Zum Abschluss des diesjährigen SZ-Wirtschaftsgipfels legt der Volkswirt Hans-Werner Sinn so etwas wie eine professionelle Lebensbeichte ab - und bekennt, dass er früher mal links war. Anfang März geht Deutschlands wohl umstrittenster Ökonom als Präsident des Ifo-Instituts in den Ruhestand.
Hans-Werner Sinn, der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, kann einen Teil seines Ruhmes darauf zurückführen, dass er immer für eine Überraschung gut ist. Zum Beispiel Griechenland. Für den übergroßen Teil der Mainstream-Ökonomen, nicht nur in Deutschland, ist Yanis Varoufakis, der ehemalige griechische Finanzminister, persona non grata. Nicht so für Hans-Werner Sinn. Der linke Ex-Minister sei ein "ordentlicher Ökonom, der bei der Analyse oft zu den gleichen Ergebnissen kommt wie ich", sagt Sinn, der allgemein als "neo-liberal" gilt, auf der Abschluss-Veranstaltung des SZ-Wirtschaftsgipfels in Berlin.
So habe Varoufakis den Plan einer Parallelwährung entwickelt, um sich der Fesseln des Euro zu entledigen und mehr Geld ausgeben zu können. Der im Prinzip vernünftige Plan wäre zwar, hätte er eine Chance bekommen, viel zu bürokratisch ausgefallen, glaubt Sinn. Aber immerhin teilt er mit Varoufakis die Überzeugung, dass die bisherige Rettungspolitik falsch war, und Griechenland nur ohne Euro zu retten ist. Typisch, diese Art zu argumentieren.
Für den Professor ist der Auftritt bei der SZ so etwas wie ein Finale. Die Gäste erlebten eine Tour d'Horizon mit Deutschlands populärstem und bei manchen Fragen umstrittenstem Ökonomen, ein Gespräch, das gelegentlich den Charakter einer Lebensbeichte annahm. Kein Wunder, Sinn geht im kommenden März mit 68 Jahren als Ifo-Präsident in den Ruhestand.
Analytiker mit Händchen fürs Populäre
Für die deutsche Wirtschaftspolitik ist das, egal wie man zu Sinn steht, ein Einschnitt. Überhaupt der Euro. Sinn hat bei dem Thema einiges an Selbstprüfung hinter sich, wie er zu erkennen gibt. In den Neunzigerjahren, als sich unter deutschen Ökonomen massiver Protest gegen den Maastricht-Vertrag und die Einführung des Euro formiert hatte, hatte er selbst den Kritikern eine "uneuropäische Haltung" vorgeworfen. Heute müsse er einräumen: "Es ist alles so gekommen, wie die Kritiker gesagt hatten". Die Südländer in der Euro-Zone würden sich "das Geld drucken, das sie sich nicht leisten können".
Sinn analysierte als einer der Ersten die Bilanzen der nationalen Notenbanken im Euro-System. Diese Analyse floss schließlich ein in Sinns Buch mit dem einprägsamen Titel "Die Target-Falle". Es wurde mehrere 10 000 Mal verkauft. Der Ifo-Chef schaffte es, das spröde und komplexe Thema so zu popularisieren, dass er in den heißen Zeiten der Schuldenkrise damit Säle füllen konnte. Auch Sinns viele Kritiker räumen ein, dass der Professor ein Problem erkannt hat, das vorher unter dem Radar der Profis durchging. Aber sie werfen ihm vor, dass er die Sache übertreibt, so als seien die Ersparnisse der Deutschen durch die Target-Salden gefährdet. In Berlin sagt Sinn: "Die Politiker müssen sich mit mir auseinandersetzen." Da kann ihm niemand widersprechen.
"Seit 20 Jahren gibt es keine Konvergenz zwischen Ost und West mehr"
Sinn, ein gebürtiger Westfale, wurde an der Universität Münster ausgebildet und promovierte in Mannheim. Berühmt wurde er auf einen Schlag 1991. Damals erschien "Kaltstart", eine kritische ökonomische Analyse der deutschen Wiedervereinigung, die er zusammen mit seiner Frau, der Ökonomin Gerlinde Sinn, geschrieben hatte. Für beide bedeutete die Art, wie die Vereinigung Deutschlands ökonomisch umgesetzt wurde, einen beispiellosen Prozess der Deindustrialisierung. Schuld an der Zerstörung der ostdeutschen Industrie sei die schnelle Angleichung der Löhne im Osten und die ungeklärten Eigentumsfragen gewesen.
Noch heute wird Sinn sarkastisch beim Thema Wiedervereinigung: "Damals kamen westdeutsche Arbeitgeber und westdeutsche Gewerkschaften in den Osten und handelten für die ostdeutschen Arbeitnehmer die Löhne aus." Die Westdeutschen hätten natürlich kein Interesse an einer neuen Konkurrenz aus Ostdeutschland gehabt. Der Preis müsse heute noch gezahlt werden: "Seit 20 Jahren gibt es keine Konvergenz zwischen Ost und West mehr", sagte Sinn bei der SZ.
"Ich hatte einmal Flausen im Kopf"
Dem "Kaltstart" folgte eine lange Liste populärer Bücher: "Ist Deutschland noch zu retten" (2003) über den damaligen Reformstau in Deutschland, mit 110 000 Exemplaren das bisher erfolgreichste Buch. Danach kamen in fast unglaublicher Taktfolge die "Basar-Ökonomie" (2005), "Das grüne Paradoxon" (2008), "Der Kasino-Kapitalismus" (2009), "Die Target-Falle" (2012) und schließlich "Der Euro" (2015).
Sinn gilt heute im Streit an wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten als "rechts". Er begann seine Laufzeit jedoch als "Linker". "Ich hatte einmal Flausen im Kopf", sagte er in Berlin. Aus dem Jahr 1975 gibt es von ihm noch eine Arbeit über Karl Marx' These vom "Tendenziellen Fall der Profitrate". Er fuhr auch nach Jugoslawien, um die dortigen Experimente mit der Arbeiterselbstverwaltung zu beobachten. Letztlich sei es das Ökonomiestudium gewesen, das ihm die Flausen aus dem Kopf getrieben habe. "Ich habe erkannt, dass erst die sogenannte Anarchie der Märkte Ordnung in die Welt bringt."
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