Braucht das Land in der Corona-Krise einen Schuldenerlass?
Schwindelerregende 750 Milliarden Euro will die EU-Kommission für ihren europäischen Corona-Wiederaufbaufonds mobilisieren und dafür erstmals in der Geschichte des Staatenbundes selbst Geld an den Finanzmärkten aufnehmen. Die meisten Hilfen sollen die von der Pandemie besonders hart getroffenen Südländer Italien und Spanien bekommen. Das EU-Gründungsmitglied Italien kann mit Notkrediten und Zuschüssen von mehr als 170 Milliarden Euro rechnen. Wieder einmal sollen dafür Europas Steuerzahler zur Kasse gebeten werden.
Geht das nicht auch anders? Doch, es gäbe da noch eine andere Möglichkeit, so argumentieren manche Ökonomen. Ihre Forderung: Die Politiker sollen den Mut aufbringen, auch die Gläubiger des hochverschuldeten italienischen Staates in die Pflicht zu nehmen. In Form eines Schuldenerlasses könnten diese auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten und damit der Regierung in Rom finanzielle Entlastung verschaffen. Das klingt fair und einleuchtend - und dennoch ist die These unter Experten hochumstritten.
Unstrittig ist zumindest eines: In kaum einem Land trifft die Corona-Pandemie die Wirtschaft mit solcher Wucht wie in Italien. Um 10 Prozent wird das Bruttoinlandsprodukt dieses Jahr schrumpfen, befürchten Ökonomen - die schwerste Rezession seit Generationen. In der EU gibt es nur zwei Mitgliedstaaten, Griechenland und Spanien, wo die Wirtschaftskrise ähnlich stark wütet. Doch deren Bruttoinlandsprodukt ist viel geringer als das Italiens. Das Land ist die drittgrößte Volkswirtschaft der EU. Schon vor Covid-19 hatte Italien chronische ökonomische Probleme. Wenn es nun noch einen schweren Rückschlag erleidet, dann ist das für Europa insgesamt ein Problem.
Auch in einem anderen Punkt sind sich die Fachleute einig: Italien ging mit einem schweren Handicap in den Kampf gegen die Corona-Wirtschaftskrise. Bereits bevor das Virus kam, stand der italienische Staat mit 2,4 Billionen Euro in der Kreide. Kein anderer Staat in der EU hat so viele Schulden. Gut 60 Milliarden Euro an Zinskosten fallen deshalb im Jahr an - Geld, das der italienische Staat jetzt dringend für andere Zwecke bräuchte. Und die Pandemie kurbelt die Schuldenspirale weiter an, denn in einer schweren Rezession wie derzeit fallen die Steuereinnahmen jäh, während die Ausgaben des Staates rapide wachsen. Von 135 auf mehr als 150 Prozent der Wirtschaftsleistung werde der italienische Schuldenpegel dieses Jahr steigen, prognostiziert der Internationale Währungsfonds. Das wird den Handlungsspielraum der Regierung in Rom in Zukunft einengen. Und das heißt: Italien wird es noch schwerer haben, seine seit vielen Jahren andauernde Wachstumsschwäche zu überwinden. Hohe Staatsschulden sind eine schlechte Voraussetzung für Wirtschaftswachstum.
Das also ist die ziemlich trostlose Ausgangslage. Die Frage ist nun, ob Italien einen Schuldenschnitt braucht, um seine Probleme lösen zu können. Dieser Schritt dürfe jedenfalls nicht länger tabuisiert werden, empfiehlt der frühere Präsident des Münchner ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn. "So sehr ich jetzt für großzügige Finanzhilfen für Italien bin: Es kann nicht sein, dass Italiens in- und ausländische Gläubiger immer wieder von den europäischen Steuerzahlern rausgehauen werden, anstatt sich auch mal selbst zu beteiligen", sagt der Ökonom. Sinn verweist auf den "Pariser Club", eine informelle internationale Verhandlungsrunde, in der solche Schuldenerlasse üblicherweise geregelt werden. "Es gibt bewährte Regeln für einen geordneten Schuldenschnitt." Seit dem Zweiten Weltkrieg habe es rund 180 Schuldenerlasse für Staaten gegeben, argumentiert Sinn. "Die Welt ist davon nicht untergegangen." Auch in der Eurozone wäre ein teilweiser Schuldenerlass für Italien kein Novum. Im Fall von Griechenland wurde schon während der Eurokrise 2012 ein Schuldenschnitt vorgenommen, der zu den größten der Finanzgeschichte zählte. Flankiert wurde dieser von Kapitalverkehrskontrollen. "Ich befürchte, dass man davon über kurz oder lang auch im Falle Italiens Gebrauch machen muss, weil die Rettungspakete nicht lange reichen werden", sagt Sinn.
So sieht das auch Friedrich Heinemann, Experte für Staatsfinanzen am Mannheimer Wirtschaftsforschungsinstitut ZEW. "Der Wiederaufbaufonds wird die dramatischen Finanzprobleme Italiens letztlich nicht lösen können", sagt er voraus. Die Hilfsgelder, die mobilisiert werden sollen, seien zwar gewaltig - aber nicht groß genug für Italien. Viel wichtiger für Italien sei, dass die Europäische Zentralbank (EZB) weiter fleißig die neuen Staatsanleihen zeichne, die der Finanzminister in Rom auf den Markt wirft. Aber auch für die wachsenden Risiken in der EZB-Bilanz haften in letzter Konsequenz die europäischen Steuerzahler gemeinschaftlich.
