Der Strom kommt aus der Steckdose und das Hartz-IV-Einkommen vom Amt: Ifo-Chef Hans-Werner Sinn über die Lebenslügen des deutschen Sozialsystems und das Leiden der Leistungsträger
DIE WELT: Hat Guido Westerwelle mit seiner Kritik am deutschen Sozialstaat überzogen? Hans-Werner Sinn: Von der Sache her hat er recht. Seine Wortwahl ist aber in Deutschland nicht unbedingt mehrheitsfähig. Das zeigen Reaktionen von Politikern und Kommentare in Zeitungen.
Der FDP-Chef hat erklärt, die Debatte über das Karlsruher Hartz-IV-Urteil trage "ziemlich sozialistische Züge". Und er behauptet, wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspreche, lade zu "spätrömischer Dekadenz" ein. Können Sie dem folgen?
Sinn: Wir reden in Deutschland immer nur darüber, was der Staat zusätzlich gewähren kann, ohne die Frage zu stellen, wer das bezahlen soll. Die Perspektive der Steuerzahler, also der Leistungsträger, kommt stets zu kurz. Der Strom kommt aus der Steckdose und das Hartz-IV-Einkommen vom Amt. So denken leider viele. Dabei argumentieren sie mit der Bedarfsgerechtigkeit. Dieses Konzept geht auf Karl Marx zurück. So gesehen ist die Feststellung, dass die Diskussion sozialistische Züge aufweist, richtig. Nach dem Grundgesetz müssen wir das Existenzminimum sichern, aber das heißt nicht, dass die Steuerzahler und Leistungsträger so viele Lasten tragen müssen, dass jeglicher Bedarf gedeckt werden kann.
Ist denn der Dekadenz-Vorwurf treffend? Woran ist das Römische Reich ökonomisch gescheitert?
Sinn: Im Römischen Reich wurden sehr viele Geschenke an die Reichen und die Armen verteilt. Dafür wurden die Provinzen ausgebeutet. Für sie war die Verbindung zu Rom deshalb nicht mehr attraktiv. Das war der Keim des Untergangs. Wer glaubt, das Sozialsystem auf Kosten der Leistungsträger sowie künftiger Generationen grenzenlos ausdehnen zu können, muss sich auf Verweigerung einstellen.
Woran denken Sie konkret?
Sinn: Beispielsweise an das Rentensystem. Die Versprechungen, die denjenigen gemacht werden, die heute in den Vierzigern sind, sind illusorisch. Sie werden sich allein vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung nicht halten lassen. Die wenigen Arbeitnehmer, die in den 30er-Jahren dieses Jahrhunderts noch aktiv sein werden, sind mit Sicherheit überfordert, wenn sie die ehemaligen Babyboomer, die zu Rentnern wurden, unterhalten sollen. Sie werden sich der Last entziehen. Trotzdem halten wir die Fiktion aufrecht, die Rente sei sicher. Auch diese Realitätsverweigerung hat "sozialistische Züge".
Die Überschrift des Gastkommentars in der WELT, der Westerwelle so viele Anfeindungen eingetragen hat, lautet: "Vergesst die Mitte nicht". Was ist "die Mitte"?
Sinn: Das Ifo-Institut hat eine Definition vorgelegt, nach der die Mitte aus Menschen mit einer mittleren oder gehobenen Qualifikation besteht, die einen Beruf als Beamte, Angestellte oder Freiberufler ausüben und die überwiegend in den Dienstleistungssektoren arbeiten. Das sind rund 45 Prozent aller Erwerbstätigen. Es gibt andere Definition, etwa die der OECD. Für sie beginnen mittlere Einkommen bei 70 Prozent des Medianeinkommens. Das ist das Einkommen derjenigen, die genau "in der Mitte" stehen.
Erodiert diese Mitte, wie Westerwelle behauptet? Ihm zufolge ist die Mittelschicht in den vergangenen zehn Jahren von zwei Dritteln auf noch gut die Hälfte geschrumpft.
Sinn: Sie hat bis zur Mitte des Jahrzehnts in der Tat abgenommen. Danach ist "die Mitte" im Zuge des Wirtschaftsaufschwungs und des Rückgangs der Arbeitslosigkeit aber wieder gewachsen. Daran hat auch die Weltwirtschaftskrise bislang auch noch nicht viel geändert. Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist nämlich erstaunlich stabil.
Herr Westerwelle hatte seine Feststellung mit der Bemerkung versehen, dass die Brücke zwischen Arm und Reich bröckele: "Eine Gesellschaft ohne Mitte fliegt auseinander, und der Politik fliegt sie um die Ohren." Übertreibt er?
