Der Mythos vom Marshall-Plan: Kein Vorbild für die Ukraine

Dr. Michael Brackmann, Handelsblatt online, 3. Februar 2023.

Das Aufbauprogramm von 1948 gilt als Blaupause für die Nachkriegs-Ukraine. Doch es kann kaum als Vorbild für das von Russland zerstörte Land dienen.

Im September 1944 – die Niederlage Deutschlands stand längst fest – lief die Propaganda-Maschine der Nationalsozialisten noch einmal zur Hochform auf. Mit dem geheimen, aber durchgesickerten „Morgenthau-Plan“, schrieb der „Völkische Beobachter“, wolle „das Weltjudentum die Deutschen versklaven“.

Tatsächlich hatte US-Finanzminister Henry Morgenthau vorgeschlagen, Deutschland nach Kriegsende zu deindustrialisieren. Ein agrarisches Armenhaus sollte es werden, von dem nie wieder Gefahr für den Weltfrieden ausgehen würde.

Die NS-Propaganda knüpfte ihre Durchhalteparolen an Warnungen vor „Judas Mordplan“ und dem „fanatischen Hasser“ Morgenthau. Selbst Adolf Hitler ging in seiner letzten Rundfunkrede im Januar 1945 auf die US-Nachkriegsplanungen ein und appellierte an die „Widerstandskraft unserer Nation“, um die „jüdisch-internationale Weltverschwörung“ abzuwehren.

Hitler hatte allerdings nur einen Popanz aufgebaut. Denn der US-Generalstab und die Nachkriegsplaner im State Department hatten Morgenthaus Konzept eines „Straffriedens“ bereits seit Monaten ad acta gelegt.

Die Planungsstäbe wussten: Würde Deutschland eine industrielle Wüste in der Mitte Europas, könnte (West-)Europa nicht wieder aufgebaut werden, was den politischen, aber auch ökonomischen Interessen der USA widersprochen hätte.

Schon deshalb setzten die US-Planer trotz der monströsen NS-Verbrechen für die Zeit nach dem Ende der Kampfhandlungen von vornherein auf eine weiche und konstruktive Deutschlandpolitik. Morgenthaus harter und destruktiver Vorstoß, auch gegen die Nachkriegsplaner der eigenen Regierung, musste scheitern. Im April 1945 trat der Finanzminister resigniert zurück.

Die Propaganda vom „Judas-Mordplan“ aber, die das NS-Regime in die Köpfe der Deutschen gehämmerte hatte, lebte weiter – bis US-Außenminister George C. Marshall im Juni 1947 das European Recovery Program (ERP) und damit das glatte Gegenteil des Morgenthau-Plans ankündigte. Statt „Judas Mordplan“ hieß es bald: „Freie Bahn dem Marshallplan“.

Ein kollektives Aufatmen ging durchs Land, ein Aufatmen, das sich tief ins Gedächtnis der (West-)Deutschen eingraben sollte. Die Popularität des Marshallplans, der von einer bis dahin beispiellosen Medienkampagne begleitet wurde, ist bis heute beinahe ungebrochen.

Kanzler Helmut Kohl etwa erklärte 1987, die US-Initiative bleibe für alle Zeiten Ausdruck „staatsmännischer Weitsicht mit mitmenschlicher Anteilnahme“. Sein Nachfolger Gerhard Schröder betonte 2002, die Bundesrepublik habe „dank der amerikanischen Unterstützung einen beispiellosen wirtschaftlichen Wiederaufstieg erlebt“.

nd Kanzler Olaf Scholz (SPD) formulierte im Oktober 2022, beim Wiederaufbau der kriegszerstörten Ukraine gehe es „um nicht weniger, als einen neuen Marshallplan des 21. Jahrhunderts zu schaffen“.

