Er will die Welt verbessern. Zunächst aber packt ihn die reine Theorie. Später steigt er in die Politikberatung ein und saniert auch noch das Ifo-Institut. Heute zählt Hans-Werner Sinn zu den engagiertesten Ökonomen Deutschlands - stets bereit, sich mit links wie rechts zu überwerfen.
Der Mann ist ein Weltverbesserer. Er scheint auf fast alles eine Antwort zu haben. Hans-Werner Sinn, Finanzwissenschaftler an der Universität München und Präsident des Ifo-Instituts, ist nicht nur auf allen Medienkanälen präsent und erklärt der Menschheit die ökonomische Welt. Er vermittelt darüber hinaus auch stets den Eindruck größter Gewissheit – einschließlich der Selbstgewissheit. In Diskussionen kommen die Kommentare des kampfeslustigen Wissenschaftlers wie aus der Pistole geschossen. Ob es nun um Mehrwertsteuer, Mindestlohn, Autobahnmaut, Schwarzarbeit oder die „Basarökonomie“ geht – die Worte treffen. Sinn ist verbindlich, aber er schont seine Kontrahenten nicht.
Wer stets Antworten hat, den quälen auch viele Fragen. Und sie treiben ihn an. Sinn ist Wissenschaftler, Politikberater, Institutsmanager – in dieser Reihenfolge. Wissenschaftler ist er geworden wegen der vielen Fragen, die ihm keine Ruhe lassen, Politikberater wegen seines Wunsches, mit Hilfe seiner wissenschaftlichen Erkenntnis die Welt zu verbessern, und Institutsmanager, weil es der Sache zuträglich ist. Auf die Medienpräsenz ist er dabei gar nicht erpicht. Das gehöre aber nun einmal dazu, sagt er, wenn man „volkserzieherisch“ wirken wolle. Und das will er.
Eine von drei Frauen
Sein Motor aber ist der Wissensdurst. Bei der Studienwahl geht das schon los. Zur Ökonomie kommt er über das politische Interesse. „Es war damals die Achtundsechziger-Zeit“, erzählt er. „Es gab die Notstandsgesetze, es gab den Vietnam-Krieg, es gab die Diskussionen darüber, wie man die Gesellschaft gestalten kann.“ Von der Politikwissenschaft indes hält ihn der Wunsch nach etwas Greifbarem ab. „Da gab es keine größere Versuchung.“
Zum Studium geht er nach Münster. Der Schock bleibt nicht aus. „Da kommt man hin und will die Welt verstehen und verändern – und anstelle dessen muss man auf neoklassischen Isoquanten Schlittenfahren lernen. Ich fand das absurd.“ Gemildert wird das zunächst nur durch die eine von ganzen drei Frauen in einem Jahrgang von hundert Studenten – Gerlinde, damals noch Zoubek mit Nachnamen. „Ich hatte mir gedacht, die muss ich mir warmhalten“, sagt Sinn und lacht. Heute ist sie seine Frau.
