FOCUS Online: Die Prognosen klingen zuversichtlicher, vorsichtiger Optimismus macht sich breit, die Börsenkurse ziehen an – war´s das mit der Krise?
Hans-Werner Sinn: Der Absturz war so tief, dass es fast nicht mehr weiter runter gehen konnte. Wenn wir jetzt wieder über Wachstum sprechen, ist das Wachstum von niedrigem Niveau aus. Es wird also noch eine ganze Weile dauern, bis wir dort sind, wo wir letztes Jahr waren.
Bert Rürup: Die Talsohle der Rezession liegt wohl hinter uns. Dennoch: Ende des Jahres dürften wir etwa auf das Niveau von Ende 2005 zurückgeworfen worden sein. Das war ein massiver Einbruch, und es wird sicher noch dauern, bis das wieder aufgeholt ist.
FOCUS Online: Aber irgendwann geht jede Krise einmal zu Ende. Wie geht es danach für Deutschland weiter?
Rürup: Es wird einen Aufschwung geben, der wird aber sicher nicht so dynamisch sein, wie der letzte es war. Die Weltwirtschaft wuchs 2003 bis 2008 außerordentlich kräftig, nicht zuletzt in Folge einer sehr generösen Kreditversorgung. Künftig werden die monetären Rahmenbedingungen enger sein. Die Abschreibungen in den Bankbilanzen werden noch einige Jahre ihre Spuren in Form einer vergleichsweise verhalteneren Kreditversorgung hinterlassen.
Sinn: Die Bankenkrise wird uns in der Tat wegen vieler versteckter Abschreibungen noch zu schaffen machen. Ich sehe das Problem, dass sich die Banken gesundschrumpfen wollen. Sie reduzieren ihre Ausleihungen in Proportion zu ihrem geschrumpften Eigenkapital, um die aufsichtsrechtlichen Kennquoten einzuhalten. Das ist das Rezept für eine Kreditklemme und eine Blockade des Aufschwungs.
Rürup: Zumal das Bad-Bank-Modell der Bundesregierung nicht so sexy ist, dass es die Banken veranlassen könnte, darauf einzugehen. Was da verabschiedet wurde, ist definitiv keine intelligente Lösung und sicher nicht das letzte Wort. Im Interesse der Kreditversorgung der Realwirtschaft muss man darüber nachdenken, ob der Staat sich nicht an den Banken beteiligt, sprich sie mit Steuergeld rekapitalisiert.
FOCUS Online: Ist das eine der Lehren aus der Krise: mehr Staatsbeteiligung an den Banken?
Sinn: Es gibt keine Alternative zu einer temporären Staatsbeteiligung. Die Banken brauchen Eigenkapital und kriegen es am Markt nicht. Der Staat kann ihnen das nötige Geld schenken – auch versteckt, Stichwort Bad Bank – oder es ihnen im Austausch gegen Aktien geben. Das halte ich für besser, vor allem aus Anreizgründen. Wenn der Staat Eigenkapital zu schenkt, bis das aufsichtsrechtlich geforderte Niveau wieder erreicht ist, wüssten die Banken, dass sie zukünftig nach Belieben ins Risiko gehen könnten, ohne haften zu müssen. Der Staat muss die Banken retten, aber nicht die Bankaktionäre. Das geht nur dadurch, dass unterkapitalisierte Banken zu Kapitalerhöhungen gezwungen werden und der Staat die Aktien kauft.
FOCUS Online: Droht dann nicht die Staatsbank?
Sinn: Die Gefahr ist klein. Sie bestünde erst, wenn der Staat zu hundert Prozent Eigentümer wird. Der Schutz der Minderheitsaktionäre geht gerade in Deutschland extrem weit, sodass der Mehrheitsaktionär – und sei es der Staat – gar keine Geschenke an bestimmte Gruppen verteilen kann. Außerdem sollte der Staat seine Anteile nach der Krise wieder verkaufen.
FOCUS Online: Kommen wir zu anderen Lehren aus der Krise. Der deutsche Export ist massiv weggebrochen. Ist das „Modell Exportweltmeister“ gescheitert?
Sinn: Zumindest muss man es nachjustieren. In einer arbeitsteiligen Welt müssen sich Länder auf das spezialisieren, was sie besonders gut können. Das ist in Deutschland das verarbeitende Gewerbe, wo unsere Ingenieurleistung zum Tragen kommt. Insofern gibt es gegen diese Strategie keine grundsätzlichen Bedenken, im Detail aber schon. Und zwar deshalb, weil – so paradox es klingen mag – die Exportstärke auch aus der Schwäche der Binnensektoren entstanden ist, die als arbeitsintensive Branchen besonders unter der Lohnnivellierungspolitik der letzten Jahrzehnte gelitten haben.
FOCUS Online: Wie das?
