Der Spiegel, 28. September 2021, Sonderheft 39a, S. 78-82.
Zu den Oberen der deutschen Wirtschaft pflegte Angela Merkel ein eher kühles Verhältnis - und erntete für ihre akribische Art doch Respekt. Zum Ende ihrer Amtszeit ziehen Unternehmerinnen, Konzernchefs, Ökonomen und Gewerkschafter Bilanz: über Verdienste, Versäumnisse und Begegnungen mit der Kanzlerin.
Helmut Kohl fremdelte mit der Welt der Manager, die er für geschichtsferne Diener des Geldes (Kohl: »Bimbes«) hielt. Gerhard Schröder, der Genosse der Bosse, fühlte sich vom Lebensstil in den Chefetagen magisch angezogen. Angela Merkel dagegen näherte sich den Firmenchefs mit dem Abstand einer Frau, die in einem ostdeutschen Pfarrhaus groß geworden war. Mit dem breitbeinigen Gehabe vieler Konzernkapitäne konnte sie wenig anfangen. Umso näher standen ihr jene Wirtschaftslenker, die ihre Karriere Wissenschaft und Technik verdankten. Merkel, die Physikerin, überzeugte das Top-Management durch Fleiß, Intelligenz und jene Liebe fürs Detail, die ihr Markenzeichen wurde.
Noch größer war ihr Gespür für die begrenzte Bereitschaft der Deutschen für Reformen und Veränderung. Die vergangenen 16 Jahre waren eine Zeit des Wachstums, der Exporterfolge und des Beschäftigungswunders. Wie hätte man die Bundesbürger da zu Strukturreformen motivieren sollen? Dass sich Merkel so genügsam in die Ambitionslosigkeit ihrer Landsleute einschwingen konnte, ist wohl einer der Gründe, warum Ökonomen, Managerinnen, Unternehmer so unterschiedlich über ihre Regierungsjahre urteilen. In ihrer Erwartung an eine künftige Regierung sind sie sich dagegen überraschend einig.
Michael Sommer, Ex-DGB-Chef
Mit den Chefs der Einzelgewerkschaften war ich alle drei Monate zum Abendessen im Kanzleramt eingeladen. Wir saßen dann im achten Stock, in der sogenannten Kanzlerwohnung. Anfangs wurde jedes Mal Kassler serviert. Irgendwann habe ich gefragt: »Frau Merkel, gibt es eigentlich auch mal was anderes bei Ihnen?«
Sie fand das offensichtlich amüsant. »Der Koch denkt vermutlich, das wäre das Richtige für Sie«, sagte sie.
Danach gab es nie wieder Kassler. Die Kanzlerin war sehr aufmerksam.
Ich bin mir sicher, dass Angela Merkel zu Beginn ihrer Amtszeit wenig mit uns Gewerkschaften anfangen konnte. Aus der DDR kannte sie keine selbstbewussten, unabhängigen Gewerkschaften – auch in ihrer ersten Zeit in der CDU gab es nur wenig Kontakte. Dazu kam, dass sie in ihr Amt mit einem neoliberalen Reformkonzept starten wollte. Sie wollte die Kopfpauschale in der gesetzlichen Krankenversicherung durchsetzen, wir haben diese Politik damals leidenschaftlich bekämpft.
Unser Verhältnis entkrampfte sich in der Finanzkrise, da haben wir uns schätzen gelernt. In der Zeit waren wir oft im Kanzleramt, die Lage war ernst, es ging um Hunderttausende Arbeitsplätze. Ich habe in der ersten Krisensitzung gesagt: »Mein Ziel ist nicht, dass die Gewerkschaften Teil des Problems sind, sondern der Lösung.«
Wir verabredeten unter anderem die Ausweitung der Kurzarbeit, die Beschäftigten brachten ihre Arbeitszeitkonten ein, um Jobs zu sichern. Alle Gesetzentwürfe, auch die zum Finanzmarktstabilisierungsfonds, wurden damals mit uns besprochen.
Unser Draht blieb auch danach eng. Ich konnte sie binnen einer Stunde telefonisch erreichen, wenn es wichtig war.
Als der DGB im Oktober 2009 sein 60-jähriges Jubiläum im Berliner Konzerthaus feierte, saßen sie und der Bundespräsident in der ersten Reihe. Damals waren viele internationale Gewerkschaftschefs im Saal – und Merkel war offensichtlich beeindruckt. Ob wir nicht einfach am selben Nachmittag noch bei ihr im Kanzleramt vorbeikommen wollten, sagte sie. Das war gar nicht geplant. Ich fragte noch: »Und wie machen wir das mit der Sicherheit?«
Wenig später standen wir mit 80 internationalen Kolleginnen und Kollegen im Kanzleramt. Als mein britischer Kollege eine sehr lange Rede vortrug, sagte sie nach 20 Minuten: »Wenn Sie nur vorlesen, dann können Sie mir Ihr Manuskript auch einfach geben. Ich dachte, Sie wollen sich unterhalten.« An diesem Nachmittag nahm sie sich fast drei Stunden Zeit.
