Deutschland durchlebt schwere Zeiten. Die Jahre des Wirtschaftswunders, in denen dieses Land mit Billiglöhnen die Weltmärkte erobern konnte, sind lange vorbei. Unsere Einkommen gehören zu den höchsten der Welt, und nur mit Mühe lässt sich die Spitzenposition verteidigen. Japan, Korea und andere asiatische Tiger sind unserem Weg gefolgt, bedrängen uns hart und sind dabei, sich selbst nach oben zu schieben.
Mit dem Fall der Mauer hat die Bedrohung der deutschen Wettbewerbsfähigkeit eine neue Dimension erhalten, weil neue Tiger im Hinterhof lauern. Etwa 80 Millionen Menschen aus den baltischen Ländern, Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakei, Ungarn, Slowenien und Kroatien stehen in der ersten Riege der Anschlusssuchenden. Löhne, die heute bei einem Zehntel bis Fünfzehntel der westdeutschen liegen, ermöglichen eine besonders aggressive Billiglohnkonkurrenz. Noch schlimmer kann es kommen, wenn die zweite Riege der östlichen Wettbewerber mobilisiert wird. Zieht man die Grenze am Ural, so umfasst sie weitere 240 Millionen Menschen. Kaum zu denken, was geschieht, wenn auch diese Massen sich an der Lohnkonkurrenz beteiligen.
Der Macht des Faktischen kann sich Deutschland nicht widersetzen. So oder so, sei es durch Billiglohnkonkurrenz oder Zuwanderungen, wird es in den nächsten Jahren zu einer Verminderung des Lohndifferentials kommen, die auch zu Lasten der deutschen Löhne geht.
Die Entwicklung wird nicht unbedingt zum Nachteil Deutschlands insgesamt verlaufen, denn es bieten sich großartige Investitionschancen für die deutsche Industrie, die weitaus mehr Gewinne versprechen, als an Löhnen verloren geht. Es führt aber kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass sich die Knappheitsverhältnisse von Kapital und Arbeit massiv zu Lasten Arbeit verändert haben und dass eine substantielle Senkung der Reallöhne nötig ist, zumindest im Vergleich zum Trend, wie man ihn ohne den Fall der Mauer hätte erwarten können.
Die veränderten Knappheitsverhältnisse treiben nicht nur die Gewerkschaften in die Enge, sondern entziehen dem sozialen Konsens, auf den die Bundesrepublik bislang gegründet war, den Boden. Bisher sind die Reallöhne der westdeutschen Arbeitnehmerhaushalte cum grano salis in Proportion zum realen Sozialprodukt gewachsen. Die Lohnbezieher profitierten von der enormen Kapitalakkumulation, weil der von ihnen angebotene Produktionsfaktor immer begehrter wurde und, kaum vermehrbar, immer höhere Knappheitsrenten erwirtschaften konnte. Arbeiter und Angestellte konnten auf Kapitaleinkommen verzichten, weil ihr Lohnanspruch einem Anspruch auf Kapitaleinkommen gleichwertig war. Das wird in Zukunft anders sein. Der marktgerechte Lohnansatz wird weitgehend vom Sozialprodukt abgekoppelt werden; vermutlich wird die Eingliederung zusätzlicher Arbeitskräfte in den Produktionsprozess gar eine Senkung des Anteils der Lohnsumme am Volkseinkommen verlangen.
Im vorigen Jahrhundert ist Deutschland schon einmal durch eine ähnliche von 1820 bis 1870 blieben die Reallöhne trendmäßig konstant, weil die Angebotswirkungen einer massiven Landflucht und extrem hoher Geburtenraten die Nachfragewirkungen der stürmischen Kapitalakkumulation vollständig kompensierten. Die Konsequenz war wachsender sozialer Unfriede, der bis an den Rand des Aufruhrs führte und mit einem beginnenden Sozialstaat einerseits und Sozialistengesetzen andererseits in Schach gehalten wurde. Karl Marx hat seine ökonomischen Theorien nachweislich aus der Beobachtung von Wachstum bei konstanten Reallöhnen hergeleitet.
Auch die jetzt beginnende Entwicklungsphase wird Konsequenzen für den sozialen Frieden in Deutschland haben, wenn der wachsenden Einkommensungleichheit nicht rechtzeitig mit einer klugen Gegenstrategie begegnet wird. Leider gibt mehr dumme als kluge Strategien.