Sinn: Diese Politik hat die einfache Arbeit im Verhältnis zum Durchschnitt sehr teuer gemacht. Die Folge war, dass das Kapital aus den arbeitsintensiven Sektoren im Übermaß in die kapital- und wissensintensiven Exportsektoren geflohen ist und die qualifizierte, aber nicht die einfache Arbeit mitgenommen hat. Eine wohlfunktionierende Wirtschaft hätte sich der internationalen Niedriglohnkonkurrenz durch eine stärkere Lohnspreizung erwehrt, die das Abwandern von Kapital und qualifizierter Arbeit aus den Binnen- in die Exportsektoren abgebremst hätte.
Rürup: Na, das klingt schon moderater als das, was man sonst zu diesem Thema von Ihnen lesen konnte... Sinn: Wieso das denn? So habe ich das immer gesagt, ich wurde nur häufig missverstanden. Mir wurde unterstellt, ich hätte mit der Basar-These einem Verschwinden der Wertschöpfung im Export das Wort geredet (lacht). Es soll in Deutschland auch einen wichtigen ökonomischen Rat geben, der mich hier mal missverstanden hat ... Die Exportorientierung ist doch nicht an sich falsch. Aber es gibt von allem ein Optimum, Herr Rürup!
Rürup: Wenn eine Botschaft von vielen missverstanden wird, kann das auch am Sender der Botschaft liegen. Nun, was Sie auch immer mit Basarökonomie gemeint haben mögen, die optimale Exportorientierung kann, zumindest in der Realität, niemand – auch ein brillanter Ökonom nicht – bestimmen. Sie kann nur das Ergebnis von Marktprozessen sein. Die Exportorientierung der deutschen Volkswirtschaft ist nicht auf dem Reißbrett entstanden, sondern in fast 150 Jahren historisch gewachsen. Den hohen Offenheitsgrad sehe ich als etwas Positives an. Die starke Einbindung in die internationale Arbeitsteilung wirkt wie eine Produktivitätspeitsche und zwingt uns, auf Innovation und Produktivitätssteigerung zu setzen, und sie erlaubt es, gut bezahlte, da hochproduktive und wertschöpfungsintensive Arbeitsplätze anzubieten ...
Sinn: In der Tat brauchen wir keine Planung auf dem Reißbrett. Der Markt sollte die Wirtschaftsstrukturen allein bestimmen. Aber das ist eben nicht passiert, weil der Sozialstaat wie ein Konkurrent auf dem Arbeitsmarkt gewirkt und die Löhne für einfache Arbeit hochgetrieben hat. Er selbst hat die Flucht des Kapitals und der qualifizierten Arbeit in die kapital- und wissensbasierten Exportsektoren induziert. Dort sind die relativen Preise und auf dem Weg über eine reale Abwertung auch die absoluten Preise gefallen. Wachstumsschwäche, Arbeitslosigkeit und Überspezialisierung waren die Folge.
Rürup: Ich bezweifle, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie durch eine Lohnkompression am unteren Ende erkauft wurde. Und wenn, dann allenfalls für die Zeit vor 2005. Durch die Reform der Agenda 2010 haben sich die Dinge signifikant verändert. Unser Niedriglohnsektor hat sich deutlich ausgedehnt und ist inzwischen der zweitgrößte der Welt. Eine gezielte Ausweitung dieses Sektors durch eine weitere Aufspreizung der Lohnstruktur am unteren Ende könnte zwar das Beschäftigungsproblem entschärfen, aber sicher nicht die exportorientierte Ausrichtung unserer Produktionsstrukturen signifikant verändern und unsere Wirtschaft resistenter gegen Schwankungen der Exportnachfrage machen.
FOCUS Online: Herr Sinn, warum soll die deutsche Wirtschaft vermehrt Arbeitsplätze anbieten, auch wenn sie den Menschen weniger Einkommen bringen, als sie zum Leben brauchen?
Sinn: Weil sie ja ein zweites Einkommen in Form von staatlichen Lohnzuschüssen erhalten sollen. Hartz IV zahlt ja schon mehr als einer Million Menschen Lohnzuschüsse. Die Agenda war in der Tat eine Wende zum Besseren. Da hat Herr Rürup recht. Aber die Wende ging nicht weit genug. Wir sind noch immer Weltmeister bei der Arbeitslosigkeit der gering Qualifizierten.
FOCUS Online: Subventionierte Arbeitsplätze en masse?
Sinn: Das können Sie so sehen. Aber immer noch besser, die Arbeit als die Arbeitslosigkeit zu subventionieren.
FOCUS Online: Deutschland stellt viele hochentwickelte, aber relativ teure Produkte her. Die kann jemand, der Niedriglöhne verdient und davon gerade mal seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, sicher nicht kaufen ...
Sinn: Noch mal: Niedrige Löhne heißt nicht niedrige Einkommen, weil der Staat ja zuzahlt. Im Übrigen reicht die Summe der Einkommen einer Volkswirtschaft stets aus, die hergestellten Produkte zu kaufen.
FOCUS Online: Das erklären Sie mal der deutschen Automobil- und Maschinenbauindustrie ...
