Der Euro-Fighter

Mark Schieritz, Die Zeit, 19. Juli 2012, Nr. 30, S. 21 und Wirtschaftswoche, 20. Juli 2012.

Hans-Werner Sinn riskiert seinen Ruf als Ökonom, um die Krisenpolitik der Regierung zu stoppen. Warum tut er das?

Als die Welt unterging, amüsierte sich Hans-Werner Sinn prächtig. Vor zwei Wochen war das, bei der Premiere von Richard Wagners Götterdämmerung in der Bayerischen Staatsoper. Auf der Bühne stand ein zum Schaukelpferd umfunktioniertes Euro-Zeichen, und am Ende ging alles in Flammen auf.

Es passte also ziemlich gut zu Hans-Werner Sinn, dem Mahner, dem Propheten der Euro-Apokalypse. Der Münchner Ökonom ist in der Währungskrise zu einer Art Stichwortgeber der außerparlamentarischen Opposition geworden, die nicht mehr weiter retten will - und die sich wieder zu Wort melden wird, wenn der Bundestag an diesem Donnerstag über die Milliardenhilfen für Spanien abstimmt.

Wenn Sinn einen Vortrag hält, sind die Säle voll, ein Interview mit ihm in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde im Netz fast eine Million Mal angeklickt. Mehr als 200 Ökonomen haben einen von ihm mitgetragenen Aufruf gegen die Beschlüsse des jüngsten EU-Gipfels unterzeichnet. Neun Billionen Euro Schulden müssten die Deutschen absichern, heißt es darin. Geholfen werde "vor allem der Wall Street, der City of London und einer Reihe maroder ausländischer Banken".

Ein einprägsames Bild und eine furchterregende Zahl - das ist das Geschäftsmodell von Hans-Werner Sinn. Damit will er die Bundesregierung zum Umkehren bewegen, bevor es zu spät ist, bevor die Rettung den Retter ruiniert. Bei den maßgeblichen Personen in genau dieser Regierung ist er allerdings unten durch. Finanzminister Wolfgang Schäuble soll ihn intern "Professor Unsinn" nennen, und Angela Merkel hat den Kontakt mit dem Ökonomen abgebrochen, der früher gern gesehener Gast im Kanzleramt war.

Für Sinn ist das eine neue Erfahrung. Er hat den Konflikt mit den Regierenden auch früher nicht gescheut, aber zum offenen Bruch kam es nie. Warum auch? Hans-Werner Sinn ist schließlich so etwas wie der ökonomische Seismograf der Republik. Mit seinen Büchern und Interviews lieferte er den Sound zu den wirtschaftspolitischen Megatrends der vergangenen 30 Jahre - von der Wiedervereinigung bis zur Agenda 2010, von der Finanzkrise bis zum Klimawandel.

Sinn hat ein bewundernswertes Gespür für die großen Veränderungen, und er weiß, wie man Themen setzt. Das macht ihn für Politiker interessant. Sein 2003 erschienenes Werk Ist Deutschland noch zu retten? war eines der einflussreichsten Wirtschaftsbücher der vergangenen Dekade. Doch dieses Mal droht ihm die Kontrolle über die Debatte zu entgleiten, die er losgetreten hat. Kollegen distanzieren sich, die rechtsradikale NPD beruft sich in ihrer Anti-Euro-Kampagne auf seine Thesen.

Der Sozialwissenschaftler Joseph Schumpeter hat in den vierziger Jahren beobachtet, wie Experten neuen Typs die öffentlichen Debatten bestimmen: Sie verdanken ihren Einfluss der "Macht des gesprochenen und des geschriebenen Wortes" und zeichnen sich durch das "Fehlen einer direkten Verantwortlichkeit für praktische Dinge" aus. Schumpeter nannte diese Experten Intellektuelle.

Hans-Werner Sinn ist der klassische Intellektuelle. Ist er zu weit gegangen?