Ähnlich wie Hans-Werner Sinn glaubt Heinemann, dass an einer Entschuldung Italiens kein Weg vorbeiführen wird. "Die Schulden sind zu hoch, das Land kommt davon nicht mehr runter", sagt der ZEW-Ökonom. "Wenn im Jahr 2022 die akute Krise vorbei ist, dann brauchen wir für Italien eine Schuldenkonferenz. Und dabei müssen natürlich auch die Gläubiger ihren Beitrag leisten und auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten." Auch Heinemann will also die Gläubiger zur Kasse bitten.
Doch andere Fachleute sehen das ganz anders. "Italien braucht keinen Schuldenschnitt", sagt Lars Feld. Der Freiburger Ökonom ist Vorsitzender des Rats der Wirtschaftsweisen, der die Bundesregierung berät. In Griechenland sei damals ein Schuldenerlass unumgänglich gewesen, doch dieser Vergleich hinke, erläutert Feld: "Italien hat eine ganz andere wirtschaftliche Substanz. Wenn die Regierung endlich die notwendigen Reformen entschlossen anpacken würde, könnten erhebliche Wachstumskräfte freigesetzt werden." Er setzt darauf, dass das Land aus seiner Schuldenmisere herauswachsen kann - denn Wirtschaftswachstum sorgt für mehr Steuereinnahmen.
Ein Schuldenschnitt dagegen würde womöglich sogar mehr schaden als nützen, gibt Feld zu bedenken: "Wenn die Schulden erst mal weg sind, dann würde auch der Druck sinken, wachstumsfreundliche Reformen anzugehen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Italien braucht." Griechenland ist das warnende Beispiel dafür: Der Gläubigerverzicht vor acht Jahren senkte die Schuldenquote des Landes nur vorübergehend. Mangels Wirtschaftswachstum stieg sie rasch wieder an - und ist heute sogar deutlich höher als vor dem Schuldenerlass.
Der Wirtschaftsweise Feld hält im Fall von Italien einen Schuldenschnitt auch für viel zu riskant. Das Hauptproblem dabei: Die mit Abstand größten Gläubiger des italienischen Staates sind die Banken des Landes, die riesige Bestän de an Staatsanleihen und Krediten für staatliche Institutionen in ihren Büchern haben. Mitte vergangenen Jahres hatten die italienischen Kreditinstitute Forderungen von insgesamt 690 Milliarden Euro gegenüber dem heimischen Staat. Müssten sie diese im Zuge eines Schuldenverzichts abschreiben, kämen viele in Not.
"Wir hätten dann sofort eine Bankenkrise in Italien, die wegen der engen Verflechtung auf andere europäische Länder übergreifen würde", sagt Feld. Vor allem französische Banken haben ebenfalls hohe Forderungen gegen Italien und würden deshalb auch massive Verluste erleiden. Aber es geht nicht nur um die Banken. Auch Lebensversicherer, Investmentfonds und andere Großinvestoren sind Gläubiger des italienischen Staates und wären deshalb von einem Schuldenverzicht betroffen.
Wiederum ist Griechenland ein abschreckendes Beispiel: Der Schuldenerlass für das Land im Frühjahr 2012 führte in einer ohnehin schon kritischen Phase zu Panik an den Märkten. "Im Rückblick muss man sagen, dass das ein Brandbeschleuniger für die Eurokrise war", räumt selbst der Schuldenschnitt-Befürworter Heinemann vom ZEW ein. Das ist der Grund, warum er die von ihm empfohlene "Schuldenkonferenz" zu Italien nicht sofort, sondern erst im übernächsten Jahr einberufen würde - und den Anleihegläubigern auch dann nur einen Teil der Lasten aufbürden würde. "Jetzt, mitten in der Wirtschaftskrise, geht das nicht. Die Märkte sind dafür zu fragil."
Hans-Werner Sinn bestreitet nicht die Gefahr einer Finanzkrise, die mit einem Schuldenschnitt verbunden wäre, aber er hält dieses Risiko im Zweifel für das kleinere Übel. Frankreich sei stark genug, um im Notfall seine Banken zu stützen, sagt er. Letztlich gehe es um eine Risikoabwägung - und dabei fehle es den Politikern an Weitsicht: "Sie haben immer Angst vor den kurzfristigen Risiken für die Finanzmärkte und nehmen dafür Risiken in Kauf, die auf längere Sicht sehr viel bedrohlicher sind", kritisiert Sinn. "Die
Rettung der Anleger durch eine Vergemeinschaftung der Schulden erodiert die Staaten und ruft die Gefahr eines riesengroßen Schuldenstreits in Europa hervor, an dem die EU zerbrechen kann."
Über eines freilich muss man sich klar sein: Selbst wenn es keine neue Finanzkrise in Europa geben sollte, wäre ein Schuldenschnitt für Italien wohl nicht kostenlos für die deutschen Steuerzahler. Denn weil die EZB in den vergangenen Jahren bergeweise italienische Staatsanleihen gekauft hat, wäre auch die Notenbank von einem Schuldenerlass betroffen. Deutschland müsste einen Teil dieser Verluste übernehmen. "Die Bundesbank müsste dann vom deutschen Staat rekapitalisiert werden", sagt Sinn. Bis zu 150 Milliarden Euro könne das im Extremfall kosten.
Was bleibt damit als Fazit? Zusammenfassen kann man die Argumente beider Seiten in etwa so: Ein Schuldenschnitt für ein großes Mitgliedsland wie Italien wäre ein radikaler Neuanfang nach zehn Jahren, in denen die Steuerzahler entweder direkt oder indirekt himmelhohe Kosten für Rettungshilfen in der Eurozone geschultert haben. Aber die Risiken dieses Kurswechsels wären beträchtlich. Und ob ein Schuldenerlass Italien und anderen Eurostaaten wirklich dauerhaft helfen würde, das ist keineswegs sicher. "Einen einfachen Ausweg gibt es nicht", sagt Hans-Werner Sinn. "Die Karre steckt richtig im Dreck."