Die EU-Ost-Erweiterung ist für viele ein Schreckgespenst. Gerade die Menschen in den neuen Bundesländern fürchten eine Massenzuwanderung von Arbeitskräften, die zu Billiglöhnen bereit sind zu arbeiten. Sind solche Ängste berechtigt?
Sinn: Angesichts der großen Einkommensunterschiede und der Bevölkerungsstärke der Beitrittsländer werden wir mit einer erheblichen Zuwanderung rechnen müssen. Ich glaube aber nicht, daß man sich davor fürchten muß. Es stimmt, daß die hohen Löhne in den neuen Ländern die Gefahr einer Verdrängung inländischer Arbeitskräfte implizieren. Indes hat die Zuwanderung viele positive Aspekte und verspricht in der Summe Einkommensgewinne für unser Land - wenn wir die Sache richtig angehen.
Was heißt das konkret?
Sinn: Wir müssen dafür Sorge tragen, daß die Arbeitsmärkte hinreichend flexibel sind. Sonst kommt es tatsächlich zu einer Verdrängung deutscher Arbeitskräfte und zu einer Zunahme der Schwarzarbeit. Wir brauchen vor allem ein größeres Maß an Lohnflexibilität und Lohnspreizung. Der Lohn für einfache Arbeit ist in Deutschland mit 70 Prozent des Durchschnittslohnes ungewöhnlich hoch. In den Vereinigten Staaten liegt er bei nur 30 Prozent. Das ist eine Erklärung dafür, daß die Amerikaner Jobs für alle haben. Wenngleich wir die amerikanischen Zahlen wegen der hierzulande besseren Ausbildung nicht übernehmen müssen, sollten wir umdenken.
In welche Richtung?
Sinn: Das wichtigste ist, daß wir vom passivierenden zum aktivierenden Sozialstaat übergehen. Bisher basiert unser Sozialhilfesystem auf Lohnersatzleistungen. Die Alternativeinkommen, die der Staat bei Untätigkeit offeriert, implizieren eine Lohnuntergrenze, und diese Untergrenze ist der Grund für die hohe Arbeitslosigkeit im Bereich der einfachen Arbeit. Wenn man dagegen zu Lohnergänzungsleistungen übergehen würde, verschwände die Lohnuntergrenze, die Tariflöhne für Arbeit fielen, neue Jobs würden entstehen, und der Schwarzarbeit würde der Boden entzogen.
Einige werden sich also nach der Ost-Erweiterung mit niedrigeren Löhnen zufriedengeben müssen?
Sinn: Ja, einige schon. Indes würde ein Festhalten an der jetzigen Lohnstruktur bedeuten, daß noch mehr Menschen in die Arbeitslosigkeit und die Schwarzarbeit gedrängt werden.
Und wer sind die Verlierer?
Sinn: Die Deutschen in ihrer Summe werden gewinnen, weil die Zuwandernden in der Regel mehr Werte schöpfen, als sie an Lohn erhalten. Gleichzeitig wird es Verteilungseffekte geben. Diejenigen, die einfache Arbeit verrichten, werden zu den Verlierern gehören. Die Gewinner auf der anderen Seite werden Kapitaleigner, Unternehmer, Hauseigentümer und auch solche Arbeitnehmer sein, die dispositive Funktionen ausüben und deren Leistungen wegen der Zuwanderung in höherem Maße gefragt sein werden.
Die Regierung scheut davor zurück, den Arbeitskräften sofort Freizügigkeit zu gewähren. Bundeskanzler Gerhard Schröder plädiert für eine Übergangsfrist von sieben Jahren. Was ist davon zu halten?
Sinn: Übergangsfristen sind wohl ratsam. Die Frage ist nur, welche Probleme man mit ihnen lösen will. Geht es um die Gefahr einer Verdrängung von Arbeitskräften, dann ist die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte das bessere Mittel. Wenn wir uns dazu nicht durchringen können, dann kommt eine Kontingentierung der Zuwanderung in Betracht, bis sich die Einkommen in Osteuropa dem westeuropäischen Niveau angenähert haben. Die Wohlfahrtsgewinne der Erweiterung werden dann allerdings erst später einsetzen.
Hängt die Zuwanderung denn allein vom Lohn- oder Einkommensniveau ab?
Sinn: Für Personen mit niedrigem Einkommen gehen auch von unserem Sozialstaat Wanderungsanreize aus. Im Gegensatz zum Lohn sind diese Anreize aber künstlich. Sie führen zu einem Übermaß an Zuwanderung und zu einem unguten Abschreckungswettbewerb zwischen den Sozialstaaten. Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, sollten die zuwandernden Arbeitnehmer erst später in den Genuß von Sozialleistungen wie Wohngeld, Sozialwohnungen oder Kindergeld. kommen. Gegenüber einer Kontingentierung hat dies den Vorteil, daß niemand an der Pforte entscheidet, wer rein darf und wer nicht. Anstatt an der Wanderung gehindert zu werden, ist es aus Sicht der osteuropäischen Arbeitnehmer viel attraktiver zu sagen: Jeder EU-Bürger, der will, darf rein und hier arbeiten, aber er bekommt keine Geschenke.
Das Gespräch führte Claudia Bröll.
Hans-Werner Sinn ist Präsident des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung.
Wiederveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.