Sinn: Was er gemeint hat, sind ja nicht statistische Maße. Ich vermute, seine Bemerkung zielte auf die staatliche Umverteilungsmaschinerie, die zunehmend zulasten der Arbeitenden geht. Und in der Tat wird in Deutschland ein immer größerer Teil einer zusätzlichen Anstrengung vom Staat absorbiert. Wenn etwa ein Facharbeiter ein paar Stunden im Monat mehr arbeitet, behält der Staat gleich zwei Drittel der zusätzlichen Wertschöpfung ein, die er mit seiner Hände Arbeit erzeugt. Damit liegen wir im internationalen Vergleich ziemlich in der Spitze - wenn nicht sogar ganz vorne. Diesen Weg kann man nicht weiter gehen.
Deutschland hat eine bemerkenswerte hohe Arbeitslosigkeit, selbst Reformländer wie Polen stehen besser da. Gibt es einen Zusammenhang mit dem Sozialsystem?
Sinn: Unser Sozialsystem gewährt staatliches Geld überwiegend unter der Bedingung, dass man nicht arbeitet. Es schafft damit einen Mindestlohnanspruch. Wenn dieser Mindestlohn über der Produktivität möglicher Arbeitsplätze liegt, führt das dazu, dass solche Arbeitsplätze eben nicht geschaffen werden. In Deutschland sind viele der Arbeitsplätze, die man in anderen Ländern findet, für die Unternehmen nicht rentabel. Die Misere begann bereits mit den Sozialreformen unter dem Kanzler Willy Brandt, die statt des Mitmachens das Wegbleiben vom Arbeitsplatz belohnt haben und damit die Mindestlohnansprüche immer höher schraubten. Das Ergebnis war die Massenarbeitslosigkeit, die im Jahr 2005 mit fast fünf Millionen ihren Höhepunkt erreicht hatte. Die Regierung von Gerhard Schröder hat mit der Agenda 2010 die Notbremse gezogen. Der Erfolg war beachtlich. Die Mindestlohnansprüche fielen wieder, und die Zahl der Jobs ist allein in Westdeutschland wegen der Agenda um eine Million gewachsen. Dass wir die Wirtschaftskrise auf dem Arbeitsmarkt bislang leidlich überstanden haben, lag nicht nur am Kurzarbeitergeld, sondern auch an den schröderschen Reformen. Wir sollten die eingeschlagene Reformrichtung fortführen.
Ohne grundlegende Reformen am Sozialsystem gibt es keine neuen Arbeitsplätze?
Sinn: Ja. Wir müssen mehr aktivierende Sozialpolitik machen. Das bedeutet nicht weniger, sondern bessere Sozialpolitik. Das heißt auch nicht unbedingt, weniger Geld auszugeben, sondern das Geld unter anderen Bedingungen zur Verfügung stellen. Konkret schlägt mein Institut vor, zum einen die Hinzuverdienstmöglichkeiten für Stellen in der Privatwirtschaft stark zu verbessern. Zum anderen sollten die Kommunen verpflichtet werden, jedem Hartz-IV-Empfänger einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen, für den er einen Lohn in Höhe des Hartz-IV-Gehalts erhält. Dabei können sie sich der Unterstützung durch Zeitarbeitsfirmen bedienen, die die bei der Kommune angestellten Arbeitnehmer weiter an die Privatwirtschaft vermitteln. Keiner soll sagen können, er habe keine Arbeit gefunden. Beide Maßnahmen zusammen würden ein Wunder am Arbeitsmarkt bewirken und der sozialen Ausgrenzung der Arbeitslosen, die durch den Sozialstaat selbst verursacht wurde, ein Ende bereiten. Keiner, der arbeiten will, würde in einem solchen System weniger bekommen als jetzt, doch viele würden die Chance erhalten, mehr zu verdienen. Angela Merkel hat einmal gesagt: Jeder, der arbeiten will, muss arbeiten können und dann genug zum Leben haben. Genau darum geht es.
Jetzt müssen zunächst die Bezüge für Hartz-IV-Empfänger auf eine andere Grundlage gestellt werden ...
Sinn: Das Verfassungsgericht hat ausdrücklich gesagt, dass es die Regelsätze der Höhe nach nicht als falsch ansieht, sondern nur, dass es die Rechnungen, die dahinter stehen, für willkürlich und nicht gut begründet hält. Und schon gar nicht hat es gesagt, dass das soziale Existenzminimum ohne Arbeit gesichert werden soll. Die Umsetzung des Karlsruher Urteils sollte aus meiner Sicht dazu genutzt werden, unser System noch stärker in Richtung auf Lohnzuschüsse zu verändern. Heute zahlt der Staat für 1,4 Millionen Menschen solche Lohnzuschüsse im Rahmen des Arbeitslosengeldes II. Die Lohnzuschüsse waren billiger als das Arbeitslosengeld, sie haben die erwähnte Million neuer Stellen ermöglicht, und sie haben die Einkommen der Betroffenen erhöht, was sich in der Statistik an dem geradezu dramatischen Rückgang der Zahl der armutsgefährdeten Personen gezeigt hat.
