conturen: Herr Professor Sinn, schon im Vorwort zu Ihrem jüngsten Buch „Kasino-Kapitalismus“ treffen Sie eine klare Feststellung: „Die Finanzkrise ist keine Krise des Kapitalismus, sondern eine Krise des angelsächsischen Finanzsystems, das zum Kasino-Kapitalismus mutierte...“ Inzwischen hat diese Krise eine weltweite Wirtschaftskrise hervorgerufen. Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Lage?
Sinn: Die Krisensignale haben sich in den Vereinigten Staaten durch die etwas günstigeren Börsen in den letzten Monaten abgeschwächt. Ich traue dieser Entwicklung aber noch nicht. Denn die Banken in den Vereinigten Staaten haben bereits über die Hälfte ihres Eigenkapitals verloren und werden noch viel mehr verlieren, wenn man den Prognosen des Internationalen Währungsfonds glauben will. Danach ist erst ein Viertel bis maximal ein Drittel der Wegstrecke zurückgelegt. Es steht uns also noch einiges bevor.
Dass wir uns in der Phase einer Rezession befinden, dürfte unstrittig sein. Aber besteht auch die Gefahr einer Depression, wie manche Ökonomen meinen?
Sinn: Ich gehe davon aus, dass wir die Depression aufgrund der umfangreichen staatlichen Rettungsprogramme, die inzwischen aufgelegt wurden, vermeiden können. Es besteht allerdings die Gefahr, dass wir japanische Verhältnisse bekommen. Japan befindet sich seit 18 Jahren in einer chronisch deflationären Situation. Die Güterpreise sind über lange Zeiträume gefallen. Die Wirtschaft kommt einfach nicht vom Fleck, obwohl sich der japanische Staat durch Verschuldungsprogramme und keynesianische Ausgabenprogramme massiv engagiert. Die Staatsschulden sind von 60 auf 180 Prozent des Sozialproduktes hochgeschnellt, und alles hat wenig geholfen.
Ungeachtet der Schwere der gegenwärtigen Doppelkrise – nämlich als Finanz- und Wirtschaftskrise –, halten manche Ökonomen eine Gleichsetzung mit der großen Weltwirtschaftskrise von Ende der 1920er- bis Anfang der 1930er-Jahre für unangebracht. Teilen Sie diese Auffassung? Birgt die derzeitige Krise tatsächlich weniger Gefahrenpotenzial in sich?
Sinn: Weniger, weil der Staat agiert und aus der Krise gelernt hat. So wurde ja die drohende Kernschmelze des Finanzsystems im Oktober 2008 erfolgreich bekämpft. Ansonsten ist die Krise im Ansatz vergleichbar mit der von 1929. Sie hätte sich ähnlich auswachsen können. Damals stieg die Arbeitslosigkeit in Deutschland auf 30 Prozent und das Sozialprodukt fiel um 25 Prozent. Das sind Größenordnungen, die uns dank der Rettungspakete für die Banken, dank des Sozialstaates und der Stabilisierungswirkung der Politik erspart blieben. Insofern haben wir diesmal einen glimpflicheren Verlauf. Allerdings stellt die Gleichzeitigkeit von realer Krise und Finanzkrise wiederum eine neue Bedrohung und neue Dimension dar, wie wir sie in dieser Form nicht hatten. Denn damals lag der Beginn der Probleme eindeutig in der Realwirtschaft, und die Banken kamen erst danach. Heute ist es umgekehrt.
Auf die gegenwärtige Krise bezogen, befindet Ihr Wiener Kollege Erich Streissler: „Die Krise ist ganz normal. Ungewöhnlich ist nur, dass der Abstand zur letzten so groß ist... Diesmal hat es rund 75 Jahre gedauert...“ War die Krise also zu erwarten und möglicherweise durchaus vorhersehbar?
Sinn: Im Grundsatz vielleicht, aber ganz bestimmt nicht, was den Zeitpunkt betrifft. Nein, das hat Streissler auch nicht sagen wollen. Denn selbst wenn nach dem Gesetz der Serie durchaus schon früher eine Krise möglich gewesen wäre, den Krisenzeitpunkt kann niemand vorhersehen. Recht hat Streissler mit der Aussage, dass es in der Geschichte der Wirtschaft viele Krisen gab. 1928 bis 1932 ist ja nur eine. Man denke zurück an den Gründerkrach 1873, an die Ölkrise 1975, an die Welt-Schuldenkrise Anfang der 80er-Jahre, die Asienkrise der 90er-Jahre oder die südamerikanische Krise. Die gegenwärtige Krise ist aber viel größer als die meisten, weil sie die ganze Welt erfasst hat.
