Staaten und Notenbanken versuchen mit milliardenschweren Hilfspaketen, Unternehmen und Banken vor dem Kollaps zu retten. Das Wirtschaften auf Pump birgt die Gefahr einer Krise nach der Krise.
Viel Zeit blieb Johannes Slawig in den vergangenen Wochen nicht. Der Chef der Corona-Taskforce der Stadt Wuppertal musste Schutzausrüstung für das Gesundheitsamt beschaffen, Ärzte für das Behelfskrankenhaus in der Sporthalle einstellen und die Finanzierung für das neue Testcenter der Feuerwache überprüfen.
Und so ist Slawig bisher nicht dazu gekommen, die neuen Webcams auf der Internetseite des städtischen Zoos anzuklicken, die die ersten Gehversuche des frisch geborenen Elefantenbabys Kimana live übertragen.
Die Übertragung ist ein kleiner Trost für die Freunde des zeitweise stillgelegten Tierparks. Für Slawig dagegen, im Hauptberuf Wuppertals Kämmerer, ist sie ein zusätzlicher Minusfaktor in seiner tiefroten Corona-Bilanz. Allein der Shutdown des Zoos bescherte der Stadt bis Ende April Einnahmeverluste von 600.000 Euro. Hinzu kommen die Steuerausfälle infolge der weitgehend stillgelegten Wirtschaft (fast 75 Millionen), die fehlenden Erlöse der städtischen Bühnen (rund 2 Millionen), die steigenden Hartz-IV-Ausgaben für jene Arbeitslosen und Kurzarbeiter, deren Einkommen unter die Sozialhilfeschwelle rutschen (10 Millionen).
Unterm Strich, hat Slawig errechnet, wird der Schuldenberg der Stadt durch die Coronakrise um 150 Millionen Euro wachsen. "Ich fürchte, dass die Pandemie alle Sparerfolge der vergangenen Jahre zunichte machen wird", sagt er.
Ob in Städten oder Staaten, privaten Haushalten oder Unternehmen, fast überall sorgt die Seuche für schrumpfende Einnahmen, während die Kosten weiterlaufen – und so bleibt vielerorts nur der Ausweg in die Verschuldung. Wohl kein Ereignis der Nachkriegszeit hat ein derartiges Ausmaß an Verbindlichkeiten produziert wie der Todeszug des Coronavirus.
Schon vor der Krise hatte der globale Kreditberg mehr als 250 Billionen Dollar erreicht, das Dreifache der jährlichen Weltwirtschaftsleistung. Nun haben Regierungen rund um den Erdball billionenschwere schuldenfinanzierte Rettungspakete aufgelegt, die Europäische Zentralbank (EZB) und andere Notenbanken pumpen quasi grenzenlos Geld in die Wirtschaft, um einen Kollaps zu verhindern.
Wie aber und vor allem von wem sollen all die Schulden getragen oder gar abbezahlt werden? Am Ende, so fürchten einige Ökonomen, könnte die Rettungspolitik in eine fatale Kombination aus Inflation und Stagnation münden. In eine Krise nach der Krise, deren Preis vor allem die nachfolgenden Generationen zahlen. Ist die Pandemie also nur das Vorspiel zum ganz großen Crash, zu einer Finanzkrise epochalen Ausmaßes, die Unternehmen, Banken und Staaten in den Abgrund reißt?
Es ist ein düsteres Szenario: Unternehmen, denen das Geschäft wegbricht, müssen Kredite aufnehmen und Mitarbeiter entlassen. Bürger, die schon vor Corona hoch verschuldet waren, können dann ihre Darlehen nicht mehr bedienen. Vor allem in den USA, dem Land des Ratenkredits, wächst die Sorge, dass Millionen Auto-, Haus- und Studiendarlehen platzen könnten. Aber auch in Deutschland haben Verbraucher dank niedriger Zinsen in den vergangenen Jahren viel auf Pump finanziert. Gehen Bürger, Firmen oder gar Staaten pleite, trifft das mit voller Wucht die Banken und könnte eine neue Kreditkrise auslösen wie nach dem Lehman-Crash 2008.