Wir waren nicht immer einer Meinung, aber wir fühlten uns respektiert, bei Merkels Vorgänger war das noch anders gewesen. Sie hinterlässt einen politischen Führungsstil, der unique war: unprätentiös und klar.
Ich glaube, dass die Gewerkschaften immer ein wenig freundlicher über sie gesprochen haben als die Arbeitgeberverbände. Als Barack Obama im Juni 2013 nach Berlin kam, richtete Merkel ein Dinner im Schloss Charlottenburg aus. Sie platzierte meine Frau und mich am Tisch des US-Präsidenten. Der damalige VW-Chef Winterkorn saß viel weiter weg. Die ganze Wirtschaftselite starrte den ganzen Abend zu uns rüber. Ich habe damals gedacht: »Wenn Blicke töten könnten.«
Hinterher hat Angela Merkel gesagt, sie habe dem US-Präsidenten mal zeigen wollen, wie wir in Deutschland zusammenleben und -arbeiten.
Doch Angela Merkel hat uns nichts geschenkt. Um den Mindestlohn haben wir am Ende meiner Amtszeit als DGB-Vorsitzender hart gerungen, wir brauchten lange bis zu einem Kompromiss: In einer ersten Phase sollten Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam die Mindestlöhne aushandeln. Die Kanzlerin wollte nicht, dass der Staat direkt in die Tarifautonomie eingreift. Das war ihr wichtig. Da hatte sie längst kapiert, wie soziale Marktwirtschaft funktioniert. Dass es darum geht, sich wechselseitig zu achten.
Ich kann jedem Nachfolger oder jeder Nachfolgerin von Angela Merkel nur raten, diesen politischen Stil beizubehalten. Eine funktionierende Wirtschaft braucht starke Tarifparteien – und gute Löhne und Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten.
Jürgen Hambrecht, Ehemaliger CEO von BASF und bis 2020 Aufsichtsratschef des Chemiekonzerns
Auch wenn Kritiker gern das Gegenteil behaupten, Angela Merkel ist eine Konservative im wahrsten Sinne des Wortes: bewahren, erhalten, behüten. »Deutschland geht es gut«, das war das Credo ihrer Regierungszeit. Und viele haben es gern geglaubt. Denn Krisen, von denen es während ihrer Regierungszeit ausreichend gab, hat sie unaufgeregt gemeistert. Woanders war es meistens schlimmer.
Im Vergleich zu anderen Staats- und Regierungschefs ihrer Zeit ist Angela Merkel integer und verlässlich. Als Mensch vereint sie viele gute Eigenschaften: Sie kann zuhören, ist analytisch brillant, versteht schnell größere Zusammenhänge und ist immer bestens vorbereitet.
Als Politikerin verfügt sie über außerordentliches taktisches Geschick: Kontroverse Themen vermeidet sie so lange, bis die Demoskopen oder die Mehrheit in der Partei den Weg weisen – wenn nötig um den Preis, sich die Positionen des politischen Gegners zu eigen zu machen. »Asymmetrische Demobilisierung« nennen das Fachleute. Nicht jedem in ihrer Partei hat das gefallen. Bei der Mehrheit der Wähler kam es hingegen gut an. Denn unangenehme Wahrheiten wollen die meisten lieber nicht hören, und Angela Merkel hat sie ihnen allzu oft erspart.
Diese taktische Stärke war zugleich ihr größter Schwachpunkt: Konsenspolitik bis zur Profillosigkeit. Nur ein Beispiel: Ohne realistisches Konzept für die Umsetzung hat sie den Atomausstieg und die Energiewende wider ihres eigenen besseren Wissens implementiert. Auch Infrastruktur, Digitalisierung und Bürokratieabbau sind in den 16 Jahren kaum vorangekommen.
Zu oft ist es bei der Formulierung großer Ziele geblieben. Konkrete Pläne, wie diese in die Tat umgesetzt werden können, blieb ihre Regierungsmannschaft schuldig. Die Folgen bekommen wir nun zu spüren, denn um uns herum ändert sich die Welt rasant. Und Deutschland fährt nicht vorn mit, sondern steht im Modernisierungsstau. Die Inhaltslosigkeit und Unlust des aktuellen Wahlkampfs sind der Schlusspunkt. Unter dem Strich: Ja, Deutschland ging es während der Regierungszeit von Angela Merkel gut – dafür gebührt ihr großer Dank. Eine wirkliche Zukunftsvision für Deutschland und Europa hat die Kanzlerin aber nicht entwickelt.