Sinn: Das Problem, dass die Nachfrage manchmal nicht reicht, ist nur ein zyklisches: Der Konjunkturzyklus entsteht, weil die Liquiditätsnachfrage hin und her wabert. Horten die Banken das Geld, statt es weiterzugeben wie heute, gibt es eine Flaute oder Rezession, aber wenn das Geld wieder in den Kreislauf zurückfließt, ist auch die Nachfrage wieder da. Über die Konjunkturzyklen hinweg gibt es in einer Volkswirtschaft nie ein Nachfrageproblem, das gibt es immer nur konjunkturell.
Rürup: Das kann man auch anders sehen. Ein Geschäftsmodell für Deutschland – um diesen wenig sinnvollen Begriff aufzugreifen – sollte darauf abzielen, den allgemeinen Wohlstand zu erhöhen. Ich sehe nicht, wie es möglich ist, den Wohlstand dadurch zu erhöhen, dass man auf eine Ausdehnung des Niedriglohnsektors setzt und selbst einen moderaten Mindestlohn verteufelt. Der wäre nämlich eine sinnvolle Ergänzung zu Hartz IV, denn er verhindert, dass es mit dem Hinweis auf die staatliche Aufstockung zu Lohndumping und einer Ausbeutung der Staatskasse durch Arbeitgeber kommt. In keinem Industriestaat der Welt ist der Anteil der Wertschöpfung, der auf hochtechnologische und wissensbasierte Produkte entfällt, höher als in Deutschland – und das erklärt sich nicht aus einer Kompression der Lohnstruktur in der Vergangenheit. Ich glaube, Deutschland muss eine Hochproduktivitätsstrategie fahren. Daher sollte die Exportorientierung definitiv nicht zur Disposition gestellt werden.
FOCUS Online: Ein moderner, hochproduktiver Industriestaat braucht auch ein modernes, hocheffizientes Bildungssystem. Liegt hier vielleicht der Schwarze Peter?
Sinn: Sicher auch. Das deutsche Schulsystem ist schlecht, bei Pisa sind wir nur Durchschnitt. Auch das dreigliedrige System, das die Kinder viel zu früh trennt, ist ein Riesenproblem. Wenn wir ein solch schlechtes Schulsystem behalten, versündigen wir uns geradezu an der Zukunft. Dennoch ist dies nur ein Teil der Lösung des „Problems Deutschland“. Nur durch eine stärker gespreizte Lohnstruktur entwickeln sich wieder neue, arbeitsintensivere Sektoren. Das hat dann auch zur Folge, dass das Kapital und die unternehmerischen Talente wieder in solche Bereiche zurückkehren. Mit gesetzlichen Mindestlöhnen wird die Agenda 2010 zunichtegemacht, denn im Kern hat sie ja den impliziten Mindestlohn über die Rücknahme der Lohnkonkurrenz des Sozialstaats gesenkt.
Rürup: In puncto Bildung sehe ich keinen Dissens. Ich hoffe, auch bei einem anderen Punkt nicht: dem viel beklagten Facharbeitermangel. Den Mangel kann es nur bei konstanten Löhnen geben. Ein probates marktwirtschaftliches Mittel, einen Mangel zu beseitigen, sind höhere Preise, sprich höhere Löhne für qualifizierte Arbeitnehmer. Höhere Löhne sind sicher nicht die einzige, aber bestimmt eine Möglichkeit gegen einen Facharbeitermangel. Das aber beißt sich etwas mit dem Ausbau des Niedriglohnsektors.
FOCUS Online: Und wer soll die höheren Löhne bezahlen?
Rürup: Ein Arbeitnehmer mit einer besseren Ausbildung erzielt auch eine höhere Produktivität – und diese recht-fertigt höhere Löhne.
FOCUS Online: Und wo sollen die Arbeitsplätze Ihrer Meinung nach entstehen, Herr Sinn?
Sinn: Die Deutschen können sich gegenseitig beschäftigen – sie tun es nur nicht, weil sie einander zu teuer und daher nicht bereit sind, sich die Leistungen abzukaufen, die sie anzubieten haben. Sie kaufen zum Beispiel touristische Leistungen im Ausland, weil solche Leistungen in Deutschland zu teuer sind. Handwerker kann man sich auch nicht mehr leisten, haushaltsnahe Dienstleistungen sind parallel zur Entwicklung des Sozialstaats weitgehend ausgestorben.
Rürup: Ich beneide Sie um die Fähigkeit, immer und bei allem zu wissen, wo das optimale Maß liegt. Jedes Angebot ist immer auch ein Reflex auf eine bestimmte Nachfrage.
Sinn: Das optimale Maß findet der Markt, aber wenn der Staat die Löhne für einfache Arbeit hochtreibt, dann weiß man, dass der Niedriglohnsektor zu klein ist.
FOCUS Online: Gibt es denn einen Königsweg?
Sinn: Der Königsweg ist sicherlich die bessere Ausbildung der Bevölkerung, damit ein Niedriglohnsektor erst gar nicht entstehen muss, nur ist er sehr langwierig.
Rürup: Einigkeit in Sachen Bildung: Bessere Bildung ist eine verdammt wichtige, aber auch teure Aufgabe, und die Zeit wird vor dem Hintergrund unserer Bevölkerungsalterung knapp. Noch kann Deutschland handeln.
Von FOCUS-MONEY-Redakteur Thomas Wolf