Bezogen auf den möglichen Ausbruch einer Finanzkrise, gab es immerhin frühzeitige Warnungen prominenter amerikanischer Ökonomen wie etwa Paul Krugman...
Sinn: Krugman hatte allgemeine Warnungen gegeben, das haben andere auch getan. Was die konkrete Warnung betrag, lag Nouriel Roubini wohl am besten. Er war derjenige, der die Mechanik dieser Krise richtig einschätzte. Er ist Professor an der Stern School of Business in New York, und weil er so erfolgreich war, ist er jetzt auch als Finanzberater tätig.
Aber warum wurden diese Warnungen nicht ernst genommen?
Sinn: Weil es immer Warnungen gibt. Die Politik reagiert erst dann, wenn es hinreichend viele sind. Auch die Medien wollen bestimmte Warnungen nicht. Ich gehöre zu denen, die gewarnt haben. 2003 hatte ich verschiedene wissenschaftliche Publikationen und öffentliche Auftritte, unter anderem einen Plenumsvortrag bei der Deutschen Ökonomischen Vereinigung, in dem ich energisch vor der zu schwachen Regulierung der Banken und dem übermäßigen Glücksrittertum im Bankenwesen gewarnt habe. Da waren sogar Pressevertreter anwesend. Aber es ist gab kein Sensorium dafür. Die Empfänger waren nicht auf meine Frequenz eingestellt. Und ähnlich erging das Nouriel Roubini.
Inzwischen hat die Glaubwürdigkeit von Prognosen beträchtlich gelitten. Selbst prominente Insider wie Josef Ackermann von der Deutschen Bank sahen das „Ende der Krise“ voraus, aber dann kam der Fall von Lehman Brothers und die Situation veränderte sich schlagartig ins Negative...
Sinn: Bei Bankern muss man immer ein gewisses Maß an Zweckoptimismus unterstellen.
Einige Finanz- und Wirtschaftsexperten gehen davon aus, dass das Schlimmste keineswegs überstanden und die Krise noch lange nicht vorbei ist. Als ein Grund unter mehreren wird angeführt, dass die Vereinigten Staaten nach wie vor auf Pump lebten. Der einzige Unterschied bestehe darin, dass private Schulden durch staatliche Schulden ersetzt worden seien. Welche Folgen würde beispielsweise ein Absturz der US-Währung für Europa und überhaupt für die Weltwirtschaft zeitigen?
Sinn: Die Amerikaner leben nach wie vor auf Pump. Das ist richtig. Der amerikanische Nettokapitalimport lag im letzen Jahr bei 790 Milliarden Dollar. Das ist nicht mehr aufrecht zu erhalten. Denn dahinter steht ein Verkauf von amerikanischen Wertpapieren in dieser Größenordnung. Die strukturierten Papiere, mit denen die Amerikaner sich das Geld besorgt haben, will keiner mehr haben. Die Folge wird sein, dass der Kapitalimport, der dem Leistungsbilanzdefizit gleicht, sich erheblich verringern muss. Das kann nur über zwei Wege geschehen: Entweder über eine lang anhaltende wirtschaftliche Flaute, sodass man weniger importiert, oder über eine Abwertung des Dollars, was die Wettbewerbsfähigkeit der Vereinigten Staaten erhöht. Das ist der Fall, den Sie genannt haben. Beides ist für Exportländer wie Deutschland nicht gut. Denn es bedeutet, dass wir den amerikanischen Markt abschreiben können.
Es gilt noch einen anderen Faktor zu berücksichtigen, nämlich den der Auswirkungen der Krise, vor allem wenn sie längerfristig währt, auf die Randgruppen in der Weltgesellschaft, auf die Schwellenländer und die am wenigsten entwickelten armen Länder. Wie schätzen Sie die Gefahr eines hier möglicherweise entstehenden sozialen Konfliktpotenzials ein?
