Sieben Jahre lang mussten Arbeitnehmer aus den acht EU-Ländern Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn auf die Öffnung der Grenzen warten. Wie gut ist Deutschland auf die neuen Jobsuchenden vorbereitet?
Ausgezeichnet! Wir haben einen Wirtschaftsboom wie seit 20 Jahren nicht mehr. Wegen der Finanzkrise fließen die Spargelder nicht mehr ins Ausland, sondern werden hier investiert. Investitionen sind Binnennachfrage und schaffen außerdem noch Arbeitsplätze. Auch der Export floriert. Besser hätte die Konstellation bei der Grenzöffnung gar nicht sein können.
Wie viele Zuwanderer werden denn nach Deutschland kommen?
Wir werden in den nächsten zehn Jahren mit Millionen von Migranten rechnen können.
Geht das genauer?
Nein. Verlässliche Prognosen lassen sich kaum machen. Ich rechne aber mit sehr viel mehr Migranten als nur den etwa 140 000 pro Jahr, von denen die Bundesagentur für Arbeit ausgeht. Solch niedrige Prognosen berücksichtigen das Geschehen an den Finanzmärkten und die unterschiedliche Wirtschaftsentwicklung im Euro-Raum nicht ausreichend. Man muss ja bedenken, dass dort, wo die Migranten bislang hingingen, eine lang anhaltende Wirtschaftsflaute zu erwarten ist, während Deutschland boomen wird, weil es sein Kapital nicht mehr ins Ausland schickt.
Aber sind die Osteuropäer denn wirklich so mobil?
Es sind in den vergangenen zehn Jahren allein 2,3 Millionen EU-Bürger nach Spanien und 650 000 nach Irland gewandert, über 600 000 Arbeitskräfte zuzüglich vieler Angehöriger gingen nach England usw. Es gibt ein Potenzial von mobilen Menschen, das einige Millionen umfasst. Und von denen wird ein erheblicher Teil nach Deutschland kommen. Außerdem werden auch noch Einheimische aus den westeuropäischen Flauteländern sowie Osteuropäer, denen der Weg nach England, Spanien und Irland zu weit war, nach Deutschland wandern.
Mit dieser Voraussage liegen sie weit über den Annahmen vieler Politiker und Arbeitsmarktforscher. Was treibt denn die Menschen zu uns?
Vor zehn Jahren erwarteten die meisten Migrationsforscher, dass innerhalb von zehn bis 15 Jahren nach Herstellung der Freizügigkeit zwei bis drei Prozent der jeweiligen Heimatbevölkerung emigrieren würden. Tatsächlich aber sind schon ohne die volle Freizügigkeit innerhalb von vier Jahren fünf Prozent der Polen ausgewandert. Auch sehr viele Rumänen sind auf Wanderschaft. Die bisherigen Migrationsprozesse in Europa übersteigen die Prognosen um ein Vielfaches. Einige EU-Staaten haben ihre Grenzen früher als Deutschland geöffnet. Jetzt werden sich die Migranten neu verteilen.
Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages erklärte, Deutschland sei womöglich nicht attraktiv genug, um viele qualifizierte Arbeitnehmer anzuziehen.
Das stimmt für Akademiker. Doch unsere Facharbeiterlöhne sind hoch und attraktiv genug, um Zuwanderer anzulocken, wenn es Stellen gibt.
Sind das denn jene Arbeitskräfte, die die deutsche Wirtschaft braucht?
Ja. In Osteuropa gibt es sehr viele gut ausgebildete Facharbeiter, die auch nach Deutschland wandern werden.
Und was ist mit den überall gesuchten Ingenieuren?
Auch die werden kommen, wenn auch in kleinerer Anzahl. Hochqualifizierte finden weltweit nicht mehr so viele Möglichkeiten. Die Zeiten, in denen Akademiker nach Amerika gingen und dort tolle Jobs hatten, sind vorbei. In den USA gibt es zum Beispiel kaum mehr Posten an den Universitäten. Wenn wir am Ifo-Institut Stellen ausschreiben, bekommen wir neuerdings Bewerbungen aus den USA.
Das heißt, das Problem fehlender Facharbeiter in Deutschland löst sich von ganz allein?
