Hans-Werner Sinn: ‚Ein Westfale, der die Wahrheit sucht‘

Hans-Werner Sinn

 Handelsblatt Online, 18. Februar 2003.

IFO-INSTITUT AUS DER KRISE GEFÜHRT

Das VWL-Studium war für Hans-Werner Sinn nur zweite Wahl - am liebsten wäre er Biologe geworden. Heute gilt der Präsident des Münchener Ifo-Instituts als einer der besten Ökonomen des Landes. Seit seinem Amtsantritt im Jahr 1999 hat er den damals angeschlagenen Think Tank konsequent saniert.

MÜNCHEN. Manchmal, da schießt dieser Mann einfach übers Ziel hinaus. Der neue „Medienraum“ des Münchener Ifo-Instituts ist so ein Beispiel. Um sich selbst und die anderen fernsehtauglichen Wissenschaftler im TV besser in Szene zu setzen, opferte Hans Werner Sinn einen Besprechungsraum auf der zweiten Etage.

Jetzt verhüllen königsblaue Vorhänge die kalkweißen Wände und dämpfen den Schall, teure Spezialscheinwerfer hängen von der eigens eingezogenen Zwischendecke herab. Nur genutzt wird der Raum bis heute wenig. Viele TV-Teams drehen lieber in Sinns Büro oder in der Bibliothek - das wirkt einfach authentischer.

„Typisch Sinn“, seufzt ein Mitarbeiter. Aber so ist er, der Chef: Perfektionistisch, kreativ, ein Arbeitstier – und unheimlich stur. „Ein westfälischer Dickkopf.“ Wenn „HWS“, wie er intern firmiert, mal wieder eine neue Idee ausheckt, gibt es für seine Leute kein Zurück. „Heute Nacht hat er wieder geträumt“, sagen die dann und machen sich an die Arbeit.

Seit Februar 1999 führt Sinn das Ifo-Institut. Keine leichte Aufgabe: Kurz vor seinem Amtsantritt schlitterte das Traditionshaus in eine tiefe Krise. Der Wissenschaftsrat hatte moniert, das Ifo arbeite zu wenig wissenschaftlich. Das Institut wurde zur „Service-Einrichtung“ degradiert, die Fördermittel um 30 % gekürzt. Sinn musste das Personal von 230 auf 130 Vollzeitstellen kürzen und etliche Abteilungen schließen. Heute ist das Institut über den Berg – dafür zollen ihm die Mitarbeiter Respekt: „Er hat uns aus der Krise geführt.

Lange hatte sich Sinn bitten lassen, bis er den Ifo-Job annahm – Bayerns Wirtschaftsminister Otto Wiesheu musste ihn eine Weile beknien. Und bis heute bedauert Sinn: „Meine Zeit muss ich weitgehend Management-Aufgaben widmen – da muss man in erheblichem Umfang wissenschaftliche Forschung aufgeben.“ Für seine alte Leidenschaft, die Fotografie, bleibt da erst recht keine Zeit.

Von allen Seiten umworben zu werden, das ist der 54 Jahre alte Ökonom schon lange gewöhnt. Bereits 1984 war das so, als er seine Professur in München antrat. Da hatte er noch einen Ruf nach Gießen in der Tasche, auch eine US-Uni war interessiert. Mit seiner Habilitation hatte sich Sinn einen Ruf als exzellenter Theoretiker gemacht – sein Modell über die Wirkungen der Besteuerung von Kapitaleinkünften gilt bis heute als wegweisend. In den 90er-Jahren dann jagte ein Abwerbeversuch den nächsten: 1991 wollte ihn die Uni Bern, zwei Jahre später das Max-Planck-Institut zur Erforschung von Wirtschaftssystemen, 1998 das Hamburger Wirtschaftsforschungsinstitut HWWA.

