Der Präsident des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, ist einer der vehementesten Verfechter einer angemessenen Lohnstruktur in Deutschland. Soziale Härten will er durch Lohnzuschüsse vermeiden.
Herr Sinn, an diesem Mittwoch wird die Bundesagentur für Arbeit (BA) vermutlich fünf Millionen Arbeitslose im Januar melden. Erschreckt Sie die Zahl?
Wir hatten sie schon des längeren befürchtet. Zwar sind Januar und Februar grundsätzlich die schlechtesten Monate des Jahres. Aber Florian Gerster hatte 150 000 Menschen aus der Statistik eliminiert, indem er ihnen in einer Sonderaktion das Arbeitslosengeld strich. Außerdem wurden 90 000 Teilnehmer an Trainingsmaßnahmen nicht mehr als arbeitslos gezählt. Jetzt haben wir gegenläufige Effekte, unter anderem weil die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger als arbeitslos gezählt werden. Per saldo ist die gemessene Arbeitslosigkeit durch die erhebungstechnischen Änderungen, die seit 2003 realisiert wurden, nur leicht erhöht worden, allenfalls um zirka 50 000 Personen.
Kommt jetzt die ganze Wahrheit über den Arbeitsmarkt ans Licht, wie Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement verkündet?
Nein. Zirka 1,6 Millionen sind in der Frühverrentung, Altersteilzeit und ähnlichem versteckt. Außerdem würden viele Menschen gerne arbeiten, melden sich aber nicht arbeitslos. Diese "stille Reserve" von etwa 1,3 Millionen Menschen taucht in der Statistik nicht auf, ebensowenig wie die Empfänger von Sozialhilfe, die als nicht erwerbsfähig klassifiziert sind, aber teilweise auf dem Schwarzmarkt arbeiten. Hier besteht eine hohe Dunkelziffer.
Befürchten Sie, daß auch jetzt wieder zu statistischen Tricks gegriffen wird, um die Arbeitslosenzahl gering zu halten?
Ich halte es grundsätzlich für falsch, sich auf die Zahl der Arbeitslosen zu konzentrieren. In Deutschland nehmen immer mehr Arbeitslose Teilzeitstellen oder Minijobs an, während die sozialversicherungspflichtigen Normalarbeitsverhältnisse dahinschwinden. Die Arbeitslosenquote verliert damit an Aussagekraft. Wir müssen statt dessen auf das Beschäftigungsvolumen schauen, entweder in Stunden gerechnet oder in Vollzeitäquivalenten. Von 1995 bis Ende 2004 sind 1,26 Millionen vollzeitäquivalente Stellen verlorengegangen. Das ist eine enorme Zahl, und sie ist frei von statistischen Erfassungsproblemen.
Wann ist eine Besserung zu erwarten?
In diesem Jahr nicht mehr. Der ungewöhnlich starke Boom der Weltwirtschaft kühlt sich bereits wieder ab. Daß die Konjunktur für uns noch besser wird, ist unwahrscheinlich.
Die Hartz-Kommission hatte versprochen, die Zahl der Arbeitslosen zu halbieren. Davon ist man weit entfernt. War die ganze Reformmühe umsonst?
Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe durch Hartz IV wird wirken, aber der Effekt wird sich erst im Laufe der nächsten Jahre aufbauen. Das Programm ist kein Strohfeuer. Die anderen Hartz-Instrumente richten sich auf eine bessere Vermittlung, die für den Arbeitsmarkt gar nichts bringt. Das Problem liegt darin, daß Arbeitsplätze fehlen.
Was sollte jetzt geschehen?
Wir müssen konsequent den Niedriglohnsektor ausbauen. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist ein Problem der Geringqualifizierten. Vor allem dort nahm die Arbeitslosigkeit in den vergangenen 30 Jahren zu. Wir sind OECD-Weltmeister bei der Arbeitslosigkeit der Geringqualifizierten. Die Geringqualifizierten in Beschäftigung zu bringen ist nur über eine stärkere Lohnspreizung möglich.
Im Klartext bedeutet das weniger Geld für den einzelnen.
