welt weit entfernt. Beim Abkommen von Paris hat sich nur ein knappes Drittel, konkret 60 der 196 unterzeichnenden Länder, zu numerisch spezifizierten Einschränkungen verpflichtet. Zwei Drittel haben nur zugestimmt, dass dieses eine Drittel sich einschränkt.
Auf die 60 Länder entfallen aber nur 35 Prozent des weltweiten CO2-Ausstosses. China und Indien haben sich auch an den nachfolgenden Klimagipfeln mit Händen und Füssen dagegen gewehrt, irgendwelche konkreten Zusagen zu machen. Und in den USA ist der mit grossem Elan angetretene Präsident Joe Biden beim Thema Klima ganz still geworden. Im August 2021 bat seine Regierung Saudiarabien, die Ölproduktion auszuweiten, um die Weltwirtschaft nicht zu gefährden.
Die grosse Streitfrage betrifft die Sinnhaftigkeit unilateraler Einsparungen, bevor die weltweite Koordination gelingt. Grüne Politiker vertreten die Auffassung, dass eine Reduktion des CO2-Ausstosses beim Individuum, beim einzelnen Staat oder auch bei der EU selbst dann geboten sei, wenn die anderen nicht mitmachten.
So verständlich und ehrenwert diese moralische Grundposition ist, so falsch sind die Voraussetzungen, auf denen sie basiert. Es ist nämlich im Allgemeinen nicht so, dass sich eine unilaterale europäische Reduktion des Einsatzes fossiler Brennstoffe überhaupt in einer Verminderung des weltweiten CO2-Ausstosses niederschlägt.
Um das zu erreichen, müsste Europa diese Brennstoffe in riesigen Mengen erwerben und auf seinem Territorium versiegeln, damit die Klimasünder nicht mehr an sie herankommen. Diese Idee ist so abwegig und teuer, dass sie niemand ernsthaft erwägt.
Die Folge ist, dass die freigegebenen Brennstoffe dann anderswohin geliefert und dort verbrannt werden. Der Mechanismus, durch den das geschieht, ist der übliche Preismechanismus. Die politisch verordnete Nachfrageminderung in Europa drückt den Weltmarktpreis, subventioniert damit die Umweltsünder anderswo auf der Welt und veranlasst sie, mehr Brennstoffe zu kaufen, als sie es sonst getan hätten.
Ob diese kompensatorischen Reaktionen der anderen Länder jede ursprüngliche Einsparung exakt wettmachen, ist diskutabel. Das hängt allein davon ab, wie die Anbieter der fossilen Brennstoffe reagieren. Extrahieren sie jene Mengen, die sie ohnehin geplant hatten, haben die moralisch handelnden Staaten gar nichts gewonnen.
Corona-Krise als natürliches Experiment
Bisweilen wird vermutet, dass die Senkung der Weltmarktpreise, die durch unilaterale Einschränkungen der Nachfrage hervorgerufen wird, manche Anbieter veranlassen wird, weniger zu fördern. Aber das ist nicht sehr wahrscheinlich, weil nach der ökonomischen Theorie der erschöpfbaren Ressourcen auch marginale Anbieter noch viel Luft bei den Preisen haben.
Es ist im Gegenteil auch denkbar, dass die Ressourcenanbieter auf fallende Preise mit einer Mehrproduktion reagieren. Dies geschieht zum einen, weil sie so kurzfristig die Erlöse stabilisieren können, die für die Finanzierung einiger Staaten eine wichtige Rolle spielen. Zum anderen tun sie es auch, weil sie in den Preissenkungen das Signal einer drohenden Vernichtung ihrer Absatzmärkte sehen und sich deshalb beeilen, ihre Bestände rasch noch zu verkaufen.
Mit diesem Argument, das in der Literatur als «grünes Paradoxon» bezeichnet wird, hat Vickram Bharrat, Minister für natürliche Ressourcen des südamerikanischen Staates Guyana, im August letzten Jahres offiziell begründet, dass sein Land nun die Exploration und den Abbau der eigenen Ölreserven forcieren werde.
Unter der Bedingung des «grünen Paradoxons» ist der moralische Unilateralismus der Europäer sogar kontraproduktiv, weil er vor die wirklichen Einschränkungen auf der ganzen Welt eine lange Vorlaufphase setzt, die den Ressourcenanbietern Zeit lässt, ihre Bestände noch zu verkaufen. Die nicht partizipierenden Länder haben nun den doppelten Vorteil, dass sie bei noch niedrigeren Preisen nicht nur die von den grünen Ländern freigegebenen Mengen, sondern auch noch die aus Angst vor der drohenden Marktvernichtung zusätzlich geförderten Bestände konsumieren können. Der Klimawandel beschleunigt sich in diesem Fall.
Zur Illustration der Problemlage bei fehlender Reaktion der Ressourcenanbieter kann eine auf einer grossen Sprungfeder gelagerte Kinderwippe dienen, wie man sie auf Spielplätzen sieht. Wenn man nur die eine Seite der Wippe herunterdrückt, geht die andere hoch. Zusammenpressen lässt sich die Sprungfeder nur, wenn beide Seiten zugleich belastet werden.