Stets blieb Sinn standhaft – nicht nur, weil 1991 fast 60 % aller VWL- Studenten in München den „didaktisch hervorragenden“ Professor per Unterschrift zum Bleiben aufriefen. Seine Treue ließ er sich vom Freistaat versüßen. 1991 handelte er ein eigenes Institut heraus, das „Center for Economic Studies“ (CES), das internationale Top-Ökonomen zu Gastaufenthalten nach München einlädt, später holt er jedes Mal mehr Geld für das CES heraus. Heute ist Sinn einer der besten Ökonomen des Landes – dabei war das Fach für ihn anfangs nur eine Notlösung. „Eigentlich wollte ich Biologe werden“, erzählt er. „Aber ich dachte mir: Damit kannst Du nur Lehrer werden.“ Also lieber VWL – „das hat mit Politik zu tun und mit Geld, kann so falsch also nicht sein“.

Denn Politik faszinierte ihn schon immer. Bereits als Gymnasiast habe er jede Zeitung verschlungen, die ihm in die Finger kam. Mit dem „geistigen Rüstzeug eines Spiegel-Lesers“ schrieb er sich 1967 in Münster ein, geriet in den Sog der Studentenbewegung: Demos gegen Vietnam, ewige Diskussionen darüber, ob der Markt die Probleme der Menschheit lösen kann. „Wir standen damals alle ein bisschen links.“ Je länger er studierte, desto mehr Zweifel kamen auf. Nach und nach habe er verstanden, „dass die Anarchie der Märkte gar keine Anarchie ist, sondern dass es eine Selbstregulierung gibt und der Markt die Antwort auf viele Probleme ist.“

In jenen Münsteraner Tagen stellten sich auch private Weichen: Im Hörsaal verliebte er sich in die Kommilitonin Gerlinde Zoubek, die er 1971 heiratet. Später ziehen sie nach Mannheim, wo beide als Assistenten arbeiten. Sie bekommen drei Kinder und schreiben das viel beachtete Buch „Kaltstart“ über die ökonomischen Probleme der deutschen Einheit. Bis heute besuchen sie Konferenzen gemeinsam, diskutieren daheim volkswirtschaftliche Fragen aller Art und Form. „Das ist fast schon zu viel Ökonomie zu Hause“, sagt er.

Eines hat sich in den Studententagen in seine Seele gegraben: „Eine tief sitzende Aversion gegen Ideologen, egal ob von rechts oder links.“ Auch die „Präferenz für Gleichheit und Gerechtigkeit“ hat er sich bewahrt – ebenso den unverwechselbaren Bart. „Der kam von ganz alleine, und ich habe ihn seit meiner Studentenzeit ohne Unterbrechung behalten.“ Sinn sieht sich als „pragmatischen Ökonomen“, der versucht, „sich von Vorurteilen freizumachen“. Einer speziellen Denkrichtung ist er nicht verpflichtet – „man muss mal in diese Theoriekiste greifen, mal in jene“.

Etliche Illusionen aber sind auf der Strecke geblieben. Noch Mitte der 90er-Jahre war Sinn überzeugt, „dass sich der gesunde Menschenverstand auf die Dauer durchsetzt.“ Heute ist er sich da nicht mehr so sicher. „Ich habe jetzt mehr politischen Einfluss, als ich jemals hatte – sehe aber umgekehrt genau, wie wenig es tatsächlich ist.“ Die Bundesregierung sei äußerst beratungsresistent. „Sie schafft sich eine Hartz-Kommission ohne einen einzigen Ökonomen, aber den Sachverständigenrat, die ökonomischen Beiräte der Ministerien oder die Forschungsinstitute will sie überhaupt nicht hören.“

Richtig wütend wird er, wenn er sich an eine Anhörung im Bundestag erinnert – die SPD hatte Bert Rürup geladen, die CDU/CSU ihn. „Glauben Sie, die Union hätte einmal Herrn Rürup befragt oder die SPD mich?“ Irgendwann platzte ihm der Kragen: „Welches Kasperle-Theater machen Sie hier eigentlich?“, brüllte er. „Ich komme doch hier nicht als Parteienvertreter hin – ich bin ein Wissenschaftler, der die Wahrheit sucht!“

Sinn ist überzeugt: „Wir Wissenschaftler müssen die Medien einspannen, um eine Reformstimmung zu erzeugen.“ Im Grunde ist er eben ein Achtundsechziger geblieben: „Wir müssen unsere Stimme erheben, damit der ökonomische Unsinn in der Politik nicht weitergehen kann.“