Der Wissenschaftler Hans-Werner Sinn kämpft erbittert gegen die Euro-Rettung. An seinen Analysen kommt niemand vorbei, doch seine Antworten sind allzu einfach. Eine wachsende Zahl von Kollegen geht auf Distanz.
Es ist kurz nach 17 Uhr am Dienstag vergangener Woche im Karlsruher Verfassungsgericht. Müdigkeit macht sich langsam im Saal breit. Die Richter haben sich tief in ihre cremefarbenen Sessel gegraben, im Publikum lichten sich bereits die Reihen.
Rund sieben Stunden lang sind die Juristen bei ihrer Anhörung schon der Frage nachgegangen, ob der Rettungsschirm ESM mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Der Staatsrechtler Karl Schachtschneider, einer der Kläger, hat ein flammendes Plädoyer für eine Volksabstimmung gehalten, Finanzminister Wolfgang Schäuble vor den "unabsehbaren Folgen" eines Karlsruher Vetos gewarnt.
Es scheint, als ob schon alles gesagt sei, als der Münchner Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn ans Mikrofon tritt. Der Professor hält einen ökonomischen Fachvortrag; doch was seine Zuhörer sofort hellwach werden lässt, sind die plakativen Urteile.
Sinn geißelt das "Fass ohne Boden", spricht von "falscher Therapie", einer "Vermögensvernichtungsmaschinerie" und wirft der europäischen Staatengemeinschaft vor, dass ihre Instrumente das Gegenteil von dem bewirken, was sie eigentlich erreichen sollen: "Sie verhindern die Heilung." Als er fertig ist, haben die Richter keine Fragen mehr.
Es war ein Auftritt ganz nach Sinns Geschmack. Vor den Schranken des höchsten deutschen Gerichts durfte sich der 64-jährige Professor mit dem Käpten-Ahab-Bart einmal mehr in seiner aktuellen Lieblingsrolle präsentieren: als vehementer Streiter gegen die herrschende Euro-Politik.
Mit seinen Tiraden gegen Europas Rettungsungetüme von EFSF bis ESM versucht er nicht nur zu beweisen, dass es entgegen der herrschenden Meinung möglich ist, die verworrenen Fragen der europäischen Währungsunion auf einfache Formeln zu bringen. Er führt der Republik auch vor, dass er den hiesigen Forschungsbetrieb um einen neuen Typus Wissenschaftler bereichert hat, den Kampagnen-Ökonomen.
Wie kein anderer Professor prägt Sinn seit langem mit steilen Thesen die ökonomische Debatte der Republik. Um die Jahrtausendwende erschreckte er die Deutschen mit dem Befund, die Reformen am Arbeitsmarkt müssten noch viel schärfer ausfallen, wenn die Jobmisere im Land beendet werden soll.
Wenige Jahre später warnte er, dass der damalige Exportweltmeister wegen seiner vielen ausländischen Zulieferer zur "Basar-Ökonomie" verkommen sei. Jetzt verbreitet er gar die These, die Brüsseler Rettungspolitik sorge nicht für Frieden, sondern das Gegenteil. "Unsere Kinder werden gezwungen sein", warnt er, "in den Süden Europas zu gehen und sich unser Geld zurückzuholen."
Sinns Erfolg ist offensichtlich, mit seinen wechselnden Untergangsprognosen hat es der Professor zum populärsten und streitbarsten Wirtschaftsexperten der Republik gebracht. Die einen bewundern ihn als "klügsten Wirtschaftsprofessor" ("Bild"). Die anderen fürchten ihn als starrsinnige Nervensäge. Es handle sich um einen Wissenschaftler, ätzt Finanzminister Schäuble, "der den Auftrag, seine Meinung zu kommunizieren, intensiv wahrnimmt".
Vergangene Woche erreichte das Sinn-Spektakel einen neuen Höhepunkt. Nachdem Kanzlerin Angela Merkel auf dem jüngsten EU-Gipfel Schritten zu einer europäischen Bankenunion zugestimmt hatte, warnte der Professor in einem gemeinsamen Brief von mehr als 200 Ökonomen vor unkalkulierbaren Risiken. Eine kaum kleinere Gruppe deutscher Volkswirte hielt mit einer eigenen Unterschriftenaktion dagegen. Tagelang beherrschte der Streit die Schlagzeilen.
Sinn konnte zufrieden sein, wieder einmal stand er im Mittelpunkt. Darauf nämlich kommt es ihm vor allem an bei seinen Kampagnen. Dabei war er nicht immer der Agitator, als der er sich heute präsentiert.
Zu Beginn seiner Karriere galt er als eher stiller Vertreter der Ökonomen-Zunft, der sich mit Fachaufsätzen auch im Ausland einen Namen machte. Selbst in den USA sprachen die Kollegen respektvoll von "Häns-Wörnör".