Dumm wäre es sicherlich, die Grenzen gen Osten wieder dichtzumachen. Eine Abschottungsstrategie würde die jungen Marktwirtschaften des Ostens im Keim ersticken und der nationalkommunistischen Opposition neue Wählerstimmen zutreiben, was unübersehbare Folgen für die Stabilität Europas hätte. Zudem würden natürlich auch die großen Investitionschancen und Handelsgewinne ungenutzt bleiben, die der Osten bietet. Eine zweite, nicht weniger dumme Strategie besteht darin, die östlichen Anrainerstaaten möglichst rasch in die EG zu holen und sie dann auf dem Wege über eine „Vervollkommnung" der europäischen Sozialcharta zu disziplinieren. Über eine erzwungene Angleichung der Löhne und Lohnnebenkosten könnte man versuchen, die Wanderungsanreize und die Gefahr einer Billiglohnkonkurrenz zu begrenzen. Dies ist ungefähr das, was die westdeutschen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter im Sinn hatten, als sie die rasche Angleichung der ostdeutschen Löhne an das Westniveau „aushandelten". Die Konsequenzen sind bekannt. Vom Jahr 1989 bis heute sind die in Deviseneinheiten gerechneten Löhne Ostdeutschlands um etwa 900 Prozent gestiegen, wobei 600 Prozentpunkte auf die Lohnverhandlungen und 300 Punkte auf die Währungsumstellung entfielen. Die ostdeutsche Industriebeschäftigung sank in dieser Zeit um 80 Prozent. Eine Wiederholung dieser Politik für Osteuropa würde den wirtschaftlichen Selbstmord der Europäischen Gemeinschaft bedeuten.
Als dritte Strategie könnte versucht werden, eine Flucht in jene Zweige der Hochtechnologie anzutreten, in denen Deutschland zurzeit hinter Japan und den USA herhinkt. Diese Strategie ist sinnvoll, wenn es um die Entwicklung kostengünstiger Verfahren oder neuer Produkte geht. Indes können weder die Tarifpartner noch der Staat hier Wesentliches beitragen. Es ist Aufgabe der privaten Unternehmer, neue Wege zu suchen, und wenn es sich lohnt, dann werden sie es auch tun. Eine Umstrukturierung der Forschungsausgaben könnte zwar nützlich sein. Durch Forschungsförderung der neuen Standortkonkurrenz begegnen zu wollen hieße jedoch, Illusionen über die Größenordnung der dabei erzielbaren Effekte zu hegen. Die Forschungsförderung kann helfen, aber nicht mehr.
Im Übrigen ist eine Flucht in die Hochtechnologie dann eine falsche Strategie, wenn man darunter kapitalintensive, hoch automatisierte Produktionsverfahren versteht. Deutschland hat zuviel Arbeit, nicht zuviel Kapital. Angesichts des Überschusses an Arbeitskräften kann es nicht sinnvoll sein, Werkhallen für Roboter statt Menschen zu bauen.
Die vierte und leider wahrscheinlichste Strategie ist die Vogel-Strauß-Strategie. Sie besteht darin, erst einmal abzuwarten und die hohen Löhne Deutschlands ungeachtet der sich verschärfenden Billiglohnkonkurrenz zu verteidigen. Diese Strategie mag für ein Jahrzehnt durchhaltbar sein, wird aber irgendwann mit Sicherheit scheitern. Mehr und mehr Arbeitsplätze werden verloren gehen, und immer größere soziale Lasten werden den verbleibenden Einkommensbeziehern aufgebürdet werden müssen mit der Folge, dass sich die Standortnachteile nur noch vergrößern. Deutschlands Zukunft würde verspielt, und im Endeffekt ließe sich das hohe Lohnniveau doch nicht halten.
Die richtige Strategie, da sind sich viele Ökonomen einig (auch Roland Vaubel in der ZEIT), muss mit Lohnverzichten einhergehen, denn man kann die Gesetze der Marktwirtschaft nicht durch bloßes Wunschdenken überwinden, Die Frage ist nur, wie diese Strategie ohne die absehbaren sozialen Probleme durchzusetzen ist. Kann man es hinnehmen, dass große Teile der deutschen Bevölkerung ihre Ansprüche an das Sozialprodukt zugunsten der Bezieher von Kapitaleinkommen abtreten, nur weil sich ihre „Knappheitsposition“ geändert hat? Muss der soziale Konsens von dem dieses Land bislang getragen wurde, kalten ökonomischen Gesetzen geopfert werden?
