Der Koalitionsvertrag bot ein Gemischtwarensortiment zu überhöhten Steuerpreisen, das bei den Kunden nicht ankam. Umso überraschender war, dass in der Regierungserklärung von Angela Merkel nun doch eine überzeugendere Linie für die nächsten Jahre erkennbar wurde. Das Sieben-Punkte-Programm, das die Kanzlerin vorgelegt hat, ist konsistent, plausibel und in wichtigen Teilen zukunftsweisend.
Zwar können nicht alle sieben Punkte beeindrucken. Wenn die Kanzlerin beteuert, dass die Lehrstellen gesichert bleiben (Punkt 5) und dass betriebliche Bündnisse im Rahmen des geltenden Tarifrechts wahrgenommen werden sollen (Punkt 7), so beschreibt sie damit nur den Status quo und definiert keine neue Politik.
Begeisterungsstürme kann auch die Querfinanzierung der Arbeitslosenversicherung durch die Mehrwertsteuer (Punkt 1) nicht hervorrufen. Diese Querfinanzierung senkt im Außenverhältnis Deutschlands die Stundenlohnkosten des durchschnittlichen Industriearbeiters gerade einmal von 27,80 Euro auf 27,60 Euro, und im Innenverhältnis, wenn die Mehrwertsteuer zu den Lohnkosten hinzugerechnet werden muss, bewirkt sie nichts. Die Grenzabgabenlast des durchschnittlichen Arbeitnehmers, der verheiratet ist und zwei Kinder hat, steigt sogar von 63,7 Prozent auf 63,8 Prozent. Die Schwarzarbeit feiert weiter fröhlich Urständ.
Doch von der Ausdehnung der Probezeit auf 24Monate (Punkt 4) kann man positive Effekte erwarten. Diese Ausdehnung senkt das Wagnis der Unternehmen bei Neueinstellungen und erleichtert die Entscheidung für solche Einstellungen.
Auch die Teilabsetzbarkeit von Handwerkerrechnungen und Ausgaben für haushaltsnahe Dienstleistungen (Punkt 2, das alte "Dienstmädchenprivileg") wird positive Wirkungen entfalten. Die prohibitiv hohe Abgabenlast wird auf diese Weise wenigstens teilweise wieder etwas reduziert. Im übrigen erhält der Fiskus über die Steuererklärungen der Kunden ein Kontrollinstrument zur Überprüfung der Handwerker, das zur Verringerung der Schwarzarbeit genutzt werden kann.
Wirklich wichtig sind der Kombilohn (Punkt 3) und die "Initiative 50 plus" (Punkt 6), denn diese Maßnahmen greifen an den neuralgischen Punkten des Arbeitsmarktes an. Deutschland ist ja OECD-Meister bei der Arbeitslosigkeit der gering Qualifizierten, und bei der Erwerbsquote der 55- bis 64-jährigen liegen wir im letzten Drittel der OECD-Länder. Beides ist das Ergebnis der Lohnersatzpolitik des Sozialstaates, also des Versuchs, den weniger leistungsfähigen Mitgliedern der Gesellschaft mit Einkommen ohne Arbeit zu helfen, wo der Markt solche Einkommen nicht zur Verfügung stellt. Die wichtigsten Instrumente der Lohnersatzpolitik sind die Sozialhilfe beziehungsweise heute auch das Arbeitslosengeld II sowie die Frühverrentung. Die Sozialhilfe schafft hohe Mindestlohnansprüche, für die viele gering Qualifizierte keine Arbeitgeber mehr finden. Ähnlich wirkt die Frührente, denn sie verhindert, dass sich ältere Arbeitnehmer zu Löhnen verdingen, zu denen es Stellen für sie gäbe.
Die Lohnersatzpolitik hat Deutschland in die Massenarbeitslosigkeit getrieben. Würde sie aufrecht erhalten, so würde sich der verhängnisvolle Trend der wachsenden Arbeitslosigkeit, der nun schon 35Jahre anhält, verlängern, bis die Bundesrepublik eines Tages daran zerbricht. Kombilohn und "Initiative 50 plus" können das verhindern, wenn Angela Merkel wirklich ernst mit ihrem Programm macht und das gesamte System der Förderung im Niedriglohnbereich sowie alle Frühverrentungsmodelle konsequent in die Richtung einer aktivierenden Hilfe umstellt. Helfen muss der Staat den weniger leistungsfähigen Mitgliedern der Gesellschaft. Aber er muss dies unter der Bedingung des Mitmachens statt unter der Bedingung des Wegbleibens tun.
Ob man das neue System Kombilohn oder aktivierende Sozialhilfe nennt, tut nichts zur Sache. Und wenn sich hinter der"Initiative 50 plus" die Frührente bei freiem Hinzuverdienst verbergen sollte, wäre es nur recht. Wichtig ist, dass die Kehrtwende in der Sozialpolitik endlich vollzogen wird. Den weniger leistungsfähigen, aber prinzipiell arbeitsfähigen Mitgliedern der Gesellschaft muss geholfen werden, während sie arbeiten, und nicht mehr unter der Bedingung, dass sie nicht arbeiten, wie es heute der Fall ist. Dazu bedarf es eines Systems, das die folgenden Forderungen erfüllt: Erstens muss es sich auf den unteren Rand der Einkommensverteilung konzentrieren, weil es nur so finanzierbar ist. Allgemeine Lohnkostensubventionen zu Lasten anderer Bevölkerungsgruppen, wie sie noch die Hartz-Kommission vorschlug, lassen unermessliche Kosten entstehen, wenn nennenswerte Effekte auf dem Arbeitsmarkt erzielt werden sollen. Zweitens muss das System aus Gründen der horizontalen Gerechtigkeit auf die persönlichen Belange der Betroffenen abstellen, was am besten durch eine Integration in das Einkommensteuersystem geschehen kann. Drittens muss das System auch jenen helfen, deren Lohneinkommen durch die Neueinstellung von Niedriglöhnern unter Druck kommen. Es gibt nämlich keine Möglichkeit, Kombilohnmodelle ohne Mitnahmeeffekte bei den schon beschäftigten Arbeitsverhältnissen zu konstruieren, denn auf Dauer gibt es in der Marktwirtschaft für einen Typ von Arbeit immer nur einen Lohn. Viertens muss das System dauerhaft angelegt sein. Man darf sich nicht der Illusion hingeben, man könne mit Anstoßeffekten irgendetwas bewirken. Man muss dauerhaft Millionen von Menschen während der Arbeit bezuschussen, was allemal besser ist, als Millionen von Arbeitslosen dauerhaft voll zu finanzieren.
Wenn dies alles berücksichtigt wird, dann kehren Beschäftigung und Wachstum nach Deutschland zurück, und Frau Merkel kann sich ihren Platz in den Geschichtsbüchern erobern. Das Zeug dazu hat sie.
Hans-Werner Sinn ist Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung und einer der renommiertesten Ökonomen des Landes