Nicht unbedingt. Es ist möglich, über eine aktivierende Sozialhilfe die Lohnsenkungen auszugleichen, so daß das Einkommen der Geringverdiener gleichbleibt. Dafür müssen wir einen neuen Sozialstaat konzipieren. Bisher zahlen wir demjenigen Lohnersatzleistungen, der nicht arbeitet. Damit schaffen wir einen Mindestlohn für die Privatwirtschaft, der in sehr vielen Fällen höher liegt als die Produktivität der Betroffenen. Das Resultat ist Massenarbeitslosigkeit. Wir müssen die Gelder vom Lohnersatz in Lohnzuschüsse umschichten. Dann sinken die Lohnansprüche, und bei niedrigeren Löhnen gibt es mehr Stellen. Wie gesagt: alles ohne Einkommensverluste am unteren Ende der Lohnskala.
Wie viele Arbeitslose gäbe es dann weniger?
Mittelfristig über zwei Millionen. Langfristig kann Deutschland zur Vollbeschäftigung zurückfinden, weil sich die gesamte Lohnskala bis hin zu mittleren Einkommensbereichen neu ausrichten wird.
Die Gewerkschaften warnen beim Stichwort Niedriglohnsektor stets vor "amerikanischen Verhältnissen".
Wir sollten uns freuen, wenn wir die Dynamik und das Beschäftigungsniveau Amerikas hätten. Allerdings stelle ich mir schon großzügigere Zuschüsse für die Geringverdiener vor, als die Amerikaner sie zahlen.
Die BA hat bisher nur wenige Arbeitsagenturen modernisiert. Statt dessen befaßt sie sich wegen Hartz IV mit der Zusammenlegung von Behörden. Sind die Prioritäten richtig gesetzt?
Ja. Die interne Strukturierung der Arbeitsvermittlung ist Nebensache. Wichtig ist, die Lohnansprüche der Geringqualifizierten zu senken, und das geschieht durch Hartz IV in begrenztem Maße. Allerdings sind die Hinzuverdienstmöglichkeiten zum Arbeitslosengeld II zu gering. Damit ein verheirateter Arbeitsuchender in der Stunde 5 Euro mehr erhält als mit dem Arbeitslosengeld II, muß er brutto zwischen etwa 25 Euro und 45 Euro pro Stunde verdienen. Diese Lohnforderung ist zu hoch, als daß es dafür Stellen gibt. Wir müssen die Hinzuverdienstgrenzen heraufsetzen und, damit das Ganze finanziell beherrschbar bleibt, gleichzeitig das Arbeitslosengeld II senken. Die Devise muß lauten: mehr Geld fürs Mitmachen und weniger Geld fürs Nichtstun.
Aber was geschieht mit denen, die keine Stelle finden?
Als Notanker brauchen wir kommunale Jobs, die in Höhe des heutigen Arbeitslosengeldes II bezahlt werden. Die Kommunen sollten die ihnen anvertrauten Arbeitskräfte aber nicht selbst einsetzen, sondern meistbietend über Honorarverträge an die private Wirtschaft verleihen. Es wird einen von Null verschiedenen Honorarsatz geben, zu dem die Beschäftigung möglich ist. Nach unserer Rechnung liegt das markträumende Niveau der Lohnkosten für Geringqualifizierte um etwa ein Drittel unter dem heutigen Niveau.
Also ist auch von Hartz IV keine Besserung zu erwarten?
Das Arbeitslosengeld II wird dazu führen, daß der bislang arbeitslose Ingenieur als Facharbeiter und der bislang arbeitslose Facharbeiter als Hilfsarbeiter arbeitet. Es wird zu einer Verdrängungskaskade kommen, an deren Ende die Geringqualifizierten aus dem Arbeitsmarkt hinausgedrückt werden.
Wofür dann der ganze Aufwand?
Positiv ist schon einmal, daß sich überhaupt etwas bewegt. Hartz IV muß aber noch ergänzt werden durch ein Hartz V. Wir brauchen bessere Hinzuverdienstmöglichkeiten bei niedrigerem Arbeitslosengeld II.
Das Gespräch führte Claudia Bröll.