Sinn: Das sehe ich weniger gravierend, weil diese Länder nicht so stark in die weltweite Arbeitsteilung eingebunden sind wie die Industrieländer. Die Schwellenländer, in denen der Anteil der Landwirtschaft und der Selbstversorgung noch größer ist, verfügen über mehr Stabilität. Obwohl ich zugebe, dass sie selbst kleinere Einbrüche nicht verkraften können, da sie bereits am unteren Rande des Existenzminimums stehen.
Das eigentliche Problem war für diese Länder der letzte Boom, weil damit die Ölpreise hochschossen und die Maisbauern erhebliche Teile ihrer Ernte an die Raffinerien statt an die Lebensmittelbranche verkauften. In den Vereinigten Staaten gingen 30 Prozent der Maisernte in die Methanolproduktion. In anderen Teilen der Welt wurde auf Biodiesel gesetzt. Die Flächen, die für die Produktion von Ölersatz verwendet wurden, gingen der Nahrungsmittelproduktion verloren, und die Folge war, dass es zu einem rapiden Anstieg der Nahrungsmittelpreise kam, beim Mais, dann beim Weizen und dann auch beim Reis. Im Winter 2007 rief der Anstieg der Maispreise in Mexiko die Tortilla-Krise hervor. Es gab lautstarke Proteste, weil die Maispreise so stark gestiegen waren, und im Laufe des Jahres kam es in 37 weiteren Schwellenländern zu Hungerprotesten wegen der ansteigenden Preise. Diese Verarmung war die Konsequenz des Wirtschaftsbooms und der ansteigenden Ölpreise. Das wurde mittlerweile durch Studien des International Food Policy Research Institutes in den Vereinigten Staaten und auch der Weltbank nachgewiesen, wobei man über den Anteil, den die Krise hatte, uneins ist. Aber es scheint, mindestens ein Drittel Erklärung für den Preisanstieg zu sein, nach der ursprünglichen Weltbankprognose sogar 60 Prozent.
Welche schwerwiegenden Fehler beging die Politik aus Ihrer Sicht bei ihren Bemühungen, die Krise wenn nicht zu lösen, so doch wenigstens mit Aussicht auf einigen Erfolg einzudämmen?
Sinn: Sie nimmt das Thema Banken zu leicht. Die Konjunkturprogramme unterstützen die Realwirtschaft. Aber der Bankenrettungsplan wird nicht wirklich angenommen. Die 80 Milliarden, die als Eigenkapital zur Verfügung stehen, werden von den Banken nicht abgerufen. Die Banken haben bereits sehr viel Eigenkapital verloren und werden noch viel mehr verlieren. Sie müssen als Reaktion darauf ihr Geschäftsvolumen reduzieren, weil sie sonst mit den aufsichtsrechtlichen Quoten in Konflikt geraten. Das wird wiederum eine Kreditklemme für die reale Wirtschaft bedeuten. Und diese Kreditklemme ist die wirkliche Gefahr, die für das nächste Jahr droht und durch beherzte Aktionen jetzt vermieden werden könnte. Ich sehe jedoch diese beherzten Aktionen nicht.
Von vielen wird kritisiert, dass die Hilfen des Staates Probleme für die Zukunft darstellen.
Sinn: Die Hilfen des Staates gehen mit einer Verschuldung einher. Sie sind Belastungen der zukünftigen Generationen, die zu den Belastungen des Sozialsystems an sich noch hinzukommen. Wir haben ein umlagefinanziertes, nichtkapitalgedecktes Rentensystem. Das wird in 15 bis 20 Jahren in enorme Schwierigkeiten geraten, wenn die Angehörigen der Generation der Babyboomer, die 1964 geboren sind, sukzessive in die Rente kommen. Diese Menschen zu ernähren, wird dem Staat schwer fallen, zumal er auch noch die aus der Krise entstandenen Staatsschulden finanzieren muss. Man kann jetzt schon die arbeitende Generation bedauern, die über entsprechend hohe Steuern die Schuldenlasten tragen muss. Da wird es einen Belastungstest für die Stabilität des deutschen Staates geben.
Das Abschlusskapitel Ihres Buches trägt den Titel „Wege zu einem besseren Bankensystem“. Wo liegen die derzeit größten Gefahren auf finanz- und bankpolitischem Gebiet?