Sozialministerin Ursula von der Leyen hat den Karlsruher Spruch als "Sieg für die Kinder" bezeichnet. Können Sie ihr darin folgen?
Sinn: Ich begrüße ihren Vorschlag, Kindern mehr Sachleistungen zu gewähren. Nur mit Sachleistungen kann der Staat sicherstellen, dass das Geld bei den Kindern ankommt. Allerdings müssen die Sachleistungen allen Kindern zur Verfügung gestellt werden, egal ob die Eltern Hartz-IV-Empfänger sind oder nicht, denn nur so kann man verhindern, dass der durch das Sozialsystem aufgebaute Lohnanspruch der Eltern wieder steigt und sich die Zahl der verfügbaren Stellen verringert. Ich denke bei den Leistungen an freie Kindergärten, Schulspeisungen und Lernmittel wie Bücher oder Taschenrechner. Westerwelles FDP steht auch deshalb in der Kritik, weil sie Steuerentlastungen fordert. Ist das angesichts der Staatsfinanzen nicht illusorisch?
Sinn: Genau genommen fordert sie keine Steuerentlastungen, sondern den Verzicht auf weitere Erhöhungen. Die Belastungen der Steuerzahler haben nämlich in den Jahren bis zur Wirtschaftskrise wegen der schleichenden Progression beständig schneller zugenommen als ihre Einkommen. Das war weder fair noch gewollt. Um diesem Prozess Einhalt zu gebieten, muss die Steuerlast in Relation zum Sozialprodukt gedeckelt werden. Das kann man erreichen, wenn der Einkommensteuertarif auf Räder gestellt wird und sämtliche Progressionsgrenzen jedes Jahr mit der Wachstumsrate des Sozialprodukts erhöht werden. Dann fließt immer der gleiche Prozentsatz der wachsenden Einkommen zum Staat. Wenn der Staat sich indes einen immer höheren Prozentsatz der Einkommen einverleiben darf, kommt es zum Schlendrian. Nach wie vor wird in Deutschland unheimlich viel Geld für sinnlose Subventionen verpulvert. Die 70 Milliarden Euro, die jedes Jahr in Subventionen für Unternehmen fließen, gehören allesamt auf den Prüfstand. Wer eine Steuerreform ablehnt, ist in Wahrheit für schleichende Steuererhöhungen.
Welche Belastungen kommen auf die deutschen Steuerzahler durch die Misere in Griechenland zu?
Sinn: Der Euro kommt unter Druck, weil Griechenland vor der Insolvenz steht. Das Land wird Ende des Jahres vor Italien die höchste Schuldenquote in ganz Europa haben. Das wissen die Anleger, deshalb verlangen sie höhere Zinsen von Griechenland, was wiederum die griechischen Finanzierungsprobleme vergrößert. Ohne Hilfe käme ein Teufelskreislauf in Gang. Dann würden Kapitalanleger auch von Irland, Spanien, Portugal höhere Zinsen verlangen und diese Länder möglicherweise in die Insolvenz treiben. Die Kettenreaktion könnte die ganze Weltwirtschaft in eine neue Rezession treiben, weil die insolventen Länder ja ihre Ausgaben für Güterkäufe drastisch zurückschrauben müssten.
Und wer soll helfen?
Sinn: Die EU darf nach dem Maastrichter Vertrag gar nicht helfen, und man sollte diesen Vertrag auch nicht ändern. Unter keinen Umständen darf Deutschland zustimmen, dass andere Länder, womöglich noch die Griechen, Iren, Portugiesen und Spanier selbst, durch Mehrheitsentscheid darüber abstimmen, in welchem Umfang den deutschen Bürgern ein Vermögensverlust zur Rettung Griechenlands zugemutet wird. Das heißt nicht, dass wir nicht helfen sollen. Es wird uns nichts anderes übrig bleiben. Aber wenn wir helfen wollen, dann sollten wir selbst entscheiden, wie viel wir unter welchen Bedingungen zu geben bereit sind. Für die Hilfen müssten harte Bedingungen gesetzt werden, die gehörig schmerzen, um den anderen Wackelkandidaten von vornherein das Interesse an einer Nachahmung zu nehmen. So müsste Griechenland bereit sein, auf einen Teil seiner Souveränität zu verzichten und einen EU-Kommissar mit einem Vetorecht beim Budget in die Regierung aufzunehmen. Und es müsste zustimmen, dass seine Statistikbehörde, die den Rest Europas jahrelang belogen hat, direkt durch Eurostat kontrolliert wird.
Die Fragen stellte Uwe Müller