Berliner Chaostage

Hans-Werner Sinn über die falsche Weichenstellung der großen Koalition
Autor/en
Hans-Werner Sinn
WirtschaftsWoche 10.11.2005, S. 182

Ein Spötter hat einmal gesagt, die Demokratie sei eine Staatsform, die es 51% der Menschen erlaube, die anderen 49% nach Belieben auszubeuten. Der Spott ist übertrieben. So weit ist Deutschland noch nicht. Einerseits wird der Löwenanteil der Einkommensteuern, nämlich 53%, von nur 10% der Einkommensbezieher bezahlt. Andererseits liegt der Anteil der Einkommensbezieher, die gar keine Einkommensteuern zahlen, in Deutschland erst bei 38%, und der Anteil der Erwachsenen, die von staatlichen Transfereinkommen einschließlich der von der nachfolgenden Generation finanzierten Renten und Pensionen leben, beträgt nur 41%. Beide Werte sind noch ein ganzes Stück von der theoretischen "Ausbeutungsgrenze" entfernt.

Die Dinge könnten sich angesichts der Kehrtwende der SPD aber schneller ändern, als es bislang möglich zu sein schien. Noch vor ein paar Jahren schien es, die SPD würde sich einem liberaleren Kurs in der Wirtschafts- und Steuerpolitik verschreiben. Schließlich war sie es, die die Reform der Einkommensteuer durchsetzte und den Spitzensatz der Einkommensteuer inklusive Soli von knapp 55% auf rd. 44% senkte. Nun läuft alles im Rückwärtsgang. Ob Sondersoli oder Reichensteuer: Die Einkommensteuer soll wieder steigen. Rin in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln.

Pervers wäre es, wenn die Regierungsbeteiligung der Union mit der Erhöhung der Einkommensteuern einherginge. Schließlich wollte ja diese Partei noch im Wahlkampf mit einer weiteren Absenkung der Einkommensteuer punkten, die über die von der SPD bereits beschlossene Senkung hinausgegangen wäre. Wird Schwarz-Rot eine linkere Politik betreiben, als Rot-Grün sie für nötig hielt?

In Wahrheit halten sich auch bei der Union die marktfreundlichen Interessen in Grenzen. Ehrlicherweise hatte sie schon vor der Wahl angekündigt, dass sie die Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte erhöhen wollte. Nun dürfen es auch schon mal vier sein. Und weil die CDU ihre Steuererhöhung bekommt, erhält auch die SPD die Ihre. Tolle Logik. Weil der eine die Bürger beutelt, darf es der andere auch. Warum sieht die SPD eigentlich nicht, dass die Mehrwertsteuer in allererster Linie die Reichen belastet, die ihre Vermögen verjubeln?

Zur Kehrtwende passen neue Staatsgeschenke. Jeder weiß, dass der deutsche Staat sparen muss, um die Staatschuldenquote wieder zu reduzieren, doch Ausgeben macht mehr Spaß. Noch zu vertreten ist, dass der Bund seine Forschungsausgaben erhöhen will. Auch die Kinderkrippen sind eine Investition in die Zukunft. Aber warum soll der Anteil des Ökostroms, der für Bürger und Industrie hohe Kosten verursacht, noch gesteigert werden? Warum will man die Investoren mit der beschleunigten Abschreibung aus den Marktlücken, um deren Schließung sie sich bemühen, in Steuerschlupflöcher treiben? Warum überlässt man es nicht dem Bürger zu entscheiden, wie viel Dämmung er für sein Haus will, anstatt die Gebäudesanierung noch stärker zu subventionieren? Warum soll das Arbeitslosengeld II im Osten an das Westniveau angepasst werden, obwohl doch das Preisniveau im Osten gut und gerne 10% niedriger ist und obwohl die Lohntreiberei der staatlichen Lohnersatzeinkommen den Arbeitsmarkt in den neuen Ländern ohnehin stranguliert. Warum muss der Bundeszuschuss zur Rentenversicherung, der ohnehin schon weit über den versicherungsfremden Leistungen liegt, noch weiter erhöht werden? In der Summe haben die Ressorts so viele fragwürdige Forderungen in die Koalitionsverhandlungen eingebracht, dass man nur den Kopf schütteln kann. Die Finanzierungslücke, die gut und gerne 45 Mrd. Euro beträgt, würde sich um weitere 30 Mrd. Euro vergrößern.

Man kann nur hoffen, dass Vernunft einkehrt und dass sich die Kochs und die Steinbrücks, die ja zum Glück auch noch mitverhandeln, zum Schluss durchsetzen werden. Deutschland braucht nicht mehr Staat, um seine Probleme zu lösen, sondern weniger. Wenn dem Staat das Geld fehlt, dann sollte er bei seinen eigenen Ausgaben sparen, anstatt den Bürgern immer mehr Geld aus der Tasche zu ziehen.

So gesehen ist es richtig, jetzt eine Erhöhung des Rentenalters zu beschließen und den Rentnern eine Beteiligung an ihren Krankenversicherungskosten zuzumuten. Auch ist es richtig, die Prämie für die Familienflucht der Achtzehnjährigen, die mit Hartz IV eingeführt wurde, wieder zurück zu nehmen. Aber während die Liste der neuen Ausgaben Tag für Tag anschwillt, bleibt die Liste der Kürzungen bescheiden. Mutige Kürzungsaktionen, wie man sie eigentlich von einer großen Koalition erwarten würde, findet man kaum, von Maßnahmen, die zum Kern der Arbeitsmarktprobleme vordringen, ganz zu schweigen.

Konjunkturell wäre eine Budgetkonsolidierung jetzt genau das Richtige. Nach dem Lehrbuch der keynesianischen Theorie sollte der Staat sparen, wenn sich ein Aufschwung ankündigt, und Schulden machen, wenn der Abschwung kommt. Deutschland steht derzeit vor einem Aufschwung. Die Wirtschaftsforschungsinstitute erwarten für 2006 ein Wachstum von 1,2%, das bereits über der Trendwachstumsrate von einem Prozent liegt. Das mag manchem nicht wie ein Aufschwung erscheinen, eher wie eine Flaute. Doch ist alles relativ. Die Konjunktur ist die Abweichung der Wirtschaftsleistung vom Trend, und nicht die Abweichung von Wunschträumen. Wann, wenn nicht jetzt, sollte der Staat seine Finanzen in Ordnung bringen? Wer befürchtet, man könne den Aufschwung kaputt sparen, sollte vielleicht doch erst einmal das keynesianische Lehrbuch zur Hand nehmen.