Süddeutsche Zeitung, Nr. 75, 2./3. April 2005, S. 30.
Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchner Ifo-Instituts, will Deutschland retten - und spaltet mit seinen radikalen Thesen wie kein anderer Wissenschaftler die Nation.
Die Black Box, ein kleiner Saal in der Münchner Philharmonie, ist wirklich sehr schwarz und ziemlich voll mit Menschen. Über der Bühne prangt bedrohlich auf Schwarz-Rot-Gold die Frage: "Ist Deutschland noch zu retten?" Der diese Frage stellt und gleich beantwortet, schreitet oben auf und ab wie ein Staatsschauspieler, wie ein Weltverbesserer der frühen Moderne, ein Guru, an dessen Lippen alle hängen. Im Dreiteiler, die Arme über Bauch mit Weste verschränkt, den lichten Kopf mit weißem Backenbart kühn zurückgelegt, wartet Professor Hans-Werner Sinn auf seinen Einsatz. "Soll ich gleich...?", fragt er. Nein, die Leiterin der Münchner Volkshochschule will vorher ein paar einführende Worte sagen.
Dabei kennt man ihn längst aus dem Fernsehen, den Chef des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. In Talk-Runden, auf Podien, in den Spätnachrichten erklärt er dem Volk die Wirtschaft, die bei dem Westfalen wie Würtschaft klingt. Die Arbeitslosigkeit sei kein Problem mangelnder Konsumnachfrage, sondern ein Reflex der Standortschwäche, predigt der gelernte Finanzwissenschaftler. Sein neuestes Buch hat das Zeug zum Bestseller: 80.000 Mal hat es sich schon verkauft. Das ist viel für einen Wälzer von 550 Seiten, der sich Themen wie der Grenzabgabenbelastung des Faktors Arbeit beschäftigt - aber eben provozierend plakativ und prägnant.
Hans-Werner Sinn spaltet wie kein anderer Wissenschaftler das Land. Auf allen Kanälen ruft er derzeit nach Lohnsenkungen als Ausweg aus der Krise - und macht sich damit nicht nur Freunde. Die Bild-Zeitung, die kürzlich seine Reformvorschläge ("7 Wege aus der Krise") abdruckte, erhob ihn zu "Deutschlands bestem Wirtschaftsprofessor". Kritiker nennen ihn dagegen ironisch "Hans-Werner von Sinnen". Den Export-Weltmeister Deutschland als Basar-Ökonomie zu geißeln, die nur noch verhökert, was anderswo hergestellt wird, ist ihnen zu platt.
Aber das ficht Sinn nicht an. "Ich will Deutschland retten", sagt er. Warum? "Weil ich Deutscher bin, Patriot, das Land nicht aufgeben will." Mit Ressortforschung für dieses oder jenes Ministerium erreiche man da nicht sehr viel. Man müsse dem Volk ökonomische Sachverhalte zur Kenntnis bringen, den Weg bereiten, den Druck erhöhen: "Politiker wagen es nicht, das Richtige zu tun." Deshalb sucht Sinn die Medien. Der Ausdruck "vermarkten" passt ihm nicht. Aber das Öffentliche gehöre eben dazu, wenn man Deutschland retten wolle, sagt er umrahmt vom Biedermeier-Sofa seiner Besucher-Bibliothek im Ifo-Institut. Im Eckregal stehen leinengebunden die Größen der Nationalökonomie, in der anderen Ecke eine lebensgroße Nymphe, von Sinn persönlich auf einer Auktion erworben.
Dergestalt beseelt muss man wohl sein, um abends zwischen sieben und zehn noch dem letzten Münchner Volkshochschüler das Prinzip der "aktivierenden Sozialhilfe" zu erklären - eine Sinn'sche Wortschöpfung, die Ökonomen unter dem Begriff negative Einkommensteuer kennen: Die Klippe zwischen Alimentierung und Arbeitsaufnahme soll durch Anreize geebnet werden; Sozialhilfe nicht länger eine Art Mindestlohn sein, unter dem niemand arbeiten will. Bei Sätzen wie "Das ist eine triviale Logik" nimmt der Professor gerne Daumen und Zeigefinger zusammen und schleudert sie nach vorne. In der Fragerunde legt er beim Zuhören manchmal die gewölbte Hand auf die Nasenwurzel. Mit Strenge pariert er manchen Einwand, aber immer mit Respekt vor dem Fragenden. Blick kehrt sich zwar nach innen, wenn er (zum wievielten Male?) abspult, warum die Lohnstückkosten angeblich nicht das geeignete Maß für die Güte des Standorts sind. Doch Dünkel scheint nicht durch. Selbstzweifel allerdings auch nicht: "Über die Dinge, an denen ich zweifle, rede ich nicht", sagt er.