Hans-Joachim Ziems hat schon viele Firmen pleitegehen sehen. Der Kölner Unternehmensberater verarztete im Jahr 2002 die Mediengruppe von Leo Kirch. 2009, in der Finanzkrise, half Ziems, den Einsturz des Imperiums von Adolf Merckle zu verhindern. Dessen Flaggschiff-Konzerne Heidelberg Cement und Ratiopharm überlebten, der Selfmade-Milliardär aber nahm sich aus Gram und Schande über die Schulden das Leben.
Eine Rezession in einer solchen Breite, "vom Handel über die Industrie bis zum Dienstleistungssektor ist auch für mich Neuland", sagt Ziems. In manchen Branchen seien die Verluste, die jetzt entstünden, nicht aufholbar. Die Krise werde deshalb die Verschuldung der Unternehmen sprunghaft ansteigen lassen und eine Welle von Insolvenzen nach sich ziehen.
Wie schnell Liquidität schwindet und die Schulden steigen, erlebt Ziems gerade hautnah. Einige Monate bevor das Coronavirus Europa erreichte, wurde er, zunächst als Berater, zum Autozulieferer Leoni gerufen und später zum Restrukturierungsvorstand ernannt. Die Firma produziert Kabelstränge und Bordnetze für Autohersteller und hatte sich übernommen. Ziems soll bei der Sanierung helfen. Am 13. März stimmten die Banken der Restrukturierung zu, Ziems konnte mit 200 Millionen Euro neuer Liquidität rechnen. "Ein paar Tage später begann der Lockdown, wir mussten komplett neu planen."
Leoni musste Werke schließen und die Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken. So schnell wie der Umsatz wegbrach, ließen sich die Kosten nicht senken, Ziems bat die Banken erneut um Liquidität, der Bund stellte schließlich eine Bürgschaft für 330 Millionen Euro neuer Kredite aus.
So wie Leoni geht es in diesen Wochen zahllosen Unternehmen. Konzerne wie die Lufthansa, Touristik-, Gastronomie- und Einzelhandelsfirmen büßten zeitweise mehr als 90 Prozent ihres Umsatzes ein, während Gehälter, Mieten und andere Kosten weiterliefen. "Die Lücke zwischen Umsätzen und Kosten müssen viele Unternehmen durch neue Schulden schließen", sagt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank.
Nach Angaben der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich hat keine andere Rezession der Neuzeit Firmen weltweit so hart getroffen wie der Covid-19-Schock. Jede zweite hätte ohne staatliche Hilfen nicht genug Cash, um in diesem Jahr ihre Verbindlichkeiten zu bedienen.
Wer noch konnte, besorgte sich Geld am Kapitalmarkt oder von den Banken. Die EZB-Bankenaufsicht hat die Kapitalregeln gelockert und es Europas Kreditinstituten ermöglicht, bis zu 1800 Milliarden Euro zusätzlicher Darlehen zu vergeben. Und Konzerne wie Daimler, Bertelsmann und E.on haben seit Mitte März Anleihen im Wert von mehr als 100 Milliarden Euro platziert.
Unternehmen, denen dieser Weg der Geldbeschaffung verschlossen ist, hilft der Staat. Die Bundesregierung stellt über die KfW Kredite und Bürgschaften über mehr als eine Billion Euro zur Verfügung. Mehr als 25 500 Anträge für KfW-Darlehen im Wert von gut 33 Milliarden Euro sind binnen fünf Wochen eingegangen.
Gelindert ist damit nur die unmittelbare Not, denn die Anleihen und KfW-Kredite müssen die Unternehmen zurückzahlen, zuzüglich Zinsen. Sie gehen deshalb mit einer schweren Hypothek in den Aufschwung, von dem alle hoffen, dass er bald kommt. Aber selbst das ist nicht sicher.
Ratingagenturen wie Standard & Poor's (S&P) bewerten die Kreditwürdigkeit von Firmen, Banken und Staaten. Derzeit senken sie wegen der sprunghaft steigenden Schulden reihenweise die Bonitätsnoten und zeigen so ein erhöhtes Ausfallrisiko an. Für Unternehmen, die sich um neue Kredite bemühen, heißt das, dass sie den Geldgebern höhere Zinsen zahlen müssen. Das verschärft die Finanznot weiter. Zugleich brauchen Unternehmen im Aufschwung mehr Kapital, um die Produktion wieder hochzufahren. "Oft bricht den Firmen erst der Aufschwung nach der Krise das Genick", sagt Tobias Mock, Leiter des Bereichs Unternehmensratings bei S&P.
