Weimar. (tlz) Was braucht Deutschland, damit es den Entwicklungen in der Welt nicht hinterher hinkt und damit die Menschen wieder Arbeit finden? Darüber sprach die TLZ im Weimarer Hotel Elephant mit Professor Hans-Werner Sinn, Präsident des Ifo-Instituts und meistzitierter Wirtschaftsfachmann in Deutschland. Sinn war in die Kulturstadt gekommen, um beim Thüringer Industrieclub zu referieren.
Professor Sinn, nach dem ersten Gespräch zwischen Union und SPD deutet vieles auf eine Große Koalition hin. Ist das gut für Deutschland?
Ich glaube weniger. Die Aufgaben sind zwar groß, was für eine Große Koalition zu sprechen scheint. Aber der SPD sitzen Gregor Gysi und Oskar Lafontaine im Nacken, so dass sie kaum bereit sein wird, den Reformkurs in der alten Intensität fortzuführen. Wenn man meint, dass mehr marktwirtschaftliche Reformen notwendig sind, und meines Erachtens sind sie es, dann geht das nur mit der Jamaika-Koalition.
Aus Ihrem Institut gab es aber auch andere Stimmen...
Ich war bis zur Formierung der Linken selbst der Meinung: Wir brauchen eine Große Koalition in Deutschland. Aber inzwischen sehe ich das anders. Wenn die SPD den Hartz-IV-Kurs in welcher Koalition auch immer fortführt, dann werden ihr die Linken eine Menge Arbeitnehmer abspenstig machen. Und davor hat die SPD Angst.
Angst lähmt. Und das passt nicht zu Deutschland mitten im Reformprozess. Welche Reform ist denn am dringlichsten?
In erster Linie Reformen des Arbeitsmarktes, denn dieser funktioniert überhaupt nicht in Deutschland. Wir haben eine extrem hohe Arbeitslosigkeit der Geringqualifizierten, ein extrem hohe Arbeitslosigkeit im Osten und eine extrem hohe Arbeitslosigkeit der Älteren. In der Summe machen diese drei Problemgruppen fast die gesamte Arbeitslosigkeit aus. Da müssen wir ran. Und das geht nur, indem wir den Sozialstaat reformieren.
Das heißt?
Der Sozialstaat muss sich von seiner Konkurrenzrolle, die er am Arbeitsmarkt spielt, nach und nach zurückziehen und zu einem Partner der privaten Wirtschaft werden. Und zwar in dem Sinne, dass er in Zukunft seine Leistungen verstärkt als Lohnzuschuss zahlt und weniger als Lohnersatz. Durch die jetzige Konkurrenzrolle werden Mindestlohnansprüche aufgebaut, weil niemand für weniger in der privaten Wirtschaft arbeitet, als ihm der Staat fürs Nichtstun zahlt. Diese Ansprüche sind in vielen Fällen zu hoch, als dass es Unternehmen attraktiv fänden, dafür Jobs zu schaffen. Wenn Lohnzuschüsse gezahlt werden, gibt es keine Mindestlohnansprüche mehr. Der Lohn für einfache Arbeiten fällt, für die Arbeitgeber lohnt es sich, neue Stellen zu schaffen, und dennoch gibt es wegen der Zuschüsse keine Einkommensverluste für die Geringverdiener.
Der Sozialstaat wird also nicht abgeschafft, sondern...
... effizienter gemacht, indem seine Mittel fürs Mitmachen und nicht fürs Wegbleiben ausgibt. Der Sozialstaat muss immer den weniger leistungsfähigen Mitgliedern der Gesellschaft helfen, aber er soll ihnen nicht mehr, wie es heute geschieht, unter der Bedingung helfen, dass sie selbst keinen Beitrag leisten.
Mit welchen Instrumenten arbeitet Ihr Modell?
Ich setze auf die aktivierende Sozialhilfe. Und zwar sowohl für die Geringqualifizierten als auch für die neuen Bundesländer. In beiden Fällen gibt es ein Missverhältnis zwischen Lohn und Produktivität, das Arbeitslosigkeit erzeugt, und in beiden Fällen kann dieses Missverhältnis durch Lohnsenkungen beseitigt werden, ohne dass die Arbeitnehmer Einkommenseinbußen hinnehmen müssen. Und wir brauchen wieder die Älteren, die durch die Blümsche Politik aus dem Arbeitsmarkt gestoßen wurden. Ihre Beschäftigung muss sowohl für die Unternehmen als auch für die Menschen attraktiv sein.
Wie soll das gehen?
Frührente wird zu einem Lohnzuschuss in dem Sinne, dass man arbeiten darf, während man die Frührente bezieht. Bisher gibt es einen Konflikt zwischen Frührente und Arbeitseinkommen. Wenn dieser wegfällt, werden bei niedrigeren Löhnen Arbeitsplätze entstehen, die speziell auf die Belange älterer Menschen zuschnitten sind, und da die Älteren ihre Rente zusätzlich bekommen, ist es für sie attraktiv, diese Löhne zu akzeptieren.
Aktivierende Hilfen für 2,3 Millionen Bürger von Belang
Wie groß ist Ihre Schätzung nach die Summe an Arbeitsplätzen, die mit Ihrem Modell geschaffen werden könnte?
Eine umfassende Rechnung ist schwierig. Allein die aktivierende Sozialhilfe wird auf längere Sicht 2,3 Millionen Stellen schaffen.