Doch irgendwann stellt sich für jeden halbwegs renommierten deutschen Wirtschaftswissenschaftler die Frage, ob er für den Rest seiner Karriere lieber Doktoranden in Boston oder Politiker in Berlin beeindrucken will. Sinn entschied sich für Letzteres und übernahm 1999 den Präsidentenposten beim Münchner Ifo-Institut.
Alles sah nach einem Werdegang in den typischen Etappen der deutschen Politikberatung aus: Mitgliedschaft in ministeriellen Beiräten, Kandidatur für das Gremium der Wirtschaftsweisen. Doch Sinn hatte inzwischen einen viel direkteren Weg entdeckt, die ökonomische Debatte zu beeinflussen.
2003 schrieb er sein Buch "Ist Deutschland noch zu retten?", das eine Analyse bundesdeutscher Standortschwächen mit der Forderung nach brutalen Reformen verband. Die radikalen Thesen wurden zum Bestseller.
Aufsehen statt Elfenbeinturm - mit diesem Prinzip ist er seither zum führenden ökonomischen Propagandisten des Landes aufgestiegen, dessen Wirkung nicht zuletzt darauf beruht, dass er seine Thesen beharrlicher verfolgt und schriller verkauft als jeder andere Professor im Land.
Wie kein anderer Ökonom ist der Ifo-Chef mit Interviews, Kolumnen und Talkshow-Auftritten in den Medien präsent, wie kein anderer versteht er es, auf der Klaviatur des Agitprop zu spielen.
Wenn er den Deutschen vor Augen führen will, wie viel Risiken sie inzwischen zur Euro-Rettung übernommen haben, entwickelt er einen "Haftungspegel", der auf den Internetseiten des Ifo-Instituts regelmäßig aktualisiert wird. Und damit auch jeder kapiert, wie das gemeint ist, gibt es einen Bundesadler, der in der steigenden Flut absäuft.
Dass in der Öffentlichkeitsarbeit Schnelligkeit oft vor Gründlichkeit geht, betrachtet Sinn nicht als Problem, sondern als Ansporn. Als die Euro-Staaten im Mai 2010 hastig einen Rettungsfonds beschlossen, dem der Bundestag wenige Tage später zustimmen sollte, schrieb Sinn über Nacht seine harsche Kritik auf. Noch vor der Abstimmung hatten die Abgeordneten den Verriss bereits in ihrer Post.
Sinn erzählte früher mal, er habe einst eigentlich Missionar werden wollen. Darauf soll seine Frau geantwortet haben: "Aber Hans-Werner, das bist du doch."
Es gehört zur Berufsbeschreibung des Ökonomen, andere von den eigenen Erkenntnissen überzeugen zu wollen. Das Problem bei Sinn besteht darin, dass er aus der Missionsarbeit auch den Glauben an ewige Wahrheiten und die Unfehlbarkeit übernommen hat, vor allem die eigene. Doch die Ökonomie ist nun mal eine Sozial-, keine Naturwissenschaft.
Anfang Juni diskutieren einige Ifo-Mitarbeiter mit ihrem Chef die nächste Konjunkturprognose. Die Experten sind nach langen Analysen zu dem Schluss gekommen, dass es Deutschland weiter ganz gut gehen wird, sofern die Euro-Krise nicht eskaliert. Sinn ist skeptisch, er insistiert: "Ich glaube das einfach nicht."
So geht es eine Zeitlang hin und her, bis der Leiter der Konjunkturabteilung an eine ähnliche Diskussion vor einigen Jahren erinnert: "Wir wollten prognostizieren, dass es in Deutschland bald wieder aufwärtsgeht, Sie nicht. Rückblickend hatten wir recht", sagt er. Sinn tut überrascht. Dann belehrt er seine Angestellten, dass sie auch für andere Länder einen Aufschwung vorhersagen wollten, er jedoch nicht. "Ich hatte recht."
Ein Institutsmitarbeiter, der dem Präsidenten wohlgesinnt ist, nennt dieses Verhalten Sinns "intellektuellen Despotismus". Er sei einfach beseelt davon, andere zu überzeugen. "Zufrieden ist der Chef erst, wenn alle seiner Meinung sind."
Es ist vor allem dieser Absolutheitsanspruch, der Sinns Euro-Kampagne so fragwürdig macht. In einer Zeit, in der die Ökonomen wie nie zuvor die Grenzen ihrer Wissenschaft erleben müssen, pocht Sinn darauf, im Besitz unanfechtbarer Gewissheiten zu sein. Überall in der Welt üben sich die Volkswirte in neuer Bescheidenheit, der Ifo-Chef hingegen verkörpert die Hybris der Wirtschaftswissenschaft. "Sinn ist wie ein Autofahrer, der immer drei Ausfahrten zu spät abfährt", sagt ein Ökonom, der ihn sonst für einen brillanten Kollegen hält.