Sinn: Das Hauptproblem sind die Eigenkapitalverluste, die die Banken veranlassen, die Geschäftsvolumen herunterzuskalieren, zu Lasten der Investoren und der Gesamtwirtschaft. Wenn die Investoren aus anderen Gründen im Moment wenig investieren wollen, merkt man das Problem vielleicht noch nicht ganz so stark. Aber der wirkliche Aufschwung wird abgeblockt, weil man an die Kreditgrenzen stößt. Ein anderes Problem, das grundsätzlich zu lösen ist, betrifft die Regulierung der Banken der Zukunft, die so erfolgen muss, dass sich eine solche Krise nicht wiederholt. Da muss man ganz entschieden auf höhere Eigenkapitalquoten setzen, damit erstens im Krisenfall ein Puffer vorhanden ist und die Bank bei einer Brise nicht gleich umgeweht wird und zweitens die Banken im Vorfeld einen Anreiz haben, Risiken zu meiden. Denn je mehr Eigenkapital die Aktionäre eingesetzt haben, desto größer ist der Anteil der Verluste, den sie selbst zahlen müssen, statt sie dem Steuerzahler zu überlassen.
Ferner ist eine glaubhafte Strategie darüber erforderlich, welche Maßnahmen der Staat unternimmt, wenn Banken in Zukunft in Schwierigkeiten kommen. Hier kann meines Erachtens nicht die Erwartung geweckt werden, dass der Staat mit Steuergeldern als Geschenken an die Banken hilft. Vielmehr muss der Staat klarmachen – auch durch seine beispielhaften Aktionen heute –, dass er nichts zu verschenken hat, sondern dass das Eigenkapital der Bankaktionäre herangenommen wird, um Verluste zu decken. Und wenn Eigenkapital gebraucht wird, um das Geschäft weiterzuführen, müssen die Banken eben akzeptieren, dass der Staat als Teilhaber hineinkommt.
Nun schreiben Sie zwar: „Es kann nicht sein, dass auf den Finanzmärkten weiterhin Wilder Westen gespielt wird.“ Aber das Misstrauen in der Öffentlichkeit gegenüber Bankern und Managern ist mittlerweile und aus guten Gründen so groß, dass man den Teilnehmern an den Finanzmärkten nicht zutraut, in der Zukunft von diesem Wild-West-Spiel abzulassen...
Sinn: Die Manager sind nur die Marionetten auf der sichtbaren Bühne des Finanzmarktes. Sie stehen im Rampenlicht. Sie werden von der Presse beleuchtet, und ihr Tun wird beobachtet. Aber das ist viel zu vordergründig. Denn die Strippenzieher sind über der Bühne, und die sind im Dunkeln, man sieht sie nicht. Konkret geht es um die Großaktionäre, die von ihren Managern riskante Geschäftsmodelle verlangt haben und dies auch weiterhin tun werden, wenn wir sie nicht mit höheren Eigenkapitalquoten zur Besinnung bringen. Das Problem sind die falschen Entlohnungssysteme der Aktionäre, die eben, wenn sie mit minimalem Eigenkapital arbeiten, nur Boni und keine Mali haben. Sobald wir mehr Eigenkapital einfordern, sind die Mali größer, und dann werden auch die Aktionäre von ihren Managern andere Verhaltensweisen verlangen und durch neue Entlohnungssysteme vorsichtigere Verhaltensweisen unterstützen. Politiker, die meinen, sie müssten in die Entlohnungssysteme der Manager eingreifen, haben den Kern des Problems nicht verstanden.
Unter dem Aspekt, dass sich eine Krise vom Ausmaß der gegenwärtigen nicht geradlinig, sondern schubweise vollzieht, reichen die Mutmaßungen über ihre mögliche Dauer von fünf bis zu fünfzehn, in einigen Fällen sogar bis zu zwanzig Jahren. Auf welche Zeitspanne sollten wir uns – auch dies natürlich nur mutmaßlich – realistischer Weise einstellen?
Sinn: Das ist schwierig zu beantworten. Da will ich mich nicht festlegen. Wir machen solche langfristigen Prognosen nicht. Ich kann nur davor warnen, diese Krise zu leicht zu nehmen und zu glauben, wir hätten im Winter wieder einen Aufschwung. Davon kann keine Rede sein. Deutschland steht die Krise noch bevor. Wir befinden uns an deren Beginn.