München - Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn kritisiert den Rettungsschirm für den Euro hart. Europa drohe, eine „gewaltige Schuldenblase aufzubauen, die mit einem großen Knall platzen wird“, warnt Sinn im Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wirft der Ökonom vor, zu wenig für die Interessen Deutschlands getan zu haben und befürchtet dramatische Folgen: „Die deutsche Staatskrise ist vorprogrammiert.“
SZ: Professor Sinn, Europas Regierungen müssen den Euro mit einer dramatischen Rettungsaktion stabilisieren. Wird die Währungsunion zum Fass ohne Boden?
Sinn: Wir stürzen uns mit dem neuen Gewährleistungsgesetz in ein unkalkulierbares Abenteuer. Bei der Euro-Einführung hatte Deutschland verlangt, dass ein Rettungsfonds, wie er im Delors-Plan vorgesehen war, nicht eingerichtet wird. Wir wollten es machen wie die Amerikaner, die überschuldeten Staaten auch nicht helfen. Jetzt kommt der Fonds doch. Am Wochenende wurde die zentrale Bedingung, die Deutschland für die Aufgabe der D-Mark gesetzt hatte, in einem Handstreich kassiert, während unser Verhandlungsführer Schäuble im Brüsseler Krankenhaus lag. Jetzt ist Europa in der Lage, eine gewaltige Schuldenblase aufzubauen, die irgendwann mit einem großen Knall platzen wird.
SZ: War der Euro nicht so gefährdet, dass es keine Alternative gab?
Sinn: Gefährdet war nicht der Euro, sondern die Fähigkeit einiger Länder, sich weiter so billig zu verschulden, wie es unter dem Schutz des Euro bislang möglich war. Der Euro lag auf dem Höhepunkt der Krise bei 1,27 Dollar, weit über der Kaufkraftparität von 1,14 Dollar. Von Schwäche keine Spur. Die Zinsen hatten jedoch begonnen, sich wieder der Bonität der Länder anzupassen, wenn auch bei den nun zu schützenden Ländern lange nicht so stark wie vor dem Euro. Selbst Frankreich musste wieder etwas höhere Zinsen zahlen. Eine notwendige Korrektur der Zinsstrukturen, die der unterschiedlichen Bonität der Länder entsprach, wurde von den europäischen Schuldenländern zur Systemkrise hochstilisiert.
SZ: Welches Interesse sollten Europas Regierungen daran haben?
Sinn. Man wollte sich auf den Artikel 122 des EU-Vertrages berufen können. Nach diesem Artikel darf die EU nur helfen, wenn die Gründe für die Probleme außerhalb der Kontrolle des einzelnen Landes liegen. Sie liegen aber fast ausschließlich in der Kontrolle dieser Länder.
SZ: Allein Deutschland haftet für gefährdete EU-Staaten mit 146 Milliarden Euro. Sehen wir das Geld jemals wieder?
Sinn: Das neue Gesetz bedeutet ja nicht, dass wir sofort zahlen. Wir sichern zunächst nur Kredite für bedrohte Länder ab. Bevor die Verluste kommen, drohen andere Probleme.
SZ: Welche?
Sinn: Der Rettungspakt verzerrt den Kreditfluss über die Kapitalmärkte. Zum einen verringern wir unsere eigene Bonität, indem wir haften, und müssen in Zukunft entsprechend höhere Zinsen für deutsche Staatsschulden zahlen. Zum anderen senken wir durch unsere Bürgschaften die Zinsen der Schuldenländer.
SZ: Was heißt das für die Deutschen?
Sinn: Wir helfen anderen Ländern, deutsches Sparkapital abzuziehen. Schon seit Jahren fließt deutsches Geld im übermaß nach Amerika, Irland, Spanien, Portugal und Griechenland und half dort, einen total überzogenen Immobilienboom zu finanzieren, während Deutschlands Wachstum erlahmte, weil hier nur noch sehr wenig investiert wurde. Die Wirtschaften dieser Länder wurden so in einen Rauschzustand versetzt. Aber die Korrektur durch die Kapitalmärkte wird nun von der Politik verhindert. Deutschland hilft mit seiner Bonität den europäischen Schuldenländern, weiter verbilligt an das deutsche Sparkapital zu kommen und gegenüber den deutschen Firmen und Häuslebauern, die es auch gerne hätten, die Oberhand zu behalten.