Besser wird die fachliche Lage erst im Hauptstudium, als das Instrumentarium der Ökonomie Anwendung auf konkrete wirtschaftspolitische Fragen findet. „Da habe ich Feuer gefangen.“ Sinn klemmt sich dahinter, den mathematischen Formalismus der ökonomischen Modelle so zu erlernen, dass er damit spielen kann – obwohl ihm das nicht in die Wiege gelegt ist. „Ich hatte keinen natürlichen Hang zur Mathematik. Wer hat den schon“, sagt er. Aber der Ehrgeiz hat ihn gepackt. Und so arbeitet er am Ende selbst formal – zum Beispiel in seiner Doktorarbeit, in der er sich mit Entscheidungen unter Ungewissheit befasst, und mit Arbeiten zum Wirtschaftswachstum. „Intellektuell waren das meine Spitzenleistungen.“
Zufallssache Wissenschaft
Die Promotion findet 1974 in Mannheim statt, wohin ein Münsteraner Habilitand, Hans Heinrich Nachtkamp, das Forscherpaar Gerlinde und Hans-Werner Sinn mitgenommen hat. Hier ist das wissenschaftliche Klima noch anregender, das Niveau ist hoch, es gibt viele internationale Gäste. Sinn stellt sich ein eigenes Graduiertenstudium zusammen: „Ich habe alle Seminare mitgemacht, derer ich habhaft werden konnte. Da habe ich noch einmal richtig Ökonomie gelernt.“ Er befasst sich mit Fragen des Wachstums, der natürlichen Ressourcen, des Außenhandels und des Risikos. Was ihn zu diesen Themen zieht, ist nun aber weniger eine aktuelle politische Frage als ein wissenschaftliches Problem – beispielsweise ein fehlender Brückenschlag von einer Modellwelt in die andere, oder Widersprüchlichkeiten in der Theorie. „So ist das nun einmal in der Wissenschaft.“ Ein bewusstes Kalkül, womit er die größte Aufmerksamkeit in der Fachwelt oder in der Öffentlichkeit erzielen könne, habe er dabei gar nicht angestellt, sagt er. „Man hat da gar nicht so strategisch überlegt. Man springt von einem Thema zum anderen und ist fasziniert und schreibt dann was dazu.“ Wissenschaft sei ein stochastischer Suchprozess, erklärt Sinn, er lebe vom Zufall. Vielleicht sei das nicht besonders effizient. Aber immerhin hat ihn dieser Ansatz an die Spitze der in wissenschaftlichen Zeitschriften am meisten zitierten Autoren Deutschlands gebracht. Und, wie er sagt: „Es ging um die Suche nach der Wahrheit, um die Erkenntnis an sich.“
In dieser Zeit des intensiven Forschens öffnet sich auch ein internationaler Arbeitsmarkt. Mit 30 Jahren geht Sinn als Assistant Professor nach Kanada, an die – damals hochkarätig besetzte – University of Western Ontario. „Das war ein unglaublicher Motivationsschub und ein echtes Aha-Erlebnis.“ Dort habe man damals junge Wissenschaftler ernst genommen, anders als in Deutschland, und zwischen den Professoren sei die Zusammenarbeit viel unkomplizierter gewesen. Die Möglichkeit, dauerhaft in Kanada zu bleiben, schlägt der junge Familienvater – zwei von drei Kindern sind auf der Welt – dennoch aus. „Deutschland ist schon die Heimat.“
Wiedervereinigung als Wendepunkt
In dieser Zeit rutscht die Weltverbesserung in den Hintergrund. „Als junger Mensch faszinieren einen diese formalen Techniken und Theorien. Das entwickelt ein gewisses Eigenleben. Aber je älter ich wurde, desto mehr habe ich mich wieder den konkreteren Themen zugewandt.“ So ist schließlich die Habilitationsschrift der Kapitaleinkommensbesteuerung gewidmet – „immer noch hochtechnisch, aber mit reichem institutionellem Detail“. Das ist die Rückkehr zur Finanzwissenschaft – und ebnet Sinn 1984 den Weg an die Universität München, zunächst auf einen Lehrstuhl für Versicherungswissenschaft, und seit 1994 für Finanzwissenschaft. Nun finden auch die politisch motivierten Themen wieder verstärkt Eingang in das Arbeitsspektrum – von der Weltschuldenkrise der achtziger Jahre bis hin zur deutschen Wiedervereinigung.
Die Einheit ist ein Wendepunkt, von dem an die Politikberatung fester Bestandteil in Sinns beruflichem Dasein wird. Er begründet das wissenschaftlich: „Das war ein Megaereignis, auch in ökonomischer Hinsicht, und eine echte intellektuelle Herausforderung.“ 1989 tritt er in den wissenschaftlichen Beirat beim Wirtschaftsministerium ein – „da hat man die ganze Phase der Wiedervereinigung diskutiert, in aller Intensität. Da gab es hitzige Debatten, in denen ich meistens eine Minderheitsposition hatte.“ Das ist freilich wohl auch der Grund, warum ihm eine große Ehre verwehrt geblieben ist: die Aufnahme in den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. „Das war nie im Gespräch.“ Ohne Bedauern führt das Sinn selbst auf seine Radikalität zurück, auf seine Bereitschaft, sich mit links wie mit rechts zu überwerfen, wenn das Sachargument dies gebietet.