Wie die Ressourcenanbieter auf die unilateralen und gemeinsamen Nachfrageeinschränkungen reagieren, ist letztlich eine empirische Frage, für deren Beantwortung interessanterweise die Covid-Pandemie den Schlüssel liefern könnte. Die Pandemie ist das, was die Wissenschaft als ein «natürliches Experiment» bezeichnet.
Die Pandemie hat die Wirtschaftstätigkeit überall auf der Welt erlahmen und die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen schrumpfen lassen. Damit ergaben sich Effekte, die sich fundamental von vergangenen Konjunkturkrisen unterschieden, die meistens nur Teile der Welt erfasst hatten. Während also die bisherigen Konjunkturkrisen die Wippe nur auf einer Seite heruntergedrückt hatten, hat die Pandemie das nun auf beiden Seiten getan.
Abbildung: Die Förderung der Ölmenge wird allein durch weltweit koordinierte Maßnahmen beeinflusst
(Ölproduktion und Ölpreis in Prozent ihres jeweiligen Mittelwerts)
Ähnliche Darstellungen finden sich in H.-W. Sinn: The Green Paradox, 2012, Abb. 4.2 and 4.13, sowie darauf aufbauend, Steinkamp: Nachfrageorientierte Klimapolitik - Evidenz aus der Corona-Krise, Wirtschaftsdienst 2020. Steinkamps Daten enden im Gegensatz zu dem, was sein Titel sagt, jedoch im Februar 2020, also unmittelbar vor der Pandemie und dem hier sichtbaren Einbruch. Quellen: World Bank Commodity Price Data, US Energy Information Administration
Die Abbildung zeigt den Verlauf der weltweiten Rohölförderung und den Ölpreis auf dem Weltmarkt seit 1982, also dem Ende der zweiten Ölkrise. Man erkennt, dass die Fördermenge lange Zeit einem leicht steigenden Trend folgte, während die Preiskurve durch wilde Ausschläge gekennzeichnet ist. Diese Ausschläge hatten mit den Nachfrageschwankungen in verschiedenen Teilen der Welt zu tun, die durch lokale Konjunkturereignisse oder unilaterale Massnahmen zur Reduktion der Ölnachfrage zustande kamen.
Die Preisschwankungen führten in aller Regel nicht zu Änderungen der aggregierten Ölförderung. Die Wippe kippte mal zur einen, mal zur anderen Seite, doch ein Druck auf die grosse Sprungfeder in der Mitte entstand nicht. Auf dem Weltmarkt für Öl kam es zu einer blossen Umlenkung der Tankerflotten, ohne dass sich am Fördervolumen und somit am CO2-Ausstoss irgendetwas änderte.
Die Pandemie änderte dieses Muster schlagartig, weil sie zu einem abrupten Ausfall der Ölnachfrage in allen Ländern führte. Das liess den Ölpreis stark fallen und führte erstmals in fast vierzig Jahren zu einer erheblichen Reduktion der Ölförderung und zu einer entsprechenden Verringerung des CO2-Ausstosses.
Der Kern der grünen Misere
Das natürliche Experiment der Pandemie zeigt in aller Deutlichkeit, dass nur weltweit abgestimmte Einschränkungen der Nachfrage etwas erreichen können, während unilaterale Nachfrageeinschränkungen von einigen grün gesinnten Ländern wirkungslos bleiben.
Das ist der Kern der grünen Misere. Die EU nimmt durch die Einsparungen bei den fossilen Brennstoffen enorme wirtschaftliche Nachteile hin. Doch sie erreicht damit nur, dass die Industrien anderer Länder, die es mit dem Klimaschutz nicht ernst meinen, durch fallende Energiepreise gefördert werden. Durch das Quasiverbot der Verbrennungsmotoren gelingt es nicht, den Kohlenstoff in der Erde zu halten. Er entweicht nur anderswo in die Atmosphäre.
Viele grüne Politiker hoffen, das Beispiel der europäischen Energiewende könne Schule machen und andere Länder würden folgen, weil man ihnen ja zeigt, wie es geht. Man zeigt ihnen allerdings mit der Lähmung der eigenen Industrie eher, wie es nicht geht. Es ist schwer vorstellbar, dass andere Länder und Erdteile die für die Industrie ruinöse Strategie der Europäer kopieren werden.
Somit gibt es nur einen Weg zur Verlangsamung des Klimawandels: bindende weltweite Vereinbarungen in einem Klimaklub, der neben den Europäern mindestens die USA, China und Indien umfasst. Die Klubmitglieder verringern ihren CO2-Ausstoss dabei im Gleichschritt. Darauf sollte sich Europas Klimapolitik konzentrieren, sosehr eine moralisierende Sicht auch unilaterale Vorleistungen nahezulegen scheint.
H.-W. Sinn, "Kein Alleingang in der Klimapolitik. Die Corona-Krise als natürliches Experiment zeigt, weshalb es ohne einen Klimaklub mit den grössten Ländern nicht geht", Neue Zürcher Zeitung, 19. Februar 2022, Nr. 42, S. 28.
Online-Version des NZZ-Artikels: www.nzz.ch.
Englische Übersetzung: "No Unilateralism in Climate Policy. The Corona crisis is a natural experiment that shows why the world needs a climate club"