Der Experte glaubt, dass viele Firmen aus dem Teufelskreis nicht mehr herauskommen. "Die Zahlungsausfälle werden in den nächsten Monaten deutlich steigen und voraussichtlich 2021 ihren Höhepunkt erreichen." Bei Anleihen, die von S&P als "spekulativ" bewertet werden, rechnet Mock in Europa mit einem Anstieg der Ausfallrate auf bis zu zehn Prozent, im vergangenen Dezember lag die Quote noch bei zwei Prozent.
Eine solche Entwicklung ist nicht untypisch. Nach dem Crash der New Economy im Jahr 2000, dem Platzen der Immobilienblase in den USA 2007 und nach der Euroschuldenkrise 2012 sparten viele Unternehmen jahrelang gegen ihren Schuldenberg an. "Das war ein Hemmschuh für das Wachstum", sagt Commerzbank-Ökonom Krämer. Er erwartet, dass dies nun wieder geschieht, die Firmen also weniger investieren und Personal abbauen, was die wirtschaftliche Erholung "spürbar verlangsamen" werde.
Ob Unternehmen überhaupt die Zeit bekommen, sich aus der Krise zu befreien, wird maßgeblich von den Banken abhängen. Wenn Experten wie Mock recht behalten, häufen sich bald die faulen Kredite in den Bankbilanzen. Dann wird sich, wie schon 2008/09, zeigen, wer noch die Kraft hat, angeschlagenen Firmen beizustehen. Bereits vor der Corona-Pandemie schlummerten in den Büchern der europäischen Banken notleidende Kredite in Höhe von rund 600 Milliarden Euro. Bei griechischen Banken machen faule Darlehen mehr als 30 Prozent des Kreditportfolios aus, in Italien immerhin 6,7 Prozent.
Die Sorge um die Stabilität der Banken treibt offenbar auch die Politik um. In der EU wird diskutiert, ob die nach 2008 beschlossenen Regeln für Bankenrettungen gelockert werden sollten, um kriselnde Institute mit Steuergeld aufzufangen.
Am Ende wird ohnehin ein großer Teil des Risikos beim Staat landen. Eine Pleitewelle in der Wirtschaft können die Regierungen ebenso wenig zulassen wie einen neuerlichen Crash im Bankensektor. Der Staat, so empfahl der frühere EZB-Chef Mario Draghi kürzlich, müsse die Defizite der Privatwirtschaft auf die eigene Bilanz nehmen.
Damit würden die Staatsschulden in aller Welt explodieren wie sonst nur zu Kriegszeiten. Allein in diesem Jahr, prognostiziert der Internationale Währungsfonds (IWF), wird der staatliche Kreditberg um acht Billionen Dollar zunehmen. Er wüchse damit auf etwa 100 Prozent der jährlichen globalen Wirtschaftsleistung. Das wäre fast so viel wie in Griechenland vor der Eurokrise.
Wird das Virus also nach der Volksgesundheit die Staatsfinanzen zerrütten?
Viele Ökonomen halten das für unwahrscheinlich. In den meisten entwickelten Ländern seien die Kredite "problemlos tragbar", sagt Olivier Blanchard vom New Yorker Peterson-Institut. Die Niedrigzinsen machten es vielen Regierungen leicht, auf Pump zu leben. Es spreche deshalb auch wenig dagegen zu klotzen – je mehr Kredit, desto besser.
Doch nicht alle Wirtschaftswissenschaftler sind überzeugt, dass sich die Krise so leicht bewältigen lässt. Hans-Werner Sinn zum Beispiel, der frühere Präsident des Münchner Ifo-Instituts, hält es zwar "für angemessen, die temporäre Krise durch höhere Staatsschulden abzufedern". Aber ihn besorgt, dass die Notenbanken weltweit den Regierungen dabei zu Hilfe kommen, indem sie die Staatspapiere in großem Stil ankaufen.
Die Zentralbankgeldmenge im Euroraum werde sich in diesem Jahr im Vergleich zum Zeitpunkt vor der Finanzkrise vervierfachen, sagt Sinn. Das Coronavirus sorge für ein schrumpfendes Angebot an Waren und Dienstleistungen. Zu viel Geld für zu wenig Güter – das kann jenes wirtschaftliche Übel zurückbringen, das schon ausgerottet schien: die Inflation. Sie drohe zwar nicht unmittelbar, sagt Sinn. "Doch wenn die Preissteigerung einmal eingesetzt hat, lässt sie sich nur schwer wieder einfangen."