Wenig am historischen Vorbild orientieren

Dem schloss sich in Berlin die internationale Expertenkonferenz über den Wiederaufbau der Ukraine an. Notwendig sei ein „internationaler Kraftakt“, so Scholz, weil die Ukraine im Kampf gegen Russland auch „die Grundlage unseres friedlichen Zusammenlebens und des Wohlstands weltweit verteidigt“.

Wenn dem so ist, kann man der Ukraine allerdings nur wünschen, dass die Fachleute sich möglichst wenig am historischen Vorbild orientieren – denn als Blaupause für die Ukraine ist der Marshallplan denkbar ungeeignet. Das zeigt schon ein Blick auf das Hilfsvolumen.

Im Rahmen des ERP-Gesetzes, das Präsident Harry S. Truman im April 1948 in Kraft setzte, flossen bis 1952 Hilfen von 13 Milliarden Dollar – heute wären das umgerechnet 142 Milliarden Dollar – an 16 Länder. Großbritannien profitierte mit 3,4 Milliarden Dollar am meisten, gefolgt von Frankreich und Italien. Die Bundesrepublik lag mit 1,4 Milliarden Dollar auf Platz vier.

Angesichts der massiven Zerstörung ukrainischer Infrastruktur durch russisches Militär ist offensichtlich, dass selbst das Gesamtvolumen des Marshallplans bei Weitem nicht für den Wiederaufbau des Landes ausreicht. Bereits im Oktober belief sich die Schätzung der Expertenkonferenz auf 750 Milliarden Dollar, Tendenz steigend.

Neben Lebensmitteln, Waren und Rohstoffen flossen über den komplizierten Verrechnungsmechanismus der Gegenwertfonds auch Dollar-Kredite nach Westeuropa. Die Bundesrepublik etwa bekam ERP-Kredite im Umfang von 5,2 Prozent des 1952 erzielten Bruttoinlandsprodukts (BIP).

Nicht unbedingt Marshallplan ausschlaggebend für Aufschwung

Der frühere Chef des Münchner ifo Instituts, Hans-Werner Sinn, hat schon vor Jahren hervorgehoben, dass Griechenland während seiner Staatsschuldenkrise bis Mitte 2015 internationale Gelder erhielt, die 36 deutschen Marshallplan-Hilfen entsprochen hätten. Zwischen dem historischen „Vorbild“ und den Wiederaufbaubedürfnissen der Ukraine klafft eine Riesenlücke.

Wegen des geringen Umfangs der Hilfe konnte von ihr gar keine „Initialzündung“ für Westeuropas Wiederaufbau ausgehen. Der US-Ökonom Barry Eichengreen schätzt, dass die US-Initiative das jährliche BIP der 16 Empfängerländer nur um durchschnittlich 0,5 Prozentpunkte erhöhte.

Der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser hat die „Initialzündungs“-These ebenfalls widerlegt. In Italien und Westdeutschland beispielsweise war nicht der Marshallplan ausschlaggebend für den Nachkriegsaufschwung, sondern ein trotz aller Kriegsverwüstungen weitgehend intakter industrieller Kapitalstock.

Das am meisten begünstigte Großbritannien setzte nicht einen einzigen ERP-Dollar im Mutterland ein. Das gesamte Geld floss in den erfolglosen Versuch, die antikolonialen Kräfte im British Empire zu bekämpfen.

Hält man sich vor Augen, dass Italien weniger Marshallplan-Hilfe forderte, als es hätte bekommen können, und berücksichtigt man, dass in der frühen Bundesrepublik die Mittel aus den ERP-Gegenwertfonds nur 3,5 Prozent der Bruttoanlageinvestitionen finanzierten, wird deutlich: Der Marshallplan taugt nicht als ökonomisches Rezept für den Wiederaufbau der Ukraine.

Er diente vorrangig dem Zweck, die Umstellung der US-Wirtschaft abzusichern – weg von der Produktion militärischer hin zur Produktion ziviler Güter. Ohne den Markt Westeuropa wäre das unmöglich gewesen. Die USA exportierten damals deutlich mehr, als sie importierten, heute verhält es sich umgekehrt.