Dabei lehrt ein Blick in die jüngste Vergangenheit, dass auch Sinn mit seinen Thesen oft danebenlag. Die Hartz-Reformen etwa, die er für unzureichend hielt, gelten heute als entscheidender Baustein des deutschen Arbeitsmarktwunders der vergangenen Jahre.
Und die wachsende Verflechtung deutscher Industrieunternehmen mit Billigproduzenten aus dem Ausland, die Sinn so öffentlichkeitswirksam als "Basar-Ökonomie" verhöhnte, hat die hiesige Exportindustrie nicht geschwächt, sondern stärker gemacht.
Auch in der aktuellen Euro-Debatte setzt Sinn lieber auf plakative Aussagen. Wenn es etwa um den Umfang der Euro-Haftung geht, addiert er alles, was sich auftreiben lässt. Das Rettungspaket für Griechenland etwa, die Euro-Rettungsschirme, die Staatsanleihenkäufe der Europäischen Zentralbank und die Ansprüche der Bundesbank gegen das europäische Zentralbanksystem. Fast 800 Milliarden Euro kommen so allein für Deutschland zusammen. "Das Euro-System ist in Explosion begriffen", ruft er dann mit erhobenen Armen.
Was gigantisch klingt, sagt in Wahrheit wenig aus. Bei seinen Berechnungen ist Geld dabei, das bereits geflossen ist - etwa für Griechenland. Es beinhaltet aber auch Beträge, die vor allem abschrecken sollen wie im Falle des dauerhaften Rettungsschirms ESM. Und es führt Posten auf, für die Sicherheiten hinterlegt sind oder Zinsen gezahlt werden.
Sinn türmt Äpfel auf Kartoffeln. Was seine apokalyptischen Rechnungen dabei noch fragwürdiger macht, ist die Tatsache, dass er die Kosten der Alternativen unterschlägt. Würden die Politiker seinen Ratschlägen folgen, zerbräche die Euro-Zone schlimmstenfalls. Das Fiasko könnte die Deutschen mit 3,3 Billionen Euro belasten. Das hat jüngst der Sachverständigenrat zu Protokoll gegeben.
Andererseits hat sich der Ifo-Chef in der Euro-Debatte viele Verdienste erworben. Als Erster hat er auf die gefährlichen Ungleichgewichte in den Notenbankbilanzen des Euro-Systems hingewiesen, die sogenannten Target-Salden. Und er hat wie kein anderer frühzeitig erkannt, dass an einem Ausscheiden des bankrotten Griechenlands aus der Währungsunion langfristig kein Weg vorbeiführen dürfte.
Doch wenn es um die Grundfrage geht, ob der Euro erhalten oder aufgegeben werden soll, spielt Sinn mit dem Feuer. Es gibt in der Euro-Frage keine einfachen Antworten, auch wenn der Münchner Professor meint, sie zu haben. Kein Wunder, dass nun auch im Ökonomen-Streit um die Bankenunion die Zahl der Sinn-Gegner wächst.
Der Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, ätzte: "Wenn das der Beitrag der deutschen Volkswirtschaftslehre zur Euro-Krise ist, bin ich ernsthaft über unseren Berufsstand besorgt." Auch der frühere Wirtschaftsweise Bert Rürup kritisiert Sinns Anti-Rettungs-Rhetorik: "Es reicht nicht, die aktuelle Politik heftig zu kritisieren und deren Risiken zu betonen", sagt er. "Man muss auch die Alternativen samt deren Kosten und Konsequenzen aufzeigen."
Noch weiter geht der Wuppertaler Ökonom Paul Welfens, der Sinn sogar als "Teil der Euro-Krise" betrachtet. Mit seiner alarmistischen Vorgehensweise, die sich zu wenig an den Fakten orientiere, verunsichere er nur die Bürger.
Manchmal hat es den Anschein, als würde sogar der umstrittene Ökonom selbst ahnen, dass mit seinen Empfehlungen die Euro-Krise kaum zu bewältigen ist.
Sinn sitzt in seinem Lieblingsrestaurant im Englischen Garten bei Schnitzel und Bratkartoffeln. Es geht darum, was er anders machen würde, wenn er Kanzler wäre. Welche Fehler, so lautet die Frage, hat Angela Merkel konkret gemacht?
Sinn überlegt, dann sagt er: "Macht Merkel etwas falsch? Ich glaube, nichts Gravierendes." Pause. "Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken."
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Leserbrief zum Spiegel-Artikel von Prof. Dr. Wolfgang Wiegard (unveröffentlicht).