Joe Kaeser, ehemaliger Siemens-Chef, heute Aufsichtsratschef von Siemens Energy
Angela Merkel bin ich oft begegnet – bei politischen Treffen, bei Werksbesuchen, aber auch auf vielen Reisen als Mitglied ihrer Wirtschaftsdelegation. Besonders gern erinnere ich mich an ihre Besuche auf der Hannover Messe, wo sie immer auch beim Siemens-Stand vorbeischaute. Sie stellte dann Fragen, beispielsweise, wie wir in Deutschland mit der industriellen Digitalisierung vorankommen. Wohl wissend, dass sich hier die Zukunft der deutschen Industrie und damit auch die von Millionen von Arbeitsplätzen entscheidet. Ich erinnere mich an ihren Besuch in Hannover 2017, als wir als Gastgeschenk eine kleine »Kanzlerin«-Statue aus einem 3D-Drucker für sie bereitgestellt hatten. Als Symbol, was 3D-Druck schon alles kann. Das Geschenk sollte später in den Medien als »Mini-Merkel« tituliert werden. Da sie das wohl ahnte, nahm sie unser Präsent nachsichtig schmunzelnd entgegen.
Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte sie – zusammen mit Sigmar Gabriel – beim »Megaprojekt« Ägypten. Siemens wollte mehrere Kraftwerke in Ägypten für die Stromversorgung von mehr als 40 Millionen Menschen bauen. Trotz politischer Komplexität unterstützte Frau Merkel unser ambitioniertes Vorhaben. Am Ende stand der größte Vertrag in der Siemens-Geschichte.
Frau Merkel, das habe ich von vielen Gesprächspartner:innen im Ausland erfahren, aber auch bei ihren Auftritten live erlebt, hat Deutschlands Ansehen in der Welt gesteigert. Das ist für eine Exportnation wie unsere enorm wertvoll. Davor habe ich großen Respekt. Redlichkeit, Verlässlichkeit, Souveränität und eine unprätentiöse Coolness sind die Attribute, die weltweit mit ihr verbunden werden und die auch ich mit ihr verbinde. Dazu möchte ich eine unglaubliche Geduld nennen, die man nicht mit Aussitzen verwechseln sollte.
War Angela Merkel eine große Kanzlerin? Ich denke, ja. Sie ist als erste Frau und erste Ostdeutsche im Kanzleramt Vorreiterin und Vorbild für viele. Und sie hat in ihren 16 Jahren unser Land durch zahlreiche Krisen souverän geführt. Jedenfalls besser als die Chefs der meisten anderen Industrieländer. Die Merkel-Jahre stehen für eine Zeit wirtschaftlicher Prosperität.
Aber niemand ist perfekt. So hat auch sie Chancen vor allem bei der Vorbereitung unseres Landes auf den digitalen und ökologischen Wandel nicht genutzt. Ich glaube, dass die nächste Regierung mehr politischen Mut zeigen muss, um das Land auf die großen Umwälzungen einzustellen. Ein Weiter-so ist keine gute Idee, ein Systemwechsel hin zu einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft schon. Die Fußstapfen, die Angela Merkel hinterlässt, sind groß. »Wir schaffen das« zeigte ihren humanitären Willen und ihre Überzeugung für unser Land. Für einen Nachfolger, eine Nachfolgerin sollte das vor allem Ansporn sein.
Nicola Leibinger-Kammüller, Chefin des Maschinenbaukonzerns Trumpf
Wenn jedem Anfang ein Zauber innewohnt, dann ist jedem Abschied auch Wehmut inhärent. Wie für die meisten Deutschen war Angela Merkel in den knapp 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft für mich ein Sinnbild politischer Kontinuität. Wir sind auf den Monat genau in sehr unterschiedliche Ämter gelangt – sie an die Spitze des Landes, ich in die Führung eines mittelständischen Familienunternehmens. Das war im November 2005. Bereits ein Jahr später begegneten wir uns im Rat für Innovation und Wachstum der Bundesregierung – gemeinsam mit Annette Schavan als den einzigen drei Frauen der insgesamt 17 Mitglieder. Aus dieser Zeit rührt eine gewisse Verbindung, die sich später bei einer Auslandsreise nach China oder Besuchen unserer Firma festigen sollte.
Wie Helmut Kohl war sie nie eine Frau der Unternehmen, begeisterte sich aber mehr als ihre Vorgänger für Innovationen, Technik, komplexe wissenschaftlich-mathematische Zusammenhänge, wie zuletzt in der Pandemie oder in Fragen der Ökologie gesehen. Es wäre deshalb trivial, die Höhe der Unternehmensteuern, die Einführung einer Frauenquote oder den Atomausstieg als wirtschaftspolitische Quintessenz ihrer Kanzlerschaft zu begreifen, wie das gelegentlich geschieht. Ich halte Letzteren im Übrigen für falsch.
Entscheidender für die Gesamtbilanz erscheinen mir zwei andere Entwicklungen, die Angela Merkel mit scharfem analytischem Verstand und großer Ruhe begleitet hat und die mein Bild von ihr prägen: die Finanzkrise der Jahre 2008/09, vor allem aber das Heraufziehen einer neuen handelspolitischen Weltordnung mit China an der Spitze. Hierin, im Erfassen großer Linien und der entsprechenden Ausrichtung der Maßnahmen, liegt ihre historische Singularität.
Christoph M. Schmidt, Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Essen, von 2009 bis 2020 erst Mitglied, dann Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
SPIEGEL: Herr Schmidt, Sie haben Angela Merkel über zehn Jahre lang beraten. Sind Sie sicher, dass sie Ihre Studien gelesen hat?