Die Suche nach einer Antwort muss in der Vergangenheit beginnen. In den neunziger Jahren veröffentlicht Sinn zusammen mit seiner Frau Gerlinde - ebenfalls Ökonomin - das Buch Kaltstart. Sie argumentieren, dass die schnelle Angleichung der Löhne nach der Wiedervereinigung die Wirtschaft im Osten ruinieren würde. Damals hat den Professor aus München mit seinen Zahlen in der Politik kaum jemand ernst genommen. Heute sagen alle, dass es genauso gekommen sei, wie Sinn und seine Frau es beschrieben hätten.

Er feilt stundenlang an Texten, um prägnante Formulierungen zu finden

"Das hat ihn wahnsinnig gewurmt", sagt einer, der Sinn gut kennt. Sinn hat daraus zwei Schlussfolgerungen gezogen. Er würde zu seinen Thesen stehen, auch wenn andere daran zweifeln. Und er würde sie so vermarkten, dass ihn niemand ignorieren kann. Wenn sich Sinn heute zu Wort meldet, dann hat er zuvor stundenlang an den Formulierungen gefeilt, um ihre Durchschlagskraft in der Öffentlichkeit zu erhöhen.

Da schreibt er dann zum Beispiel, dass die Rettungsgelder für die Krisenstaaten der Finanzierung des "mediterranen Lebensstandards" dienen, so wie neulich in einem Aufsatz für die Wirtschaftswoche. Für Sinn bringt dieser Begriff prägnant auf den Punkt, dass die Nothilfen aus dem Norden die Reformanreize im Süden senken. Für seine Kritiker schürt er Ressentiments - ganz so, als würden die von einer schweren Rezession und Massenarbeitslosigkeit gebeutelten Spanier oder Portugiesen mit deutschen Steuergeldern in Saus und Braus leben.

Die Texte des 64-Jährigen sind voll mit solchen Begriffen, und viele davon werden irgendwann Teil des allgemeinen Sprachgebrauchs. Da ist vom "Geleitschutz für deutsches Sparkapital" die Rede oder vom "Club Med" der Südländer, der die Nordländer erpresse. Griechenland hält er für schlicht "nicht wettbewerbsfähig". Deshalb müssten die Griechen die Währungsunion verlassen - auch wenn das mit erheblichen Risiken verbunden ist.

Sinn ist konsequenter als die meisten seiner Kollegen. Manche würden sagen: rücksichtsloser. Für den Bonner Geldtheoretiker Manfred Neumann bedient sich der Aufruf der Ökonomen "schillernder Aussagen" mit "xenophobem Anklang". Neumanns Berliner Kollege Michael Burda nennt den Stil "nationalistisch". Die beiden sind Schwergewichte der Branche. Neumann ist langjähriges Mitglied im konservativen Kronberger Kreis, Burda leitet den Verein für Sozialpolitik, die wichtigste Vereinigung der deutschsprachigen Wirtschaftswissenschaftler.

Man würde jetzt gerne wissen, was Sinn selbst dazu sagt.

München, Bogenhausen. Das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung, in einer der schönsten Ecken der bayerischen Hauptstadt gelegen, ist Hans-Werner Sinns home base. Seit mehr als zehn Jahren leitet er den Laden, er hat ihn groß gemacht, er ist hier der Herr im Haus. An diesem Freitag im Frühsommer stellt er im Ludwig-Erhard-Saal des Instituts zusammen mit zwei Herren vom Verband der Familienunternehmer ein neues Papier zur Euro-Krise vor. Sie haben es die "Bogenberger Erklärung" genannt. Es ist eine Generalabrechnung mit der bisherigen Rettungspolitik. Sinn sagt seine Sätze auf, die Familienunternehmer pflichten bei.