Bereits die spätrömischen Herrscher nutzten die Geldentwertung, um den Staat zu entschulden. Auch später entledigten sich Regierungen immer wieder durch Inflation ihrer größten Verbindlichkeiten. Ökonomen wie Sinn sagten deshalb auch nach der Euro-Staatsschuldenkrise eine neue Inflationswelle voraus.
Sie kam nicht, stattdessen fielen die Leitzinsen auf null und teilweise darunter, jedenfalls unter die Inflationsrate. Dies lässt, wenn auch langsam, die Schulden schrumpfen. Zugleich aber auch die Ersparnisse derer, die ihr Geld auf verzinsten Konten oder in verzinsten Wertpapieren angelegt haben. Die Corona-Pandemie könnte dafür sorgen, dass die Zinsen noch auf Jahre oder gar Jahrzehnte extrem niedrig bleiben, weil Staaten, Banken und Unternehmen nur so ihre Schuldenlast tragen können, ohne bankrottzugehen.
Am akutesten ist die Gefahr von Staatspleiten in jenen Nationen, die längst vor Corona hoch verschuldet waren. Viele Schwellen- und Entwicklungsländer haben in großem Stil Kredite aufgenommen, oft in fremden Währungen wie dem Dollar.
Nun brechen die Märkte für Rohstoffe ein, der Tourismus ist praktisch zum Erliegen gekommen, und ihre Währungen verlieren an Wert. Dadurch fällt es ihnen noch schwerer, die Schulden zu bedienen. Zwar hat der IWF kürzlich für 25 der ärmsten Länder seine Zins- und Tilgungsforderungen vorübergehend ausgesetzt. Mehr als Symbolik ist das nicht.
Sollte es keinen durchgreifenden Schuldenerlass geben, prognostizieren Ökonomen, werde eine Reihe von Staaten in Afrika, Lateinamerika oder Asien Bankrott anmelden müssen. Die Folgen für das Finanzgewerbe wären katastrophal.
Auch in Europa verschärft die Coronakrise die ökonomische Spaltung. Während die Nordländer genug Spielraum für milliardenschwere Rettungspakete haben, treibt sie viele südeuropäische Eurostaaten an den Rand des Ruins. In Spanien wird die bevorstehende Rezession die Schuldenquote bereits in diesem Jahr auf knapp 116 Prozent des Bruttoinlandsprodukts emporschnellen lassen, in Italien sogar auf rund 159 Prozent.
Seit die Euroländer hitzig über Corona-Bonds und Wiederaufbaukredite streiten, sind die alten Zweifel an der Tragfähigkeit der Währungsunion wieder da. Während sich der Süden vom Norden im Stich gelassen fühlt, fürchten Länder wie die Niederlande, Österreich oder Deutschland, dass vor allem Italien unter seiner Kreditlast zusammenbrechen könnte. Die "Euroskeptiker" seien in einigen wichtigen Ländern "wieder im Aufwind", sagt Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg-Bank. Dieses "politische Risiko" für die Währungsunion mache die Finanzmärkte nervös. Der Zinsabstand zwischen italienischen und deutschen Staatsanleihen hat sich seit Mitte Februar fast verdoppelt – und damit die Gefahr, dass Europa in eine Währungskrise stürzt.
So bringt die neue Schuldenwelt eine globale Zweiklassengesellschaft hervor. Vielen Ländern wird es nicht schwerfallen, geraume Zeit auf Pump zu wirtschaften. Anderen könnten die Corona-Kredite zum Verhängnis werden. Sie stehen vor einem schwierigen Balanceakt: Auf der einen Seite lauern Depression und Arbeitslosigkeit, auf der anderen die Staatspleite.
Manchen Ländern droht auch ein Schicksal wie Japan, das seit vielen Jahren mit extrem hohen Staatsschulden und einer ultralockeren Geldpolitik lebt. Für ExIfo-Chef Sinn birgt das die Gefahr einer Zombie-Wirtschaft, einer "Ökonomie des schleichenden Stillstands", die von maroden Banken, trägen Unternehmen und schwachen Wachstumsziffern geprägt sei. "Das sollte sich Deutschland nicht zum Vorbild nehmen."
Nachzulesen auf www.spiegel.de.