Die Debatte um den Fachkräftemangel halte ich für eine Geisterdebatte. Wenn eine deutsche Firma Fachkräfte braucht, dann muss sie jetzt nur eine Annonce in eine Zeitung in Osteuropa setzen. Dann kann sie so viele Facharbeiter anheuern, wie sie will. Es wird bald keinen Fachkräftemangel mehr geben.
Werden diese Staaten in Osteuropa dann nicht einiges unternehmen, um ihre Fachkräfte zu halten?
Ich weiß nicht. Es hilft den osteuropäischen Volkswirtschaften zwar nicht unmittelbar, wenn die Fachkräfte auswandern. Aber die Auswanderer schicken in der Regel viel Geld nach Hause, und sie profitieren ja im Übrigen selbst von der Migration. In Budapest findet man derzeit überall Annoncen ungarischer Agenturen, die Fachkräfte nach Deutschland vermitteln wollen.
Facharbeiter sind doch auch dort zum Beispiel in der Autoindustrie gefragt und nicht schlecht bezahlt, gemessen an den Lebenshaltungskosten?
Trotzdem wird es diesen Ländern nicht gelingen, die Migrationsströme aufzuhalten. Die Leistungsfähigkeit ist vorerst noch nicht so hoch, dass die Unternehmen dort vergleichbar hohe Löhne zahlen können wie Firmen in Deutschland. Aber die Verhältnisse werden sich angleichen. Bisher floss viel Kapital von Deutschland nach Osteuropa, weil dort die Löhne niedriger waren. Jetzt dürfen die Menschen zu uns kommen, das ist ein Austausch in umgekehrter Richtung. Beides zusammen führt in den nächsten zehn, 20 Jahren zu einem neuen Gleichgewicht mit ähnlichen Löhnen in Ost und West.
In welchem Umfang gilt das auch für so arme Länder wie Rumänien und Bulgarien, für die erst ab spätestens 2014 die Grenzen nach Deutschland offen stehen?
Gewisse Unterschiede werden bleiben, aber sie werden langfristig nur so groß sein wie zwischen den westeuropäischen Regionen. Auch hier haben wir ja schwache Gebiete, deren Wirtschaftsleistung nur bei der Hälfte Deutschlands liegt.
Die deutschen Gewerkschaften und Arbeitnehmer fürchten eine Angleichung nach unten und stärkeren Druck auf die Löhne und Arbeitsbedingungen - ist das berechtigt?
Im Prinzip schon. Im Normalfall bedeutet Migration sinkende Löhne in dem Land, in das die Menschen einwandern. Das Gute jetzt ist, dass wir diesen Normalfall nicht fürchten müssen, weil wir wegen der Umlenkung der Sparströme einen so starken Wirtschaftsaufschwung erleben. Wenn sich Kapital und Menschen im Gleichschritt hier ansiedeln, gibt es keine Lohnsenkung. Darauf kann man heute eher hoffen, als es zu einem anderen Zeitpunkt für die Grenzöffnung der Fall gewesen wäre.
Gilt das für alle Bereiche? Was ist zum Beispiel mit Pflegekräften, die in Deutschland gesucht, aber nicht besonders gut bezahlt sind?
Ausländische Pflegekräfte sind schon heute günstig. Seien wir froh. Der Pflegenotstand in Deutschland wird oft nur dadurch gelindert, dass wir mit unterschiedlichsten rechtlichen Kniffen Kräfte aus dem Osten für wenige Wochen ins Land holen.
Die Pfleger aus dem Osten sind also schon längst da?
Ja, und sie haben natürlich den Lohn der Pflegekräfte in Deutschland in Grenzen gehalten. Aber sie haben die Pflege auch oft erst ermöglicht. Doch auch hier gibt es Entwarnung für die Betroffenen. Wenn die Wirtschaft boomt, zahlen die Leute auch mehr Beiträge, sodass im Sozialsystem mehr Geld zu Verfügung steht, um den Pflegern höhere Löhne zu bezahlen.
Soweit die Theorie. Und was entgegnen Sie den Brandenburgern, die fürchten, dass polnische Arbeitskräfte tagsüber für wenig Geld in Deutschland arbeiten und abends wieder nach Hause fahren?