Schmidt: Jedenfalls kannte sie von allen mindestens die zusammenfassenden Kapitel. Unser Sondergutachten zur Klimapolitik, das vor zwei Jahren erschienen ist, hat sie nach meinem Eindruck von der ersten bis zur letzten Seite durchgearbeitet. Als es im Klimakabinett vorgestellt wurde, hat sie uns Wissenschaftlern geholfen, die Ergebnisse ihren Ministerinnen und Ministern zu erläutern. Da konnte man merken, wie sehr Frau Merkel zugleich in der Wissenschaft und der Politik zu Hause ist.
SPIEGEL: Merkel hat die Ökonomen dafür kritisiert, dass sie das Fiasko der Finanzkrise nicht vorhergesagt haben. Können Sie das nachvollziehen?
Schmidt: Sie hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Wissenschaft Grenzen hat. Viele Wirtschaftswissenschaftler waren bereits vor der Krise frustriert, mit welcher apodiktischen Verve einige Vertreter unserer Zunft zuvor aufgetreten waren. Manche hatten sogar verkündet, dass der Konjunkturzyklus ausgedient habe und es nur noch nach oben gehe. In der Finanzkrise mussten sie dann wieder Demut lernen.
SPIEGEL: Im Jahresgutachten 2013 warfen Sie Merkel eine »rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik« vor. War das Tischtuch damit zerschnitten?
Schmidt: Nein. Angela Merkel war immer bewusst, dass der Sachverständigenrat nicht zum Lobpreisen, sondern als kritischer Begleiter der Regierungsarbeit berufen ist. Einige ihrer Minister haben sich damals mächtig aufgeregt, aber Frau Merkel blieb souverän. Sie hat es sich auch nie nehmen lassen, das Gutachten persönlich entgegenzunehmen, auch wenn eine Reise zu einem wichtigen Gipfel anstand und sie leicht aus Termingründen hätte absagen können.
SPIEGEL: War die Ära Merkel eine gute Zeit für die deutsche Wirtschaft?
Schmidt: Als sie ins Amt kam, war die Bundesrepublik bereits auf dem Weg, ihre unrühmliche Position als große lahmende Volkswirtschaft Europas zu überwinden. Dazu trugen neben einem günstigen außenwirtschaftlichen Umfeld und starken Exporten vor allem die Agendareformen ihres Vorgängers Gerhard Schröder bei. In der Folge ist die deutsche Industrie auf einer Erfolgswelle geschwommen, die fast 15 Jahre lang angehalten hat. Trotz Finanz-, Euro- und Flüchtlingskrise, trotz Atomausstieg und Pandemie.
SPIEGEL: War das Merkels Aufschwung?
Schmidt: Ursächlich sicher nicht. Aber die Kanzlerin hat internationale Krisen für Reformen genutzt. Als die Europäische Währungsunion vor dem Bruch stand, ist es ihr zusammen mit Wolfgang Schäuble gelungen, kurzfristiges Krisenmanagement mit der Vereinbarung eines stärker regelbasierten Rahmens für Europa zu verbinden.
SPIEGEL: Viele Kritiker sprachen damals eher von Durchwursteln.
Schmidt: Das klingt mir zu negativ. Das Duo Merkel und Schäuble hat dafür gesorgt, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt um einen Fiskalpakt ergänzt wurde. Das entscheidende »Whatever it takes« stammt zwar von Mario Draghi. Aber Angela Merkel hat den Satz politisch unterstützt. Das hat entscheidend dazu beigetragen, die Eurozone vor einem Sturz ins Chaos zu bewahren. Im Ausland war das Bewusstsein für diese Leistungen oft größer als in der Bundesrepublik. Wenn ich damals in Washington, Paris oder London unterwegs war, hat man die Deutschen oft um die Stabilität beneidet, die mit der Kanzlerschaft Merkels verbunden war.
SPIEGEL: Den Atomunfall von Fukushima hat sie zum endgültigen Ausstieg aus der Kernkraft genutzt. War das die richtige Entscheidung?
Schmidt: Langfristig hat Kernkraft vermutlich keine Zukunft, wegen des Endlagerproblems und des Restrisikos für einen Nuklearunfall. Frau Merkel hat einem langfristigen Konsens den Weg gebahnt und die Emotionen aus dem Thema genommen. Allerdings hat es die Kanzlerin versäumt, die richtigen Weichen für die Energiewende zu stellen. Wenn sie schon damals auf einen umfassenden Emissionshandel gedrungen hätte, der nach dem Vorschlag des Sachverständigenrats Wärme und Verkehr mit einbezogen hätte, könnten wir heute viel weiter sein.
SPIEGEL: Wo lagen Merkels Schwächen?
