Wie vor etwa hundert Jahren klettern auch heute die Preise für viele Güter des täglichen Lebens immer schneller. Die deutsche Geschichte wiederholt sich trotzdem nicht.
Die Deutschen gelten als Inflationsphobiker. Genauso wie sich in den USA die Massenarbeitslosigkeit in den 1930er-Jahren den Menschen in das kollektive Gedächtnis einbrannte, wurde die Hyperinflation der frühen 1920er-Jahre zu einem kollektiven Trauma der Deutschen.
Noch heute fürchten die Amerikaner auch bei unbedeutenden Gelegenheiten eine sich verfestigende Massenarbeitslosigkeit, während die Deutschen in jedem kräftigeren Anstieg der Preise den Vorboten einer Hyperinflation vermuten, wie es vor mehr als 30 Jahren der damalige US-Finanzminister James Baker auszudrücken pflegte.
Dieser Glaubensstreit wurde in der vergangenen Dekade oft im Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) zwischen dem vom US-Gedankengut geprägten ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi und dem damaligen Bundesbankpräsidenten Jens Weidmann ausgetragen.
Ende 2020 mahnte der frühere ifo-Präsident Hans-Werner Sinn, im Geiste ganz an Weidmanns Seite, es sei bereits so viel Zentralbankgeld in Umlauf, dass einem schwindelig werden könne. „Es ist zu hoffen, dass es nicht so schlimm kommt wie nach dem Ersten Weltkrieg.“
Richtig ist, dass viele Ökonomen – auch die Verfasser dieses Textes – das gegenwärtige Inflationsrisiko unterschätzt haben. Inflationsraten von um die acht Prozent waren noch vor einem Jahr außerhalb des Vorstellungshorizonts. Droht der Bundesrepublik ein Comeback des Jahres 1923?
Heute ähnliche Instrumente wie früher
Vor hundert Jahren war für die Weimarer Republik der Erste Weltkrieg noch nicht wirklich beendet. Die junge Demokratie war mit der Umstellung auf die Friedenswirtschaft sowie der Bedienung der Reparationen befasst – und dies alles mit einer Währung, die immer stärker an Kaufkraft verlor.
Gleichwohl stand Deutschland Anfang des Jahres 1922 ökonomisch scheinbar besser dar, als man es hätte erwarten können. Während die Siegermächte USA, Großbritannien und Frankreich eine qualvolle Depression durchlebten, war die deutsche Industrieproduktion in Vorjahr um gut 20 Prozent gewachsen und die Arbeitslosenquote auf das Vollbeschäftigungsniveau von 1,4 Prozent gesunken.
Einzelne kritische Stimmen etwa in der „Berliner Börsen-Zeitung“ warnten allerdings vor einer „Scheinblüte“, da der Grund der hohen wirtschaftlichen Dynamik „in der zermürbenden Krankheit der deutschen Wirtschaft, der Entwertung der Mark“ läge. Doch galten Staatsverschuldung und Inflation nicht als die zentralen Probleme. Was zählte, war der Erhalt – via Beschäftigungsstabilisierung – des sozialen Friedens in der turbulenten Nachkriegszeit.
Die Reichsregierung glaubte, auf Konsolidierung verzichten zu können, und die Druckerpressen druckten in Massen frisches Geld. Denn auch der Staat profitierte vom Anstieg der Verbraucherpreise. Denn das Reich finanzierte sich größtenteils durch die Ausgabe von kurzfristigen, nur mit fünf Prozent verzinsten Schatzwechseln, die von der Reichsbank diskontiert wurden.
Um die Kosten der Kreditfinanzierung für den Staat so gering wie möglich zu halten, beließ die Reichsbank trotz dreistelliger Inflationsraten bis Ende Juli 1922 den Diskontsatz bei – aberwitzig niedrigen – fünf Prozent. Das Reich konnte sich also zu negativen realen Zinssätzen verschulden und dadurch entschulden – ähnlich wie dies der Bundesrepublik in den vergangenen Jahren dank der Null-Zins-Politik der EZB möglich war.
Reichsbank subventionierte Unternehmen, die Zugang zum Kredit hatten
Anders als vielfach heute geglaubt, stand diese Politik der Reichsbank keineswegs im Widerspruch zu den Interessen von Arbeitnehmern und Unternehmern. Vielmehr herrschte ein (stillschweigender) Konsens. Den von starken Gewerkschaften vertretenen Industriearbeitern gelang es durch eine Dynamisierung ihre Löhne, die Reallohnverluste weitgehend wettzumachen.
Gleichzeitig sank die Arbeitslosigkeit, da der Außenwert der Mark stärker zurückging als ihr Binnenwert. Trotz kräftig steigender Nominallöhne, also Gehälter ohne Berücksichtigung der Kaufkraft, in Deutschland verbilligten sich deutsche Waren für ausländische Käufer.