Es ist kein Zufall, dass Außenminister Marshall den Plan keine drei Monate nach einer Rede seines Präsidenten vorstellte, die in die Geschichte eingehen sollte. Truman hatte im März 1947 allen „freien Völkern“ volle Unterstützung gegen Umsturzversuche der Sowjetunion versprochen. Aus den Alliierten der Anti-Hitler-Koalition waren Antipoden des Kalten Kriegs geworden.

Treiber war die Eindämmungsstrategie gegenüber Moskau

Konkret richtete sich die „Truman-Doktrin“ gegen Versuche der Sowjetunion, ihre Einflusssphäre in Griechenland und der Türkei auszuweiten. Dass die zwei Länder dann zu den ERP-Empfängern gehörten, zeigt: Der Marshallplan war die ökonomische Flanke von Trumans Eindämmungsstrategie gegenüber Moskau – und somit selbst politisch hoch aufgeladen.

Heute leben wir im Kalten Krieg 2.0. Angesichts der Ambitionen von Wladimir Putin, ein neues großrussisches Reich zu schaffen und damit den Untergang der Sowjetunion „ungeschehen“ zu machen, stellt sich die Frage: Bietet zumindest der politische Strang des Marshallplans Ansätze für die Nachkriegsukraine?

Natürlich strebt die Ukraine, wie damals die ERP-Länder, ins westliche Lager. Inzwischen ist sie Beitrittskandidat der Europäischen Union. Doch sollte die Ukraine, der politisch-strategischen Logik von Marshallplan und Truman-Doktrin folgend, auch Mitglied der Nato werden? Da gibt es erhebliche Zweifel.

Als Mitglied des westlichen Militärbündnisses würde sie dem Kreml wohl nur den Vorwand für einen neuen Casus Belli liefern. Zum Schutz vor Aggressoren bieten sich stattdessen, wie von Minsk vorgeschlagen, Sicherheitsgarantien an. Allerdings stellt sich die Frage: Wäre die Nato, die vor allem einen offenen Konflikt mit der Atommacht Russland vermeiden will, überhaupt in der Lage, genügend Garantien zu geben? Auch daran bestehen erhebliche Zweifel.

In ihrem Verteidigungskrieg braucht die Ukraine zwar massive Unterstützung aus dem Ausland – den Wiederaufbau aber will Kiew trotz aller westlichen Hilfe nicht fremdbestimmt, sondern selbst organisieren.

Schon deshalb wird die Ukraine sich nicht an der politischen Architektur des Marshallplans orientieren, den die rein US-amerikanisch geprägte Economic Cooperation Administration steuert. Sie unterhielt Büros in sämtlichen ERP-Ländern.

Aufgabe der zeitweise bis zu 7000 Mitarbeiter war es, die Verwendung der Hilfslieferungen zu überwachen. Letztlich lag die Entscheidung über den Einsatz der Mittel bei den USA – der Kongress musste die Tranchen jedes Jahr neu genehmigen. Das ursprünglich vorgesehene Hilfsvolumen von 17 Milliarden Dollar jedenfalls wurde mit 13 Milliarden Dollar deutlich unterschritten.

Der Marshallplan als „Speerspitze des Dollar-Imperialismus“? Keinesfalls

Die US-Prärogative bei der Überwachung und Genehmigung erstreckte sich auch auf die Gegenwertfonds. In diese mussten Importeure von ERP-Waren Gelder in den jeweiligen Landeswährungen zahlen, die mehr oder weniger dem Dollar-Wert der Hilfen entsprechen sollten.