Sein Hang zum Selbstmarketing kommt bei Vertretern aus dem Unternehmenslager durchaus an: "Wir brauchen das: eine parteiübergreifende Anleitung, wie wir in Deutschland endlich zum Handeln kommen." Sogar Klaus Zimmermann, Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), verteidigt die professorale Öffentlichkeitsarbeit: Selbst nicht weniger umtriebig als Sinn, meint er: "Es ist nötig, dass wir uns einmischen. Politiker ignorieren wirtschaftliche Zusammenhänge. Außerdem ist Sinn vielleicht etwas flexibler, als er gelegentlich von der Mediengesellschaft wahrgenommen wird." Aber auch Zimmermann kann sich über Sinn amüsieren: "Er weiß genauer, was die Probleme sind und wie man sie lösen kann. Er hat eine klare Weltvorstellung: Die hohen Löhne sind das einzige Problem der Republik."
Nicht nur die Institute Ifo und DIW konkurrieren. Auch die Chefs, einst beide Assistenten an der Uni Mannheim und Kollegen an der Münchner Universität, pflegen einen "freundschaftlichen Wettbewerb", wie Zimmermann sagt. Es gebe aber nicht nur Gegensätze. Beide Ökonomen sehen die gering qualifizierten Arbeitslosen als das Hauptproblem. Doch Zimmermann will die Nachfrage nach ihnen anheizen, Sinn will sie einfach billiger machen.
Dabei kommt der Münchner Professor aus einfachen Verhältnissen, vom Lande, aus einem kleinen Dorf bei Bielefeld. Vater Taxifahrer, Mutter Arbeiterin in einer Fahrradfabrik. Einzelkind, kärgliches Leben. Bei Steckrüben-Eintopf, Mettendchen, Hefepickert, da leuchten Sinns Augen auch mit 57 Jahren. "Ich war immer schüchtern", sagt er, doch auf die Frage, ob er das heute noch sei, raunzt er ein belustigtes "nee".
Heute würden ihn sicherlich viele eitel nennen. Auch Sinns Vorgänger Karl-Heinrich Oppenländer ist nicht begeistert. Er war 23 Jahre Chef des Ifo-Instituts - bevor 1999 Sinn erschien, auf besonderen Wunsch des bayrischen Wirtschaftsministers Otto Wiesheu. Damals, als der Wissenschaftsrat das renommierte Forschungsinstitut zu einer Service-Einrichtung degradiert und so um einen Teil der öffentlichen Zuschüsse gebracht hatte, war ein Ordinarius vom Kaliber Sinns gefragt.
Er trete in erster Linie als Person auf, statt das Ifo mit der gebotenen Zurückhaltung zu repräsentieren, kritisiert Oppenländer heute. Er selbst liebte das Polarisieren nicht: "Wir haben immer versucht, alle ins Boot zu holen, einschließlich der Gewerkschaften." Auch wie Sinn Macht ausübt und seine Leute im Griff hat, erschreckt den älteren Herrn: Forscher brauchten doch Freiheit und lose Zügel, um kreativ zu sein.
Mancher im Institut wird gerne an den väterlichen Oppenländer zurückdenken. "Für Sinn sind Assistenten eben Assistenten - zu jeder Tages- und Nachtzeit", sagt ein externer Beobachter. "Das Institut wird jetzt eher geführt wie ein Unternehmen", stellt Betriebsratschef Paul Kremmel fest. "Wissenschaftler sind da etwas sensibel." Ja, die Zuarbeit des Ifo-Instituts zu Sinns Büchern und Auftritten sei hin und wieder Thema, sagt Kremmel, und verteidigt den Chef zunächst: "Der Mann ist enorm fleißig. Er schreibt jede Zeile selber." Doch dass die dahinter stehenden Recherchen dem Ifo vergütet würden und dass die Geltung des Professors jene des Instituts steigere, wie Sinn intern versichert, kann der Betriebsrat auch nur glauben, nicht wissen.