SZ: Die Regierungen Europas haben den Schuldigen der Misere ausgemacht: Spekulanten. Es gebe breite Angriffe auf den Euro, warnt Kanzlerin Merkel. Glauben Sie an ein Finanzkomplott?
Sinn: Die Verschwörungstheorie halte ich für weit hergeholt. Die wahren Spekulanten waren die Regierungen der Krisenländer. Sie haben darauf gesetzt, dass wir sie freikaufen, wenn sie pleite sind. Mit den Beschlüssen vom Wochenende wird das belohnt. Die Kapitalanleger haben doch nur kalte Füße bekommen, weil sich herumgesprochen hat, wie unsolide manche europäische Länder wirtschaften. Deshalb stießen sie die Papiere dieser Länder ab, was deren Kurse fallen und die Zinsen steigen ließ.
SZ: Sehen Sie eine Alternative zum neuen Rettungspakt?
Sinn: Klug wäre es, die Schuldenblase der unseriösen Länder nicht weiter aufzublähen, sondern langsam abschlaffen zu lassen, so dass sie nicht platzen kann. Man kann schon helfen, wenn ein Land in Not ist, aber man braucht einen Pakt, bei dem die Inhaber der Staatspapiere an den Lasten einer Staatsinsolvenz mitbeteiligt werden. Wie bei einem privaten Konkurs auch. Bevor das Geld fließen kann, müssen die Altgläubiger auf einen Teil ihrer Ansprüche verzichten. Das würde die Gläubiger veranlassen, bei der Vergabe der Mittel vorsichtiger zu sein und höhere Zinsen zu verlangen. Gefährdete Länder würde das ärgern, sie aber zu mehr Disziplin veranlassen und genau deshalb neue Krisen im Vorfeld verhindern.
SZ: Wir bekämpfen Schulden mit noch mehr Schulden. Dabei ist auch Deutschland in der Schuldenfrage nicht gerade Musterschüler. Drohen Berlin neue Probleme?
Sinn: Ja, die deutsche Staatskrise ist ebenfalls vorprogrammiert. Auch wir liegen mit einer Staatsverschuldung von 74 Prozent gemessen an der Wirtschaftsleistung weit über dem erlaubten Wert von 60 Prozent. Wir laufen ohnehin auf eine größere demographische Krise zu. In zwanzig Jahren sind die deutschen Baby-Boomer, die 1965 geboren wurden, 65 und wollen eine Rente von Kindern, die sie nicht haben. Diese Krise wird durch die Vergemeinschaftung der europäischen Schulden, die nun in der EU beschlossen wurde, wahrscheinlicher.
SZ: Hätte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel gegen den Pakt wehren müssen?
Sinn: Ja. Der Pakt bedeutet nichts anderes, als dass Deutschland für die Schulden anderer Länder gerade steht. So sehr ich den Euro grundsätzlich für richtig halte: Ich verstehe, wenn sich nun viele Deutsche hereingelegt fühlen.
SZ: Wie beurteilen Sie den Beschluss der Zentralbank, griechische Schrottpapiere zu kaufen?
Sinn: Der Beschluss ist zwar kein Problem für die Geldwertstabilität, wenn die Geldmenge anderswo gekürzt wird. Aber auch er sozialisiert die Konsequenzen des griechischen Staatsbankrotts.
SZ: Bundesbankpräsident Weber wurde bei dieser Entscheidung überstimmt, weil er nur eine Stimme von vielen hat.
Sinn: Das halte ich für einen ungeheuerlichen Vorgang. Die Ohnmacht Deutschlands ist die Folge eines Konstruktionsfehlers der Eurozone. Unser Stimmrecht entspricht nicht dem Gewicht Deutschlands. Wir zahlen zwar bei weitem das meiste, aber haben in der EZB auch nicht mehr zu sagen als Griechenland. Die Kritik muss sich hier gegen die Politik von Altbundeskanzler Helmut Kohl richten. Er war damals allzu blauäugig. Er hat an das Gute im Menschen geglaubt, anstatt vernünftige Regeln auszuhandeln, die langfristig die deutschen Interessen wahren.
Interview Markus Balser