Financial Times Deutschland, 30. Mai 2011, Nr. 101, S. 24.
Hohe Kapitalexporte vor der Euro-Krise haben Deutschland zu schaffen gemacht. Wie man es auch dreht und wendet: Letztlich gehen so Investitionen im Inland verloren
Beispiele helfen. Jedenfalls wenn sie den Kern treffen, was in der komplexen Welt der Ökonomie nicht immer gelingt. Gustav Horn und Fabian Lindner haben in einem Beitrag für die FTD das Beispiel des Bäckers bemüht, um meine These anzugreifen, dass Deutschland in der Zeit vor der Euro-Krise unter hohen Kapitalexporten gelitten hat. Ich sage: Durch die Kapitalexporte wurde deutsches Sparkapital ins Ausland verschoben und fehlte für Investitionen im Inland. Die beiden Autoren meinen dagegen, dass „Giralgeld aus dem Nichts“ geschaffen werde.
Mag sein, dass die Vorstellung vom Kredit aus dem Nichts vielen gefällt. Die Welt ist aber kein Schlaraffenland. Güter und Kredite sind in der Regel knapp und lassen sich nicht herbeizaubern.
Der Nettokapitalexport eines Landes entspricht per Definition der Differenz zwischen Exporten und Importen (abzüglich jenes Teils der Güter, die verschenkt werden). Kapital- und Gütersalden bedingen einander. Bei den kurzfristigen, konjunkturellen Wirtschaftszyklen bestimmen die Güterströme häufig die Kapitalströme. Im längerfristigen Trend ist es aber umgekehrt. Insbesondere wenn es exogene Einflüsse auf die Kapitalströme gibt – wie den Fall des Eisernen Vorhangs und die Einführung des Euro, aber auch die Deregulierung des Kapitalmarkts in den USA, die der Produktion getürkter Finanzprodukte Vorschub leistete. Damals drängte das Kapital aus Deutschland heraus: in die USA, nach Osteuropa und in die südwestliche Peripherie des Euro-Raums, was die Standortdebatte auslöste.
Die Länder in der Peripherie der Euro-Zone erlebten daraufhin einen Bauboom, der die Binnenwirtschaft anschob. Die Einkommen stiegen und mit ihnen die Importe. Zugleich sorgte die sinkende Arbeitslosigkeit für höhere Löhne, was wiederum die Exporte dämpfte. Das daraus resultierende Leistungsbilanzdefizit öffnete dem Kapital die Schleusen.
In Deutschland war es umgekehrt. Unser Land hatte in den vergangenen 15 Jahren die niedrigste Nettoinvestitionsquote aller OECD-Länder, das zweitniedrigste Wachstum (rote Laterne!) und eine Massenarbeitslosigkeit, die die Regierung Schröder zu schmerzlichen Sozialreformen und die Gewerkschaften zur Lohnzurückhaltung zwang.
Wir fielen beim BIP pro Kopf vom dritten (1995) auf den zehnten Platz (2009) der EU. Die niedrigen Lohnsteigerungen belebten die Exporte, das geringe Wachstum dämpfte die Importe. Deutschland entwickelte den größten Kapitalexport und Leistungsbilanzüberschuss der Welt nach China. Von 2002 bis 2010 hatte Deutschland eine gesamtwirtschaftliche Ersparnis von 1622 Mrd. Euro. Davon flossen 1067 Mrd. Euro als Nettokapitalexport ins Ausland (vier Fünftel davon als Finanzkapital, der Rest als Direktinvestition). Nur 554 Mrd. Euro, gerade mal ein Drittel, wurden zu Hause investiert. Kein Wunder, dass Deutschland erlahmte und erst heute wieder boomt, weil die Kapitalanleger sich nicht mehr hinaustrauen.
Nun zum Beispiel des Bäckers, der hier für Deutschland steht. Der Bäcker liefert – in Bezug auf den Wert – mehr Brot, als er selbst von anderen Produzenten in Form von Konsumgütern, eines Backofens (Investition) oder von Mehl (Vorleistungen) erwirbt. Sagen wir, der Wert des Brotes sei 100, des Mehls 20, des Konsums 25 und des Ofens 10. Dann ist der Leistungsbilanzüberschuss des Bäckers 45 (= 100 – 20 – 25 – 10), und 45 ist auch der Kapitalexport. Letzteres gilt, weil das Einkommen des Bäckers 80 ist (= 100 – 20 für das Mehl) und nach Abzug des Konsums von 25 eine Ersparnis von 55 verbleibt.
Zieht man die Investition in den Ofen von der Ersparnis ab, verbleiben 45 für den Kapitalexport des Bäckers. Über seine Bank überträgt der Bäcker Kreditnehmern das Verfügungsrecht auf Waren. Zu sagen, dass der Bäcker Kapital exportiert oder dass er einen Leistungsbilanzüberschuss hat, ist inhaltlich dasselbe, so unterschiedlich diese Begriffe klingen mögen.
Der Zielkonflikt bleibt
Der Bankkredit ermöglicht es den Kreditnehmern, ein Leistungsbilanzdefizit zu realisieren. Sie dürfen temporär mehr Konsumgüter oder Investitionsgüter kaufen, als sie selbst an Einkommen erwerben. Erst später, sofern der Kredit zurückgezahlt wird, kann der Bäcker ebenfalls mehr als sein Einkommen konsumieren.
Horn und Lindner behaupten nun, dass es keinen Zielkonflikt zwischen der Verwendung der Ersparnis für die eigene Investition und den Kapitalexport gibt. Dabei gehen sie, ohne dies zu benennen, vom keynesianischen Spezialfall der Unterbeschäftigung des Bäckers aus. Richtig ist, dass ein Mehr an Nachfrage nach Brot in diesem Fall beim Bäcker mehr Einkommen und bei gegebenem Konsum und gegebener Investition mehr Ersparnis und Kapitalexport bedeutet. Aber das heißt nicht, dass es keinen Zielkonflikt gibt. Je mehr Kapital der Bäcker über seine Bank exportiert, desto weniger kann er selbst konsumieren oder in neue Öfen investieren.
Im Übrigen schafft die höhere Nachfrage beim Bäcker nicht mehr Einkommen, wenn das Bäckergewerbe bereits voll ausgelastet ist. Dann wird der Bäcker entweder die Preise erhöhen oder Bäckergesellen von seinen Konkurrenten abwerben. Dies ist der Normalfall, auf den sich Ökonomen beziehen, wenn sie längerfristige Wirtschaftsentwicklungen jenseits einer akuten Wirtschaftskrise beschreiben.
An dem Sachverhalt ändert sich auch dann nichts, wenn man die Geldschöpfung einbezieht, denn wenn es keine Inflation geben soll, muss die Zentralbank die Geldmenge unter Kontrolle halten. Investitionen und Kapitalexporte sind immer durch die verfügbaren Ersparnisse begrenzt und stehen im strikten Konflikt miteinander.
Aus dem Nichts lassen sich Ressourcen in der wirklichen Welt nun einmal nicht schaffen.