Jedenfalls hat der Professor aus der verschlafenen Ifo-Villa in München-Bogenhausen ein offenes Haus gemacht. Stolz zeigt der Hausherr das restaurierte Hauptportal, die freundliche Halle, die schicke Bar und den modernen Konferenzraum. Die staubige Topfpflanzen-Atmosphäre ist weg oder hat zumindest den Rückzug in die Hinterzimmer angetreten. Der gläserne Verbindungsgang zum Annex, durch den man einst von hinten ins Gebäude schlich, ist einem französischen Garten gewichen. Dort können sie bald wandeln, die Abgesandten des Wissenschaftsrats, wenn sie im Herbst wieder zur "Evaluierung" ins Ifo-Institut kommen; können Espresso trinken statt Filterkaffee.
Fast wie gelähmt scheint das Ifo diesem Besuch entgegenzufiebern. Endlich will es wieder vollwertiges Mitglied unter den deutschen Forschungsinstituten sein. Jahrelang hat man geackert und geblutet, um die Kritik am angeblichen Theoriedefizit auszuräumen, alle Vorgaben zu erfüllen, obwohl sie teils als willkürlich und ungerecht empfunden wurden. Sinn lamentiert nicht und schließt auch keine Wetten auf die Zukunft ab. Man ist nicht überrascht, als er sagt, sein Institut sei schon fast das beste in Deutschland und bestimmt das internationalste.
Von 250 Stellen wurden 150 abgebaut, 50 neue Mitarbeiter kamen ins Haus. Die jungen Kollegen bekamen nur befristete Verträge, laut Bundesangestelltentarif wären sie sonst nach 15 Jahren unkündbar.
Die ganze Welt im Haus
Die Hälfte der 16 Abteilungen wurde geschlossen, die Auftrags- oder Drittmittelforschung reduziert. Um die Finanzen des Instituts kümmert sich eine Expertin aus der Industrie. Statt Kameralistik betreibt sie jetzt Kosten- und Leistungsrechnung. Auch eine gewisse leistungsabhängige Bezahlung, wie sie in den neuesten Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes vorgesehen ist, dürfte nicht lange auf sich warten lassen.
Eng ist jetzt die Partnerschaft mit der Ludwig-Maximilian-Universität, wo Sinn weiterhin Professor ist. Sinns "Center of Economic Studies" hat mit dem Ifo fusioniert und fungiert als eine Art Vermarktungsagentur für internationale Wissenschaftler. Mit Forschungsprofessuren und ökonomischen Konferenzen holt Sinn die ganze Welt ins Haus. Für die eigenen Mitarbeiter hat er einen Wissenschaftlerpreis eingeführt, um sie zu einer Flut von Veröffentlichungen in Fachzeitschriften zu animieren.
Eher distanziert scheint Sinns Beziehung zu den Unternehmern, obwohl deren Befragung regelmäßig in den Ifo-Konjunkturtest mündet - das in Deutschland jeden Monat heiß erwartete Wachstumsbarometer. Dass er seine Kenntnisse der praktischen Wirtschaft vertiefen müsse und da beim Ifo viel gelernt habe, gibt Sinn mit ungewohnter Bescheidenheit zu. Mit diesem Wissenshunger begründet er auch seine Aufsichtsratsmandate bei der HypoVereinsbank und dem Energieversorger Thüga.
Ob er sich vorstellen kann, in die Politik zu gehen? "Da kann man nicht mehr sagen, was man denkt", winkt er ab. "Der Wissenschaftler ist der Wahrheit verpflichtet." Was aber, wenn niemand die Ratschläge des Wissenschaftlers befolgt? "Sie werden aber befolgt", sagt Sinn fast zornig. Der Bundespräsident habe doch in seiner jüngsten Rede nichts anderes empfohlen als die aktivierende Sozialhilfe. Auch in Hartz IV findet Sinn viele seiner Ideen wieder, bei der Riester-Rente noch mehr. Waschkörbeweise bekomme der Buchautor zudem Lobesschreiben aus der Bevölkerung. Einige höhnische Briefe ostdeutscher Sozialisten seien allerdings auch dabei.
Das Missmanagement der Wiedervereinigung war Thema seines Buches "Kaltstart", mit dem Sinn vor 14 Jahren Furore gemacht hat. Seine Frau Gerlinde, Ex-Kommilitonin, damals Mitautorin, redigiert seine Texte auch heute noch; hat zudem drei Kinder großgezogen, engagiert sich ehrenamtlich für das Wirtschaftswissen von Lehramtskandidaten.
Für Sinn kommt nach dem Ifo nur noch die Pension: im Jahr 2013, wie er fest erklärt. Dann könnte er in seinem Haus in Gauting etwas basteln oder ein paar alte Filmrollen zusammenkleben, sagt er: "Aber nein: Ich werde dann schreiben."