Das bereits damals etablierte deutsche Geschäftsmodell einer starken exportorientierten Industrie erlebte eine Blüte, denn auch die Unternehmen profitierten von der Inflationspolitik – und unterschätzten die Langfristfolgen sträflich. Im Januar 1921 sagte der Präsident des Elektrizitätskonzerns AEG und spätere Außenminister Walther Rathenau: „Es sei nicht richtig, wenn man sage, die Notenpresse mache uns kaputt.“
Die Exportindustrie konnte mit den Deviseneinnahmen neue Maschinen, Immobilien und ganze Betriebe zu äußerst günstigen Mark-Preisen kaufen, und der Konzentrationsprozess schritt rasant voran. Einzelnen Unternehmern wie etwa Hugo Stinnes gelang es, große Firmenimperien aufzubauen.
Die Reichsbank förderte diesen Konzentrationsprozess, indem sie nicht nur staatliche Schatzwechsel, sondern auch Handelswechsel von Privatunternehmen zu negativen Realzinssätzen diskontierte.
Damit subventionierte sie jene Unternehmen, die Zugang zum Reichsbankkredit hatten. Deren Schuldenberge wurden durch die Inflation jeden Tag real kleiner, während der Wert der erworbenen Sachwerte stieg.
Inflationsbefürworter änderten ihre Meinung
Ab der ersten Jahreshälfte 1922 begann die Inflationsspirale sich immer schneller zu drehen. Die Mark verlor schneller an Wert, als der Außenwert sank; die schleichende Inflation hatte zu galoppieren begonnen.
Der einstige Inflationsbefürworter, Außenminister Rathenau, kam zu der Einsicht, dass Deutschland „von seinem eigenen Fett“ lebe, die Konjunktur eine Blase sei und die Deutschen „die Ressourcen, die unsere Vorfahren in generationenlanger Arbeit angesammelt haben“, aufzehren würden.
Einen geordneten Ausweg aus dieser Abwärtsspirale gab es nicht. Bereits 1922 stieg die Inflationsrate auf 2.400 Prozent, ein Jahr zuvor hatte sie noch 65 Prozent betragen. Auf dem Höhepunkt der Krise, im November 1923, kostete ein Laib Brot 90 Milliarden Mark, Währung und Wirtschaft waren zerrüttet.
Sicher, in der Rückschau ist man stets klüger, und es stellt sich die Frage, wie dieser Zusammenbruch hätte verhindert werden können. Fakt ist: Die diversen Reichsregierungen seit der Kapitulation im November 1918 hatten keine praktikable Alternative zur Inflationspolitik.
Ein harter Austeritätskurs, also eine strenge Haushaltspolitik, wie ihn die Siegermächte – allesamt gefestigte Demokratien – ihrer Bevölkerung zumuteten, wäre für jede deutsche Regierung politischer Selbstmord gewesen. Und eine große Koalition der Vernünftigen war außer Reichweite.
Lehren aus der Vergangenheit
Was sind die Lehren aus dieser Erfahrung? Anders als vor hundert Jahren hat Deutschland keinen schuldenfinanzierten Krieg verloren, muss keine Reparationen leisten, und die Staatsverschuldung ist definitiv nicht besorgniserregend.
Die EZB unter Mario Draghi hat im Bemühen, partout das Inflationsziel von zwei Prozent zu erreichen, die Geldmenge in den vergangenen Jahren deutlich ausgeweitet. Fakt ist, dass dennoch der aktuelle Preisniveauanstieg keine direkte Folge der Niedrigzinspolitik und der massiven Anleihekäufe ist.
Vielmehr verteuerte sich Energie infolge des russischen Kriegs gegen die Ukraine drastisch, was nun über höhere Produktions- und Transportkosten auf zahlreiche andere Produkte durchschlägt. Zudem führte die Unterbrechung von Lieferketten dazu, dass zahlreiche Vorprodukte knapp und damit teuer wurden. Inflationsraten wie nach dem Ersten Weltkrieg drohen heute definitiv nicht.
Dennoch war und ist ein Ausstieg aus der ultraleichten Geldpolitik geboten. Denn es ist sicher: Jede einmal an Fahrt gewinnende Geldentwertung lässt sich nur unter massiven Anpassungsschmerzen zurückfahren. Die Erfahrungen der 1970er- und 1980er-Jahre namentlich in den USA zeigen dies deutlich. Inflation ist kein statistisches Problem. Sie entsteht immer dann, wenn die Menschen beginnen, über Inflation zu reden, und sie damit beschleunigen.
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