Nach der Veranstaltung lädt er zum Mittagessen im kleinen Kreis. Man trifft in solchen Momenten ohne Kameras auf einen nachdenklichen Menschen. Sinn ist einer der wenigen Experten seines Kalibers, die wirklich zuhören. Er fragt nach, will Gründe hören, wägt sie ab. Meistens legt er dann den Kopf etwas schief und stützt ihn mit seiner linken Hand. Man meint, beobachten zu können, wie er die Argumente durch die ökonomischen Gleichungssysteme jagt, die in seinem Gehirn abgespeichert sind. Es kann sehr anregend sein, sich mit Hans-Werner Sinn zu unterhalten.

Der nächste Coup kommt im Herbst: Dann erscheint sein Buch zur Krise

Einige Wochen später, die Debatte über den Ökonomenaufruf ist in vollem Gang, meldet er sich am Telefon. Er sagt, dass er von den heftigen Reaktionen doch überrascht worden sei, seinen Überzeugungen aber treu bleiben müsse. Er sei nicht gegen Europa, nicht einmal gegen die Vereinigten Staaten von Europa. Aber einfach weitermachen wie bisher nütze niemandem. Auch den Griechen nicht. Er sagt das mit leiser Stimme. Die Geschichte scheint ihn trotz allem mitzunehmen.

Hans-Werner Sinn strahlt im persönlichen Umgang eine Wärme aus, die im Widerspruch zur Kälte seiner Argumente steht.

Man muss sich, um diesen Widerspruch aufzulösen, mit Sinns Politikverständnis befassen. Denn auch wenn er es genießt, im Rampenlicht zu stehen - man würde ihm nicht gerecht, reduzierte man ihn darauf.

Sinn wächst im westfälischen Brake auf, wo sein Vater einen kleinen Taxibetrieb hat. Wie viele seiner Generation wird Sinn durch Vietnamkrieg und Notstandsgesetze politisiert. Er schließt sich dem Sozialdemokratischen Hochschulbund an und geht nach Münster, um dort Volkswirtschaftslehre zu studieren. Dort trifft er einen Menschen, der sehr wichtig werden wird für seinen weiteren Lebensweg: Herbert Timm, Professor für Finanzwissenschaft und Sinns akademischer Lehrer. Für Timm ist die Ökonomie ein Mittel zur Verbesserung der Welt. Was die Wirtschaftswissenschaftler aus ihren Modellen ableiten, ist gut für die Allgemeinheit.

Sinn ist beeindruckt. Die Disziplin gibt seinem Veränderungswillen eine Richtung. Man hat ihm oft vorgeworfen, dass er immer nur rein ökonomisch argumentiert und die politische Dimension der Probleme vernachlässigt. Der Vorwurf trifft ihn nicht, weil diese vermeintliche Schwäche für ihn eine Stärke ist. Der politischen Logik des Ausgleichs zwischen Interessen und Weltanschauungen setzt er die Wahrheitslogik des Experten entgegen. Aus seiner Sicht heißt das konkret: So viel Staat wie nötig, so viel Markt wie möglich.

Das führt zu teilweise überraschenden Positionen. Sinn war für die Agenda 2010, kritisierte aber früh die Abhängigkeit Deutschlands vom Export. Er ist gegen die Energiewende, aber für eine strenge Regulierung der Banken. Als er sich für niedrige Löhne einsetzte, war er Dauergast bei den Wirtschaftsverbänden. Neuerdings stimmt ihm Sahra Wagenknecht von der Linkspartei häufig zu, weil er gegen die Rettung der Banken ist.

Sinn sagt dazu, er sei weder rechts noch links. Sein "Bezugssystem" sei die Volkswirtschaftslehre. Er meint das ernst.

Vielleicht ist es Hans-Werner Sinns Problem, dass es die Volkswirtschaftslehre nicht gibt, weil die Ökonomie keine exakte Wissenschaft ist. Sinn sagt, durch die Bankenunion werde die Krisenpolitik für die Steuerzahler noch teurer. Sein Gegenspieler, der Würzburger Wirtschaftsprofessor Peter Bofinger, sagt, sie werde dadurch billiger. Beide berufen sich auf ökonomische Begründungsmuster.