Schmidt: Die Kanzlerin war eine hervorragende Krisenmanagerin, aber sie hat keine überzeugende ordnungspolitische Vision vorgelegt, wie die deutsche Wirtschaft langfristig ihre Stärke und ihr Gewicht erhalten kann. Dadurch ist viel liegen geblieben, wie sich in der Pandemie gezeigt hat. So hat Deutschland ein großes demografisches Problem: Es gibt zu wenige Fachkräfte, und die Stabilität unserer sozialen Sicherungssysteme ist gefährdet. Unsere Verwaltung ist nicht zukunftsfähig, und bei der Digitalisierung sind wir nur Mittelmaß.
SPIEGEL: Was bedeutet das für die nächste Regierung?
Schmidt: In der Klimapolitik müssen wir vom Formulieren von Zielen zum Handeln kommen. Der Fachkräfteengpass am Arbeitsmarkt wird sich verschärfen. In den nächsten Jahren werden Millionen erfahrene Beschäftigte in den Ruhestand wechseln. Jetzt lautet eine zentrale Frage, wie wir die Produktivität des aktiven Teils der Bevölkerung so steigern können, dass der Wohlstand trotz der zunehmenden Zahl an Rentnerinnen und Rentnern zu halten ist.
SPIEGEL: Haben Sie eine Antwort?
Schmidt: Die steigende Lebenserwartung macht es unvermeidlich, dass wir länger arbeiten. Viele Deutsche werden künftig 85, 90 oder gar 100 Jahre alt. Das ist sehr schön, die zusätzlichen Lebensjahre können sie aber nicht nur im Ruhestand verbringen. Es wird nötig sein, auch die Phase der Erwerbstätigkeit zu verlängern. Die Regierung Merkel hat stattdessen mit der Rente ab 63 und der Mütterrente die Weichen in die falsche Richtung gestellt. Das ist wahrscheinlich eines der größten Versäumnisse ihrer Amtszeit.
SPIEGEL: Die andere Aufgabe ist der Kampf gegen die Erderwärmung. Was kommt hier auf die nächste Regierung zu?
Schmidt: Deutschland hat viel Zeit verloren. Deshalb befürchte ich, dass die nächste Regierung vor allem auf Verbote und Subventionen setzen wird. Das wäre der Weg ins Desaster, weil es Kreativität und Unternehmertum ausbremst. Besser wäre ein marktwirtschaftlicher Weg, mit einem höheren CO2-Preis, der die dringend notwendigen Innovationen und Investitionen anregt.
Hans-Werner Sinn, Ökonom und bis 2016 Präsident des ifo Instituts
Angela Merkel gilt als Realpolitikerin. Allerdings trifft das allein auf ihren Umgang mit den Machtstrukturen in Politik und Medien zu, die sie meisterlich ausbalancierte. Die scheidende Kanzlerin war keine Realpolitikerin in dem Sinne, dass sie den Gesetzen der Ökonomie und der Naturwissenschaften sonderliches Gewicht beimaß.
Beim Leipziger Parteitag 2003 versprach sie, die wirtschaftsliberalen Reformen von Gerhard Schröder zu erweitern und zu vervollständigen. Als sie merkte, dass sie damit bei den Medien nicht ankam, wandte sie sich von diesem Kurs ab. Das Wahlprogramm der CDU, für dessen Vorbereitung durch eine Kommission unter Leitung von Franz Josef Jung sie auch mich angeworben hatte, ließ sie fallen wie eine heiße Kartoffel. Das hielt die SPD in Schach.
Als promovierte Physikerin hätte sie die Bedeutung der Kernkraft für den Kampf gegen den Klimawandel erkennen müssen. Stattdessen gab sie einer momentanen Stimmung der Medien nach und verkündete nach der Havarie von Fukushima den Ausstieg aus der Kernkraft, und das nur wenige Jahre bevor die EU und die Grünen sie auch noch zur Verkündung des Ausstiegs aus der Kohle, dem Erdgas und dem Erdöl zwangen. Wenn nun Deutschland in eine inflationäre Kostenkrise hineinschlittert, gegenüber der die Ölkrisen der Siebzigerjahre ein Kinderspiel waren, muss sie sich das zurechnen lassen.
Auch bei ihrer Migrationspolitik hat sie vor allem auf den Druck der Fernsehbilder reagiert. Ihre Grenzöffnung hat nicht nur die Osteuropäer in Wallung gebracht, sondern war das Zünglein an der Waage für den Brexit. Im Gegensatz zu den großzügigen Griechenland-Hilfen, zu denen sie sich von Frankreich drängen ließ, machte sie keinen Finger für die Briten krumm. Damit hat sie Deutschland eines liberalen und weltoffenen Partners in der EU beraubt und den Weg in einen neuen europäischen Dirigismus und Protektionismus geebnet.
Angela Merkel hat dem Drängen der EZB nachgegeben, die Rettung der überschuldeten Länder der Eurozone mit der Druckerpresse betreiben zu dürfen. Sie hat dabei nicht nur den Maastrichter Vertrag unterlaufen und den Bundestag umgangen, sondern billigend in Kauf genommen, dass sich die EZB fast unwiderruflich einem auf lange Sicht inflationären Regime für die Eurozone verschrieben hat. Ihre Politik provozierte die Gründung der AfD.