Er muss es nicht. Es gibt einen Weg, die existierenden Ansprüche gegen das Sozialprodukt zu erhalten und sich dennoch der Niedriglohnkonkurrenz zu erwehren. Dieser Weg besteht im Wesentlichen darin, dass ein Teil der Ansprüche, die die Arbeitnehmer gegen das Sozialprodukt haben oder zumindest glauben, verteidigen zu müssen, in Kapitalbesitz umgewandelt wird.
Konkret bedeutet dies, dass die Tarifparteien langfristige Lohnstillhalteabkommen schließen und dass den Arbeitnehmern im Umfang des Barwertes der dadurch gesparten Lohnzahlungen Beteiligungsrechte an den Unternehmen eingeräumt werden.
Aktiengesellschaften können Vorzugsaktien ausgeben, und Kapitalgesellschaften können Eigenkapitalanteile zuweisen. Personengesellschaften können den Arbeitnehmern verzinsliche Forderungstitel übergeben. Die Beteiligungsrechte werden jenen gewährt, die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses beschäftigt sind. Bei Neueineinstellungen werden nur die vereinbarten Niedriglöhne gezahlt.
Natürlich ist es nicht einfach festzustellen, wie hoch die Lohneinsparung durch das Stillhalteabkommen wirklich ist. Gewerkschaften und Arbeitgeber werden recht unterschiedliche Vorstellungen darüber haben, wie sich die Löhne ohne ein solches Abkommen entwickelt hätten. Aber diese Unklarheit ist kein prinzipielles Hindernis. Die Vertragsparteien müssen die Höhe der äquivalenten Beteiligungsrechte aushandeln und tarifvertraglich festlegen, genauso wie sie das beim Lohn schon immer tun.
Die Beschäftigten können auf diese Weise ihr erwartetes Einkommen trotz der Billiglohnkonkurrenz erfolgreich verteidigen, und für einen geringen Verlust an Einkommenssicherheit kaufen sie einen erheblichen Gewinn an Arbeitsplatzsicherheit ein. Da sie im Falle einer Entlassung nur ihre (niedrigen) Lohnansprüche verlieren würden, haben die Unternehmen bei einer verschlechterten Geschäftslage wenig Veranlassung zu einer solchen Entlassung, und schon gar nicht brauchen Kündigungen zum Zwecke des Ersatzes von teuren durch billigere Arbeitskräfte befürchtet zu werden.
Die Unternehmenseigner kommen in den Genuss höherer Erträge. Zwar stimmt es, dass sie ihren Gewinn aus der Beschäftigung der existierenden Arbeitnehmer nicht vergrößern können. Doch macht die trendmäßige Lohnsenkung Unternehmenserweiterungen rentabel, die sonst nicht, oder jedenfalls nicht in Deutschland, vorgenommen worden wären. Außerdem bieten Beteiligungsrechte den Unternehmen insofern Vorteile, als sie haftendes Eigenkapital darstellen, das zwar im Mittel mit einer hohen Verzinsung bedient werden muss, doch durch die Flexibilität dieser Verzinsung zur Verminderung der Unternehmensrisiken beiträgt.
Die Arbeitslosen schließlich, seien es Inländer oder zugewanderte Ausländer, die nun eine Beschäftigung finden, profitieren allemal. Sie, die Outsider, können in den Produktionsprozess integriert werden, weil diese Integration nicht mit einem Einkommensverlust der schon zuvor Beschäftigten – der Insider – einhergeht.
Es ist entscheidend für die Wirksamkeit der Strategie, dass die Outsider den Insidern nicht völlig gleichgestellt werden. Neue Beschäftigte erhalten zwar den gleichen Lohn wie die existierende Belegschaft, doch dürfen ihnen keine Beteiligungsrechte zugewiesen werden. Es ist genau nur dieser Aspekt, der eine Beschäftigungsausweitung für die Unternehmen rentabel und für die existierenden Belegschaften akzeptabel macht.
Der Respekt vor der Machtposition der Insider unterscheidet den hier unterbreiteten Vorschlag von anderen Beteiligungsmodellen, die bei früherer Gelegenheit diskutiert worden sind. So sahen die in Deutschland in den sechziger Jahren erörterten Modelle für eine Vermögensbeteiligung; in Arbeitnehmerhand stets eine Gleichbehandlung zwischen Insidern und Outsidern vor und hätten aus diesem Grunde keine wesentlichen Anreize zur Einstellung neuer Arbeitskräfte liefern können. Ein Mehr an Beschäftigung hätte stets ein Mehr an Gewinnbeteiligung bedeutet und wäre genau deshalb nicht realisiert worden.