Sinn hält die seinen für überzeugender. Er glaubt fest daran, dass die bisherige Rettungsstrategie Europa in eine große Katastrophe zu stürzen droht. Er glaubt, dass Deutschland in Brüssel über den Tisch gezogen wird, weil die Südländer in der Mehrheit sind und ihre Interessen aggressiv vertreten. Und er glaubt, dass von den Hilfsgeldern in Wahrheit vor allem die internationalen Investoren profitieren, die kritische Ökonomen mithilfe der angelsächsischen Presse "verteufeln".

Er wolle Deutschland "retten", hat Hans-Werner Sinn unlängst einmal gesagt. Er meint auch das ernst.

Schon deshalb gibt er sich mit der Rolle des Ratgebers nicht zufrieden und greift selbst in das Geschehen ein. Oft haben seine Aktionen etwas vom Geist der Sponti-Bewegung seiner Jugend. Als der Bundestag über den Rettungsfonds EFSF abstimmt, schickt er den Abgeordneten Briefe und fordert sie auf, das Vorhaben zu Fall zu bringen. Einige Monate später erhalten die Parlamentarier schon wieder Post: Diesmal ist es eine DVD mit einem seiner Vorträge. Sinn schreibt Leserbriefe und beteiligt sich an Debatten im Internet.

Der Preis für derlei Aktivismus ist, dass der brillante Spitzenökonom im Eifer des Gefechts immer wieder über das Ziel hinausschießt. 2003 wollte er zeigen, dass Deutschland an Wettbewerbsfähigkeit verliert und deshalb dringend Reformen braucht. Tatsächlich holten die Unternehmen zu diesem Zeitpunkt aber auf den Weltmärkten bereits wieder auf, und Sinn muss seine These überarbeiten. In seinen viel beachteten Arbeiten über die Risiken im europäischen Zahlungsverkehrssystem argumentierte er, indem die Europäische Zentralbank immer mehr Geld in den Krisenländern verleihe, werde der deutschen Wirtschaft Kredit entzogen. Das musste er später korrigieren, weil die Notenbank beliebig viel Geld aus dem Nichts schaffen kann.

Fußballerisch gesprochen, schlägt Hans-Werner Sinn den Ball zunächst einmal so weit, wie es nur geht, in die gegnerische Hälfte - um ihn dann möglichst unauffällig wieder zurückzukicken.

Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass in der Mediengesellschaft nur weit geschlagene Bälle überhaupt wahrgenommen werden. Einer der weltweit einflussreichsten Wirtschaftswissenschaftler, der linksliberale amerikanische Nobelpreisträger Paul Krugman, bedient sich ähnlicher Methoden wie Sinn. Vielleicht holt die Zunft also nur jene mediale Aufrüstung nach, die andere gesellschaftlichen Gruppierungen schon durchgemacht haben.

Die Gefahr dabei ist, dass die Ökonomen zunehmend den Aktionsmodus der Politik übernehmen. Je mehr das taktische Kalkül die interessenfreie Analyse ersetzt, desto mehr schwindet - ökonomisch gesprochen - der komparative Vorteil der Ökonomie. Die "kurzlebige Empörung" sei dem langfristigen Einfluss der Wirtschaftswissenschaften "nicht zuträglich", so der Geldexperte Manfred Neumann.

Hans-Werner Sinn bereitet schon den nächsten Coup vor: ein neues Buch, das im Herbst erscheint. "Der bekannteste Ökonom Deutschlands lässt sich nicht den Mund verbieten und redet Klartext", heißt es in der Ankündigung des Verlags. Eines ist jetzt schon klar: Es wird vor furchterregenden Zahlen und einprägsamen Bildern nur so strotzen.

Nachzulesen auf www.zeit.de und www.wiwo.de