Die Lohnkonkurrenz kann man nicht bestreiten, aber sie wird, wie gesagt, durch die derzeit überaus günstige Wirtschaftsentwicklung abgefangen. Problematischer als die Lohnkonkurrenz finde ich die Zuwanderung von Kostgängern des Staates.
Wir müssen also mit einer Welle von Einwanderern rechnen, die gar nicht arbeiten wollen?
Wer nicht arbeiten will oder kann, der durfte ohnehin schon kommen. Ein EU-Bürger, der sich fünf Jahre lang in einem anderen EU-Land aufgehalten hat, besitzt anschließend ein Daueraufenthaltsrecht. Das ist auch ein Grund, warum die Franzosen im vergangenen Sommer so energisch Roma und Sinti abgeschoben haben. Wir werden im Laufe dieses Jahrzehnts immer mehr Sozialmigration nach Deutschland bekommen.
Welche Folgen hat das?
Ein Einwanderer kann im neuen Land ebenso viele Sozialleistungen beziehen wie die Einheimischen auch. Nach fünf Jahren hat er ganz legal den vollen Anspruch, ohne je Beiträge gezahlt zu haben. Das ist vielen nicht klar. Und das ist auch den Migranten noch nicht klar, aber sie werden es erfahren und weitererzählen. Die neue Regelung gilt seit 1. Januar 2005. Wer damals nach Deutschland einwanderte, kam vergangenes Jahr erstmals in den Genuss staatlicher Sozialleistungen.
Ist das deutsche Sozialsystem denn so attraktiv?
Die Sozialhilfe inklusive Wohngeld beträgt in Deutschland im Normalfall über 700 Euro für einen Single. Die freie Krankenversicherung ist auch etwa 100 bis 200 Euro wert. Das ist mehr als der Durchschnittslohn in manchen der osteuropäischen Länder.
Aber hier ist das Leben auch teurer als in Osteuropa.
Ja, aber nicht so viel teurer. Im Übrigen kann man auch Urlaub in der günstigeren Heimat machen. Wie oft man weg ist, wenn man hier gemeldet ist und die Sozialhilfe kassiert, kann keiner kontrollieren.
Warum überdenkt man dann nicht dieses Wohnsitzlandprinzip in der EU?
Diesen Grundsatz wird man nicht aufgeben, das ist eine heilige Kuh in der EU. Da kommt man nicht mehr heraus.
Und was bedeutet das in letzter Konsequenz?
Der Sozialstaat wird erodieren, da er Einheimische und Zuwanderer gleich behandeln muss und das sehr teuer wird. Die Bedürftigen gehen immer dorthin, wo die Leistungen großzügiger sind. Da auch die Steuerzahler sich das Land aussuchen, in dem es ihnen besser geht, werden sie die Sozialstaaten meiden. Beide Effekte zusammen bewirken, dass die Leistungen nicht mehr finanzierbar sind. Die Idee der EU war, eine soziale Wohltat zu verankern. In Wahrheit hat man dem Sozialstaat das Grab geschaufelt.
Also setzen wir mit der Freizügigkeit unsere soziale Absicherung aufs Spiel?
Mit dem Wohnsitzland bei der Sozialhilfe sehe ich in der Tat diese Gefahr. Besser wäre es, ein Heimatlandprinzip einzuführen. Jeder bedürftige EU-Bürger hat dann zu Hause Anspruch auf Sozialhilfe. Aber wo er sie ausgibt, bleibt ihm überlassen. Aber das ist derzeit nicht das vorrangige Thema. Wirklich neu ist, dass wir ab Mai eine Migration in Arbeitsverhältnisse bekommen. Und das ist eine gute Nachricht, weil es um Menschen geht, die Steuern und Sozialbeiträge zahlen.
Was überwiegt denn nun: die Chance oder das Risiko?
Deutschland braucht mehr Menschen. Wir sind unter den OECD-Staaten das Land mit der geringsten Zahl an Kindern relativ zur Bevölkerung. Ohne Zuwanderung werden wir nicht zurecht kommen. Jetzt ist in der Tat seit Langem der bestmögliche Zeitpunkt, die Grenzen zu öffnen.