Angela Merkel konnte sich 16 Jahre an der Macht halten, weil sie schnell die moralischen Positionen rivalisierender Parteien übernahm, bevor diese damit punkten konnten. Das war kein zufälliges Ergebnis ihrer Politik, sondern bewusste Strategie. Eine Verantwortungsethik, die sich an ökonomischen und naturwissenschaftlichen Gesetzen orientiert und eine andere Form von Realpolitik definiert, hat sie nur in dem Maße interessiert, wie die Medien es taten.
Rüdiger Grube, Ehemaliger Vorstandschef der Deutschen Bahn
Anfang September 2009, ich war gerade mal 125 Tage Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn AG, wurde ich vom zuständigen Vorstandskollegen über eine geplante Erhöhung der Ticketpreise informiert. Er erläuterte mir, dass – was ich schon wusste – in jedem Jahr im Dezember eine große Überarbeitung des Fahrplans anstehe und wegen des gesetzlichen Buchungsvorlaufs von drei Monaten Ende September die Preiserhöhungen vorgenommen werden müssten. Unglücklicherweise fiel das Datum mit der Bundestagswahl am letzten Septemberwochenende zusammen. Ich entschied, zumindest die Kanzlerin und den Bundesverkehrsminister kurz zu informieren.
Ich nahm über das Bundeskanzleramt mit der Büroleiterin Kontakt auf und bat um einen Termin, den ich auch umgehend bekam. Um der Kanzlerin nicht unnötig viel Zeit zu stehlen, entschied ich, gleich loszulegen. Während ich versuchte, ihr den gesamten Inhalt und das dahinter stehende Prozedere zu erklären, unterbrach sie mich und sagte: »Herr Grube, Sie müssen mir den Sachverhalt gar nicht weiter ausführen, die Sache ist doch völlig klar. Wir haben Sie und Ihre Vorstandskollegen beauftragt, sich auf das Geschäft der Deutschen Bahn AG zu konzentrieren, und zwar unabhängig von politischen Terminen und Ereignissen.« Ich war zutiefst beeindruckt von dieser klaren und schnellen Stellungnahme.
Später, wenn ich von dem einen oder anderen politischen Amtsträger mal gebeten wurde, ob man nicht den Bahnhof in seinem Wahlbezirk bei einer Erneuerung vorziehen könnte, obwohl der noch gar nicht dran war, habe ich immer von meinem Erlebnis mit der Bundeskanzlerin berichtet. Bemerkenswert war: Ich musste die Geschichte nie zu Ende erzählen, weil jedem klar war, was ich damit sagen wollte.
Lionel Souque, Rewe-Chef
Im April 2017 traf ich Angela Merkel in Köln. Die Kanzlerin informierte sich dort über Projekte von »Wir zusammen«, einer Integrationsinitiative der deutschen Wirtschaft. Abends spielte der 1. FC Köln gegen Eintracht Frankfurt. Rewe verzichtete bei diesem Fußballspiel auf die Trikotwerbung, stattdessen zierte das Logo der Initiative die Brust der Heimmannschaft. Die Kanzlerin schaute sich das Spiel an, vor allem sprach sie lange mit geflohenen Menschen und deren Kindern. Ihr aufrichtiges Interesse und ihre Empathie haben mich damals tief beeindruckt. Angela Merkel bemisst Deutschland offenbar nicht nur in den Dimensionen von wirtschaftlicher Stärke und politischer Macht; Humanität ist für sie ein absoluter Wert. Ich bin überzeugt davon, dass diese Grundhaltung – ganz gleich zu welchen Kontroversen ihre Politik auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 geführt hat – Teil ihres politischen Vermächtnisses sein wird.
Als Franzose in Deutschland bin ich immer wieder geneigt, Vergleiche anzustellen – politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche. Angela Merkel hat mit vier französischen Präsidenten ganz unterschiedlicher Art zusammengearbeitet. Und während es in Frankreich häufig mehr als turbulent zuging, war die Regierungspolitik in Deutschland manchmal verlässlich, manchmal langweilig, manchmal sprunghaft. Ich hätte mir hierzulande mehr Entschlossenheit gewünscht – vor allem beim Klimaschutz, aber auch bei Steuer- und Sozialreformen. Aber wenn ich dann unvoreingenommen den Blick jenseits des Rheins richte, glaube ich, dass viele Franzosen dankbar wären, ein wenig mehr von der Merkelschen Politik im eigenen Land erlebt zu haben. Vermisst habe ich allerdings eine engere Zusammenarbeit mit Präsident Emmanuel Macron in der Europapolitik.
Höchsten Respekt habe ich nicht zuletzt für ihre Entscheidung, selbst den Weg freizumachen für einen Wechsel im Kanzleramt. Jetzt hoffe ich auf eine Regierung mit lebendigem Reformwillen. Es geht auch, aber nicht allein um mehr Tempo beim Klimaschutz. Digitalisierung, Entbürokratisierung und die Stärkung des Unternehmertums sind zentrale Aufgaben. Wir brauchen mehr und schnellere Innovationen und eine Regierung, die mutig ist und konsequent handelt.