Im Jahr 1991 hat er einen großen publizistischen Erfolg: Gemeinsam mit seiner Frau veröffentlicht er das Buch „Kaltstart“. Darin geißelt er die wirtschaftspolitische Begleitung der Wiedervereinigung als „Konkursabwicklung mit Sozialplan“. Zugleich gründet er – mit Hilfe einer besseren Ausstattung seines Lehrstuhls infolge von Bleibeverhandlungen – das „Center for Economic Studies“ an der Münchner Universität, das 1999 dann sogar die Grundlage für die erfolgreiche Sanierung des angeschlagenen Ifo-Instituts wird, dessen Leitung Sinn übernimmt. Das Ifo-Institut war vom Wissenschaftsrat herabgestuft worden und hatte 25 Prozent seiner Mittel verloren.
Zum Ifo gedrängelt worden
Zuvor, 1998, hatte Sinn schon einen Ruf als Präsident für das Hamburgische Weltwirtschaftsarchiv – doch dem damals rot-grünen Hamburger Senat ist er nicht wirklich genehm, und Sinn lässt die Finger davon. „Ich wollte das nicht. Ich wollte immer nur die Wissenschaft. Dass ich jetzt Ifo gemacht habe, passierte nur nach langem Drängeln.“ Und so lockt ihn schließlich der bayerische Wirtschaftsminister Otto Wiesheu mit der Idee, dem CES zum Aufbau seines Netzwerkes jene Mittel zur Verfügung zu stellen, die Bayern durch die gekürzte Förderung bei Ifo eingespart hatte – und die beiden Münchner Einrichtungen zu „CESifo“ zu fusionieren. Heute hat Sinn mit CESifo ein beeindruckendes internationales Netzwerk von mehr als 500 Wissenschaftlern geschaffen und das Institut so auf Vordermann gebracht, dass sich die Evaluatoren der Leibniz-Gesellschaft in der letzten Begehung zu einem dicken Lob hinreißen ließen.
„Zwischen 30 und 40 Jahren ist man am produktivsten“, sagt Sinn. Jetzt ist er im sechzigsten Lebensjahr – und nachdenklich. Die Zeit schreite voran. „Ich sehe dem Älterwerden auch mit Gelassenheit und Genugtuung entgegen. Es ist ja durchaus nicht so, dass man so einen Ifo-Job bis an das Ende seiner Tage machen will.“ Doch er will noch dafür sorgen, dass das Institut nicht nur an der – nunmehr per Ausschreibung vergebenen – Konjunkturdiagnose für die Bundesregierung beteiligt bleibt, sondern auch stärker in Europa präsent ist. Und sonst? Abwarten. „Mein Lebensweg war sowieso so, dass ich gar nicht viel gesteuert habe. Ich wurde getrieben.“ Es sei viel Glück dabei gewesen.
Zur Person:
- Hans-Werner Sinn wurde am 7. März 1948 im westfälischen Brake geboren. Als sich der Vater als Taxiunternehmer selbständig macht, arbeitet der Sohn im heimischen Betrieb mit. Mit seiner Frau Gerlinde, ebenfalls Ökonomin, hat er drei Kinder
- Als Ökonom hat sich Sinn vor allem mit finanzwissenschaftlichen Arbeiten einen Namen gemacht. Großes Aufsehen erregt sein Buch „Kaltstart“, in dem er und seine Frau mit der missglückten ökonomischen Begleitung der deutschen Einheit abrechnen. Sinn bezeichnet sich selbst als sozialpolitisch motiviert – und ausdrücklich nicht als „neoliberal“
- Seit 1999 leitet Sinn das Münchner Ifo-Institut, das vor allem für seine Messung des deutschen Geschäftsklimas bekannt ist. Er hat das einst schwer angeschlagene Institut mit seinem Center for Economic Studies an der Münchner Universität zusammengeführt und saniert
- In der Freizeit arbeitet Sinn gern im Garten oder frönt seiner Leidenschaft für die Fotografie
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