Sie sagen: Über längere Sicht. Politiker aber setzen auf schnelle Erfolge...
Das ist wirklich ein Problem. Diese Maßnahmen brauchen, bis sie voll zur Wirkung kommen, mehr als eine Legislaturperiode. Das heißt, Politiker, die sie durchsetzen, ernten nicht bei der nächsten Wahl die Früchte.
Warum sollte die Politik also dennoch auf Sie hören?
Deutschland muss einen Weg finden, sich für die Globalisierung besser aufzustellen. Wir müssen alle Menschen, die arbeiten können, integrieren. Es gibt Wege, das zu tun. Die Arbeitslosigkeit ist nicht Gott gegeben, sondern von Menschen gemacht, und zwar durch falsche Systemelemente.
Reicht die Arbeit für alle?
Ja. Wir müssen die Menschen nur arbeiten lassen. Dazu müssen wir eine stärkere Spreizung der Lohnskala akzeptieren. Bei fallenden Löhnen für einfache Arbeit gibt es mehr Jobs. Dann werden die Arbeiter zu Hause gefragt und international wettbewerbfähiger sein. Der eine Mensch stellt den anderen ein. Es ist ja das Wesen einer Marktwirtschaft, dass sich die Menschen gegenseitig beschäftigen. Wenn aber einige Menschen beispielsweise durch Gewerkschaftsmacht und durch Rückwirkungen des Sozialstaates zu teuer sind, wollen die anderen sie nicht mehr einstellen.
Es gibt Billiglohnkräfte, die ins Land drängen. Dagegen sollen Mindestlöhne helfen. Hat das Aussicht auf Erfolg?
Als Niedriglöhner aus den ehemals kommunistischen Ländern bedrängen uns 28 Prozent der Menschheit bereits durch die Güter- und Kapitalmärkte. Das ist viel wichtiger. Es gibt keine Möglichkeit, sich dieser Konkurrenz durch Lohndekrete politischer oder gewerkschaftlicher Art zu widersetzen. Dieser Versuch führt vielmehr zur immer weiter wachsenden Massenarbeitslosigkeit, und damit belastet er die Menschen, die eigentlich geschützt werden sollen. Wir können dieses Spiel noch 10, 20 Jahre machen, es führt langsam aber stetig in den Untergang.
Was also tun?
Den Kräften der Globalisierung nachgeben, die Lohnstrukturen entsprechend anpassen und mit Hilfe des Sozialstaates verhindern, dass dies auch eine größere Ungleichheit der Einkommensverteilung bedeutet. Lohn ist nicht gleich Einkommen, sondern zum Lohn kommt gegebenenfalls eine Sozialleistung hinzu, und aus beiden Komponenten ergibt sich dann das Einkommen.
Es gibt jetzt bereits große Unterschiede bei den Löhnen...
Damit aber eine Marktwirtschaft funktioniert, verlangt sie noch mehr Ungleichheit der Löhne, als man unter Gesichtspunkten der Gerechtigkeit tolerieren kann. Dagegen kann man sich nur um den Preis wachsender Arbeitslosigkeit stemmen. Man muss versuchen, nicht gegen, sondern mit den Kräften des Marktes zu agieren. Es ist doch nichts dagegen zu sagen, dass jeder, der kann, arbeitet, zu welchem Lohn auch immer, wenn der Sozialstaat den Niedriglohn um ein zusätzliches Sozialeinkommen ergänzt.
Konkurrenz von kleinen Jobs mit ALG II beenden
Das was Sie vorschlagen, funktioniert gerade andersherum als die derzeitige Regelung, oder?
Ja. Es fehlt nicht an der Bereitschaft der Menschen zu arbeiten, sondern es fehlt an Jobs, die so gut bezahlt sind, dass sie mit dem Arbeitslosengeld II konkurrieren können. Jetzt ist es so, dass die Menschen ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld II verlieren, wenn sie arbeiten. Die Menschen müssen also einen ganz hohen Lohnanspruch haben, damit sich Arbeit für sie lohnt.
Und worin läge der Vorteil für den Osten?
In den neuen Bundesländern würde das Lohnzuschusssystem automatisch stärker als im Westen greifen, da hier die Löhne niedriger sind.
Und das, meinen Sie, könnte eine Jamaika-Koalition durchsetzen?
Das weiß ich nicht. Aber sie könnte es eher durchsetzen als eine Koalition, die von Gysi und Lafontaine insofern kontrolliert wird, als die Linken versuchen, der SPD in diesem Reformprozess die Stimmen abzuluchsen.
Sie setzen voraus, dass jemand eine Job annimmt, der niedrig entlohnt und mit wenig Ansehen verbunden ist. Das heißt: Wir müssen bescheidener werden in unseren Ansprüchen?
Nein, der Lebensstandard der Ärmsten erhöht sich verglichen mit dem, was es jetzt an Arbeitslosengeld II gibt, durch den Zuschuss sogar.
Womöglich brauchen wir aber eine andere Haltung, weil bisher diejenigen, die bisher für wenig Geld gearbeitet haben, nicht besonders gut angesehen waren...
Das Interview führte Gerlinde Sommer
Es geht nicht um Haltung, es geht um Arbeitsplätze. Die Menschen sollen raus aus ihrer Hoffnungslosigkeit. Das, was ich will, ist den besseren Sozialstaat.