Auch der Gewinnbeteiligungsplan des amerikanischen Ökonomen Martin L. Weitzmann kann wegen der mangelnden Unterscheidung zwischen Insidern und Outsidern keinen positiven Beschäftigungseffekt versprechen. Zwar ist bei diesem Plan der Beteiligungswert von der Größe der Belegschaft unabhängig, was bei den Unternehmen einen Anreiz zu
Neueinstellungen schafft. Jedoch versuchen die existierenden Belegschaften sich solchen Neueinstellungen zu widersetzen, weil dadurch der Wert ihrer Beteiligungsrechte verwässert wird, und werden, wenn sie glauben, sich nicht widersetzen zu können, von vornherein keinen Lohnverzicht in Höhe des Wertes der Beteiligungsrechte akzeptieren.
Die vorgeschlagene Strategie könnte sich insbesondere für die neuen Bundesländer als Rettungsanker erweisen, deren Löhne besonders weit von den Marktgleichgewichtswerten entfernt sind. Würde die geplante Tariflohnangleichung zwischen Ost und West über das bisherige Zieljahr1996 hinaus gestreckt, so entstünde für das Unternehmen ein Gewinnzuwachs, den man vermögensneutral in Beteiligungsrechte für die jetzt noch beschäftigten Arbeitnehmer umwandeln könnte. Die niedrigeren Löhne würden ocken, die Beschäftigung erhöhen und den Aufschwung beschleunigen. Der Staat könnte ein Übriges tun, indem er die unerträglich gewordenen Altschulden ebenfalls in Beteiligungsrechte umwandelt und den Arbeitnehmern mit diesen Rechten weitere Lohnsenkungen „abkauft".
Die Gewerkschaften haben sich in den sechziger Jahren schon einmal die Frage gestellt, ob sie ihre Tarifpolitik auf Beteiligungsmodelle ausweiten sollten, sich aber stattdessen für die Mitbestimmung entschieden. Böse Zungen behaupten, damals hätten die Gewerkschaften kein Interesse Beteiligungsmodellen gefunden, weil sie befürchteten, die Arbeitnehmer würden zu Kleinkapitalisten mutieren und sich von den Zielen der Gewerkschaftsbewegung abwenden.
Solche Argumente gehören, sollten sie jemals vorgebracht worden sein, in den Mülleimer der Geschichte. Es geht heute um Einkommenssicherung für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung. Und es geht auch soziale Stabilität und Sicherheit.
Es ist zu hoffen, dass sich die Gewerkschaften und Unternehmensverbände der Dimension Problems bewusst werden und ihre Politik revidieren. Sollte das nicht der Fall sein, dann sollte Wirtschaftspolitik der fehlenden Rationalität der Tarifpartner nachhelfen. Zu denken ist an eine Zwangsmitgliedschaft der Arbeitslosen in den Gewerkschaften oder an eine Regionalisierung der Arbeitslosenbeiträge. Wenn es den Verhandlungspartnern erschwert wird, die Kosten der von ihnen produzierten oder in Kauf genommenen Arbeitslosigkeit auf eine diffuse Gemeinschaft von Beitragszahlern zu überwälzen, dann werden die
Lohnabschlüsse sicherlich moderater ausfallen, und wird wohl auch die Bereitschaft steigen, sich neue Verhandlungsstrategien zu überlegen.
Noch ist es Zeit, Beteiligungsmodelle zu vereinbaren. Noch haben die Gewerkschaften genügend Verhandlungsmacht, um substantiellen Kapitalbesitz zu erstreiten. Doch die Macht schwindet mit jedem Konkurs und jeder Standortverlagerung in andere Länder. In zehn Chance vertan sein, gegen Lohnverzichte Beteiligungsrechte einzuhandeln Exzellente Standortalternativen in den östlichen Anrainerstaaten werden den Unternehmern so viel Verhandlungsmacht bescheren, dass sie keinen Pfifferling mehr für Lohnverzichte herzugeben bereit sind. Die Verhandlungen über Kapitalbesitz müssen jetzt geführt werden.
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.