Zweifellos verringerte der Mechanismus die damaligen Devisen- und Zahlungsbilanzprobleme vieler ERP-Empfängerländer – und stärkte so zumindest indirekt auch die Funktion des Dollars als Leitwährung. Kritiker leiten daraus den Vorwurf ab, der Marshallplan sei nichts anderes als die „Speerspitze des Dollar-Imperialismus“ gewesen.

In der Kritik schwingt vor allem ein Vorwurf mit: Das Hilfsprogramm sei den Bevölkerungen gegen deren Willen aufoktroyiert worden, um „linke“ Politik, vor allem die Verstaatlichung von Grundstoffindustrien, zu verhindern. Trifft der Vorwurf zu?

Davon kann keine Rede sein. Die westdeutschen Gewerkschaften etwa stimmten der US-Initiative ebenso freiwillig zu wie Frankreichs Sozialisten und die britische Arbeiterbewegung. Der Historiker Lutz Niethammer diagnostiziert sogar eine „sozialdemokratische Überidentifikation mit dem Marshallplan“, zum Teil wurden die Gewerkschaften zum „Motor“ der ERP-Agitation.

Ablehnung kam nur von den Kommunisten, weil der „imperialistische“ Marshallplan eine wirtschaftliche „Neuordnung“ verhindere. Die Beispiele Großbritannien und Österreich zeigen aber, dass die Verstaatlichung von Grundstoffindustrien auch unter der Regie des Marshallplans möglich war.

Die positivste Wirkung der US-Initiative besteht darin, dass sie die Idee der Einigung und Kooperation in (West-)Europa verankert hat. Der Ausschuss für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) beispielsweise, in dem die ERP-Länder zusammenkamen, gilt als Vorläufer der heutigen Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).

Den Bedürfnissen der US-Exportwirtschaft entsprechend, in Westeuropa einen möglichst einheitlichen Wirtschaftsraum zu schaffen, der gute Absatz- und Anlagemöglichkeiten für amerikanische Waren und Kapital bieten sollte, entstand im Rahmen der OEEC auch die Europäische Zahlungsunion. Sie führte 1950 ein System mit festen Wechselkursen zwischen den westeuropäischen Währungen ein. Die Idee der Montanunion wurde ebenfalls bereits in der OEEC diskutiert.

Vor allem die drei Westzonen und die frühe Bundesrepublik profitierten von dem Integrationsschub. Durch ihre Mitwirkung konnte sich Westdeutschland vom Stigma eines „Paria-Staats“ befreien, das den NS-Verbrechen geschuldet war.

Mythos vom Marshall-Plan befreien

Auch das lässt sich kaum mit der Lage in der Ukraine vergleichen. Die Ukraine ist kein Paria-Staat. Sie befindet sich vielmehr in einem heroischen Abwehrkampf gegen Putins Angriffskrieg und wurde dafür ja auch schon mit dem Status eines EU-Beitrittskandidaten „belohnt“. Der positivste Aspekt des Marshallplans ist für Kiew also bereits Realität, er muss nicht mehr mit einem „internationalen Kraftakt“ verwirklicht werden.

Vor allem in der Bundesrepublik ist der Irrglaube nach wie vor weit verbreitet, die Verbesserung der Lebensbedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg sei vor allem dem Marshallplan zu verdanken. Dabei hatte ein ERP-Berater in weiser Voraussicht schon in seinem „vertraulichen Jahresbericht 1948“ gewarnt, man werde „dem Wesen des Marshallplans nicht gerecht, wenn man ihn nur nach seinen unmittelbar greifbaren wirtschaftlichen Ergebnissen beurteilt“.

Beim ukrainischen Wiederaufbau aber wird es gerade auf die unmittelbar greifbaren wirtschaftlichen Ergebnisse ankommen. Bundeskanzler Scholz wäre deshalb gut beraten, sich mit Blick auf den jetzigen EU-Ukraine-Gipfel in Kiew vom Mythos des Marshallplans zu befreien. Das Land hat stattdessen ein wirkliches Wiederaufbau-Meisterwerk verdient.

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