Dieter Zetsche, von 2006 bis 2019 Vorstandschef der Daimler AG
Vor 13 Jahren hatte ich einen Termin im Kanzleramt. Ich wollte Angela Merkel informieren, dass DaimlerChrysler als größter Aktionär beabsichtigt, sich schrittweise von seinen Anteilen an EADS / Airbus zu trennen. Die Kanzlerin drückte ihr Missfallen an diesem Plan deutlich aus und fragte, was passiere, wenn sie dies ablehne. Ich sagte, dann würden wir es trotzdem tun müssen. Frau Merkel: Dann lassen Sie uns gemeinsam an einer für Deutschland möglichst unschädlichen Umsetzung arbeiten.
Die kleine Anekdote zeigt wichtige Eigenschaften der Kanzlerin: pragmatisch, lösungsorientiert. Ich kenne keine andere Politikerin, keinen anderen Politiker, die in diesem Maß fragen und zuhören können – und deshalb meist am besten informiert war. Persönlich uneitel und integer konnte sie ihre Ziele unbelastet verfolgen, oft mit Erfolg. Dass diese Ziele eher mittelfristig und sachorientiert waren und selten langfristig visionär, ist sicher auch wahr. Aber für Deutschland und Europa war Angela Merkel in Summe ein Glücksfall.
Joachim Hunold, früherer Air-Berlin-Chef
Es gibt nicht viele Menschen, die einen so nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht haben wie Angela Merkel. Meine erste persönliche Begegnung fand bei einem Fundraising Event auf Sylt statt, das Inga Griese und Peter Schwenkow veranstaltet hatten. Frau Merkel war noch nicht lange als CDU-Vorsitzende im Amt, und alle waren neugierig auf sie. Obwohl sie der »Star« des Tages war, schlug sie leise Töne an. In den vielen persönlichen Gesprächen überzeugte sie mit tiefer Sachkenntnis. Eine Eigenschaft, die zu ihrem Markenzeichen werden und später manchem ihrer Minister schlaflose Nächte bereiten sollte. Einer ihrer Verkehrsminister brach einmal ein Abendessen mit mir ab, weil er am nächsten Tag ein Treffen mit Frau Merkel hatte. Begründung: »Wenn ich da nicht 100-prozentig vorbereitet bin, kriege ich eine Klatsche.«
Begeistern konnte sie mit ihrem trockenen Humor. Auf der großen politischen Bühne konnte sie den oft nur mit Gesten oder Blicken zum Ausdruck bringen – ich denke an ihren Besuch bei Trump –, aber bei manch anderer Gelegenheit auch direkter. Auf der Gala zum 30-jährigen Bestehen von Air Berlin lieferte sie eine Kostprobe davon ab. Ich hatte in meiner Festrede die Abschaffung der in meinen Augen unsinnigen Abgaben für die Luftverkehrsbranche gefordert. Sie trat danach ans Rednerpult, bedankte sich kurz für die Einladung und erklärte: Weil es am Abend Königsberger Klöpse gebe, eines ihrer Lieblingsessen, sei sie bereit, auf einige meiner Forderungen einzugehen. »There is no free lunch in this world!«, schloss Merkel. Die Lacher waren auf ihrer Seite.
Obwohl ich CDU-Mitglied war (und bin), hatte und habe ich an der von Angela Merkel geführten Bundesregierung manches auszusetzen. Vor allem wegen der Gängelung und steuerlichen Benachteiligung der deutschen Airlines gegenüber der ausländischen Konkurrenz. Beim Blick über die eigene Branche hinaus nötigte sie mir jedoch Respekt ab. Vor allem bei Besuchen im Ausland machte es mich stolz, wenn meine Gesprächspartner die Klugheit und das internationale Krisenmanagement von Frau Merkel lobten.
Dennoch bleiben in ihrer Bilanz zwei unübersehbare Minuspunkte: 2011 der überhastete Ausstieg aus der Kernenergie und 2015 der unkoordinierte Zuzug von Hunderttausenden Flüchtlingen, der am Ende die AfD groß und die CDU schwach machte. Grundsätzlich stört mich auch, dass die Volksparteien immer öfter nach der Pfeife von Minderheiten tanzen. In der falschen Hoffnung, deren Stimmen bei der nächsten Wahl zu gewinnen. Auf diesem Weg sind CDU/CSU und SPD jetzt wieder beim Thema Klimaschutz. Statt Hysterie sind hier jedoch Augenmaß und gesunder Menschenverstand gefordert.
Hildegard Müller, heute Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), bis 2008 Staatsministerin im Kanzleramt
Am 22. November 2005 wurde Angela Merkel nach sieben Kanzlern zur ersten Kanzlerin Deutschlands gewählt. Allein damit hat sie Geschichte geschrieben. Ihre Wahl war ein starkes Signal an alle Frauen – mindestens aber genauso an alle Männer in dieser Welt. Sie hat das notwendige Umdenken im Kopf in Gang gebracht, auch wenn in Fragen der Gleichberechtigung und Diversität noch viel getan werden muss.
