Streit ist sicher

Dennis Kremer, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24. Mai 2020, S.20.

Gegen etwas zu sein macht nicht beliebt. Das wirkt schnell kleinkariert, miesepetrig und mäkelnd, ohne eigene Visionen. Darum vorneweg eine Klarstellung: Dieses Plädoyer richtet sich nicht gegen die europäische Einigung. Es geht vielmehr darum, Gefahren für die europäische Einigung zu vermeiden. Europa kann nur funktionieren, wenn es sich nicht überfordert. Und wenn es moralische Überhöhung vermeidet. Denn wer moralisch überhöht, braucht sich um echte Argumente nicht mehr zu scheren. Von einer höheren Warte aus ist alles Darunterliegende kaum der Beachtung mehr wert. Das führt zu einem problematischen Verständnis von Solidarität. Deutschland müsse sich mit dem Rest Europas solidarisch zeigen, heißt es überall. Schließlich treffe die Corona-Krise alle Länder unverschuldet.

Dies ist zwar richtig, übersieht aber eine wichtige Wahrheit: Jedes Land ist weitgehend selbst verantwortlich für den Zustand, in dem es in die Krise hineingegangen ist. Dazu fällt einem ein Satz des legendären amerikanischen Investors Warren Buffett ein. Er hat einmal gesagt: "Erst wenn die Ebbe kommt, sieht man, wer nackt geschwommen ist." Man kann dem anderen in dieser unangenehmen Situation zwar schnell ein helfendes Handtuch reichen. Dies wäre als Zeichen der Solidarität sogar angebracht. Aber der andere kann daraus eben nicht ableiten, dass er nun gleich mit einem Kleiderschrank voller Badetücher ausgestattet wird.

Übertragen auf heute bedeutet das: Es gibt Staaten wie Deutschland, die die Corona-Krise in einem Zustand ökonomischer Stärke getroffen hat. Und es gibt Staaten wie Italien, die sie in einem Zustand ökonomischer Schwäche heimsuchte. Es darf aber nicht das Ziel von Krisenmaßnahmen sein, die vorher
bestehenden Unterschiede mit Verweis auf die Krise zu nivellieren. Das machen die Bürger nicht mit, es geht gegen ihr Gerechtigkeitsempfinden.

Jetzt könnte man sagen: Was sind schon die geplanten 500 Milliarden Euro Schulden gegen die großartige Idee eines friedlichen und geeinten Europa, die durch die deutsch-französische Initiative vermeintlich  gestärkt wird? Man dürfe Europa eben nicht mit einem Preisschild versehen, heißt es gerne von den Befürwortern der Initiative. Das ist eine gravierende Fehleinschätzung: In Wahrheit ist ein solches Preisschild nötig. Denn nur dann wissen die Deutschen und alle anderen Europäer, worauf sie sich da eigentlich einlassen.

Bisher wurde der Preis des Ganzen nie offen ausgewiesen. Aber dass sie für Europa einen Preis zahlen mussten, haben die Deutschen trotzdem gespürt. Niemals werde man für die Schulden anderer Länder einstehen müssen, wurde ihnen zu Beginn der Währungsunion versprochen. Indirekt geschah dies aber trotzdem: Die Anleger an den Finanzmärkten gingen unausgesprochen davon aus, dass am Ende eben doch Deutschland mit seiner Finanzkraft den Laden zusammenhalten würde.

Zu Beginn war dies alles noch nicht sonderlich dramatisch, bis die Griechenland-Krise kam. Der damals amtierende Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, sprach seine berühmten Worte, er werde tun, "was immer nötig sei", um den Euro zu retten. Das ist ihm aus heutiger Sicht gelungen, aber eben auch um den Preis eines Tabubruchs, zumindest aus deutscher Sicht: Durch den Ankauf von Staatsanleihen der Eurostaaten hat sich die EZB der Grenze zur eigentlich verbotenen Staatsfinanzierung durch die Notenbank zumindest angenähert.

Der deutsch-französische Vorschlag ist nun ein ganz anderer. Zwar wird allenthalben versichert, es handle sich bei dem beabsichtigten Fonds nicht um einen Fonds mit gesamtschuldnerischer Haftung - ein Konstrukt also, in dem ein Staat für die Schulden der anderen Staaten mit einsteht. Doch die offene Frage ist, ob es nicht am Ende genau darauf hinausläuft. Zwar sollen die Anleihen des Fonds aus dem EUHaushalt zurückgezahlt werden. Doch würde der Rest Europas einen hochverschuldeten Mitgliedstaat wirklich dazu zwingen, für seinen Anteil einzustehen? Das ist zu bezweifeln, zumal nach dem Rückzug Großbritanniens die Länder, die Haushaltsdisziplin verlangen, in der EU eine Minderheit sind.
Von einem impliziten Haftungsverbund bewegt sich Europa in Wahrheit so immer mehr in Richtung expliziter Haftung.

Einen solchen gemeinsamen Haftungsverbund finden viele richtig, schließlich hat Deutschland von den offenen Grenzen Europas und vielem anderen enorm profitiert. Aber es gibt dabei ein grundlegendes Problem: In solchen Haftungsverbünden diffundiert die Verantwortung. Konkret gesagt: Wenn Regierungen nicht vernünftig wirtschaften und stattdessen Schulden machen, gehören sie abgewählt. Im Europa von
heute können sie stattdessen einfach mit dem Finger auf andere Länder zeigen, die ihnen noch mehr Unterstützung bieten müssten. Unfriede statt Gemeinschaftssinn ist die Folge.

Dass auch der EU-Kommission in dieser Hinsicht nicht zu trauen ist, zeigt eine Beobachtung des Ökonomen Friedrich Heinemann. Er hat festgestellt: Vor Corona sah die EU-Kommission Ita liens Fähigkeit, seine Schulden mittelfristig zu tragen, als gefährdet an. In einer neuen Einschätzung vom Mai dagegen bescheinigt die Kommission dem Land genau diese mittelfristige Schuldentragfähigkeit. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Der dieser Tage vielzitierte HamiltonMoment hat Amerika keinen Wohlstand, sondern Streit gebracht, wie der Ökonom Hans-Werner Sinn in der F.A.Z. schrieb. Erst als Zentralregierung und Einzelstaaten strikte Schuldengrenzen für Letztere verabredeten, befriedete sich die Lage. Finanzielle Eigenverantwortung stärkt die Gemeinschaft. Das sollte Europa eine Lehre sein.