Ich selbst war einige Zeit Staatsministerin bei Angela Merkel und bin stolz, diese wichtige Aufgabe innegehabt zu haben. Angela Merkel hat Deutschland in 16 Jahren als Kanzlerin sicher durch Krisen manövriert und souverän auf der Weltbühne vertreten. Ihre uneitle, charakterfeste und gleichzeitig ruhige Art, zu führen, ist einer der vielen Gründe, warum sie bei den Menschen höchstes Vertrauen genießt und seit Jahren die Liste der beliebtesten Politiker und Politikerinnen anführt.
Innehalten, nachdenken, bevor man falsche Entscheidungen trifft. Und sich zu hinterfragen: Hast du alles durchdacht, auch vom Ende her? Das habe auch ich von ihr gelernt. Gerade in den hektischen Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung halte ich dies für richtig. Angela Merkel war und ist immer perfekt vorbereitet, kennt selbst die kleinsten Details zu den Themen auf der Agenda. Diese akribische Vorbereitung, die Neugier und die Maxime, Chancen und Konflikte vorab zu identifizieren, ist in einer komplexer werdenden Welt von unschätzbarem Wert.
Das gilt auch für eine unserer größten gemeinsamen Aufgaben – den Kampf gegen den Klimawandel und die Transformation zu einer klimaneutralen Wirtschaft. Die neue Regierung muss ihre Entscheidungen in dem Bewusstsein treffen, dass unser Weg zur Klimaneutralität weltweit nur dann kopiert wird, wenn wir beim Erreichen der Klimaziele wirtschaftlich erfolgreich sind und die Gesellschaft mitnehmen, also den Wandel sozialverträglich gestalten.
Angela Merkel hat mal gesagt: »Mit dem Kopf durch die Wand wird nicht gehen. Da siegt zum Schluss immer die Wand. Auch wenn viele aktuelle Herausforderungen emotional berühren –Entscheidungen müssen mit klarem Kopf und Kompass, Mut und Beharrlichkeit sowie dem Abwägen der Folgen und dem Ziel, die Gesellschaft zusammenzuhalten, getroffen werden. Das wünsche ich mir auch von der neuen Bundesregierung.
Ann-Kristin Achleitner, Investorin und Multi-Aufsichtsrätin
Angela Merkel hat früh erkannt, welche strategische Bedeutung in Innovationen steckt. Sie sorgen nicht nur für Wachstum und Wohlstand. Sie sind auch der Schlüssel zur Lösung großer gesellschaftlicher Herausforderungen wie Klimaschutz und Pandemiebekämpfung. Bereits im ersten Jahr ihrer Kanzlerschaft, 2006, richtete sie die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) ein, der ich bis 2011 angehörte. Sie ernannte die Leopoldina zu einer Nationalen Akademie und die Acatech zur Deutschen Akademie der Technikwissenschaften, beide sollen die Politik beraten. Für Merkel ist das kein Feigenblatt, sie legt höchsten Wert auf fundierte Analysen, will komplexe Sachverhalte im Detail durchdringen.
Angela Merkel hat ihr Engagement für Forschung und Innovation auch finanziell unterfüttert: Kein anderes Politikfeld hat während ihrer Amtszeit einen höheren Mittelzuwachs erfahren. Ein Schritt in die richtige Richtung ist auch der neue Zukunftsfonds. Er soll die Wachstumsfinanzierung in Deutschland stärken und damit eine Lücke in der Start-up-Förderung schließen. Geld ist aber nicht alles. Bei vielen Themen fehlte es an Umsetzungsgeschwindigkeit, zum Beispiel bei der steuerlichen Förderung von Forschung und Entwicklung. Die EFI und weitere Experten hatten sie nachdrücklich empfohlen. 2009 stand die Förderung schließlich im Koalitionsvertrag. Bis zur Umsetzung vergingen volle zehn Jahre. Der Faktor Zeit spielt im internationalen Wettbewerb aber eine entscheidende Rolle. Die USA und China drücken bei künstlicher Intelligenz, Quantentechnologien, Weltraum und Biotechnologie mächtig aufs Tempo. Die Innovationszyklen werden immer kürzer. Auch Deutschlands Verwaltungspraxis hinkt hinterher. Der Überlebenskampf der Agentur für Sprunginnovationen ist da ein mahnendes Beispiel. Die Agentur sollte nach dem Vorbild der amerikanischen Defense Advanced Research Projects Agency (Darpa) radikale Innovationen fördern, erstickt jedoch an Regelungsdichte, Bürokratie und ministerieller Risikovermeidungskultur. Die Kanzlerin selbst räumte kürzlich ein, dass angesichts fehlender Freiräume keine großen Sprünge von der Agentur zu erwarten seien. Von der neuen Bundesregierung wünsche ich mir deshalb mehr Ambition, mehr kreativen Mut und mehr Agilität.
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